Titel:
Grundsätzliche Bindung an Feststellung der Minderjährigkeit durch Aufgriffsbehörde
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, S. 3
SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 42a Abs. 1, § 42f
SGB X § 45
Leitsatz:
Ist bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit einer unbegleitet nach Deutschland eingereisten Person gemäß § 42f SGB VIII festgestellt worden, darf im Rahmen von deren sich anschließender Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII eine erneute Feststellung zur Minderjährigkeit analog § 42f SGB VIII nur dann vorgenommen werden, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht. (Rn. 52)
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Inobhutnahme einer ausländischen unbegleiteten Person, die angibt, minderjährig zu sein, Altersfeststellung, Anhörung, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme, Antrag auf Aufhebung der Vollziehung, Prozessfähigkeit, Zulässigkeit der Altersfeststellung analog § 42f SGB VIII im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, Inobhutnahme, ausländisch, unbegleitet, Minderjährigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37244
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 29. August 2023 im Verfahren W 3 K 23.1229 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. August 2023 wird angeordnet.
II. Die Aufhebung der Vollziehung wird angeordnet. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Meldung der Volljährigkeit an den Beauftragten des Freistaates Bayern für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge und unerlaubt eingereister Ausländer in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Z. … (LABEA) und die tatsächliche Beendigung der Inobhutnahme unverzüglich rückgängig zu machen.
III. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller ist nach seinen eigenen Angaben ein am … … 2007 geborener minderjähriger afghanischer Staatsangehöriger. Die Parteien streiten um die Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Antragsgegner.
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1. Gemäß einer Auskunft aus dem Ausländerzentralregister meldete sich der Antragsteller am 11. Mai 2023 bei der Erstaufnahmeeinrichtung B. … unter dem Namen M. … R. … Als Geburtsdatum wurde der … … 2004 eingetragen. Der Antragsteller äußerte ein Asylgesuch.
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Am 6. Mai 2023 erstellte die Erstaufnahmeeinrichtung M. … einen bis zum 5. Dezember 2023 befristeten Ankunftsnachweis mit dem Geburtsdatum … … 2004.
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Gemäß dem Ausländerzentralregister erfolgte eine weitere Meldung am 12. Mai 2023 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) N. … unter demselben Namen und mit Geburtsdatum … … 2007. Eine weitere Meldung erfolgte gemäß dem Register am 11. Juli 2023 unter dem Namen M. … G. … S. … mit dem Geburtsdatum … … 2007 durch das Bundesamt Außenstelle B. … Gemäß dem Register erfolgte eine weitere Meldung am 13. Juli 2023 durch die Zentrale Ausländerbehörde O. …, I. …
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2. Am 13. Juni 2023 nahmen zwei Fachkräfte des Landkreises P. … a. d.. I.. auf der Grundlage der Angabe des Antragstellers, er sei am … … 2007 geboren, eine Altersfeststellung vor. In diesem Zusammenhang legte der Antragsteller eine in arabischer sowie in lateinischer Schrift gehaltene Bestätigung des Consulate General of Islamic Republic of Aghanistan vom 12. Juni 2023 vor. Ausweislich dieser „Bestätigung der Afghanischen Identität“ trägt der Antragsteller den Namen M. … R. … und ist er am … … 2007 in Herat geboren. Das Dokument enthält weitere Angaben zu persönlichen Merkmalen, zum Wohnsitz in Afghanistan sowie die Angabe, der Antragsteller habe seine Tazkira verloren. Das Dokument ist vom Antragsteller selbst unterschrieben und enthält die Bemerkung: „Hiermit bestätige ich, dass die genannten Angaben richtig sind und ich selbst dafür verantwortlich bin“. Zudem ist das Dokument mit einem Stempel des Minstry of Foreign Affairs der Islamic Republic of Afghanistan und einer hiermit im Zusammenhang stehenden Unterschrift versehen.
6
Die Fachkräfte des Landkreises P. … a. d.. I.. werteten dieses Dokument als akzeptierten Geburtsnachweis, womit eine Inaugenscheinnahme „eigentlich hinfällig“ werde. Der Aktenvermerk über die Altersfeststellung enthält weiter die Angabe, der Antragsteller habe berichtet, dass er noch fünf Brüder und eine Schwester habe. Zudem enthält das Dokument die Bemerkung: „Vom Aussehen und allgemeinen Eindruck können die Geburtsangaben bestätigt werden. M. … verhält sich altersangemessen eher schüchtern und zurückhaltend. Es liegt Minderjährigkeit vor.“ Das Dokument ist lediglich von einer der beiden beteiligten Fachkräfte unterschrieben. Zudem ist in den Verwaltungsakten eine Dokumentation zur Befragung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Rahmen des Inaugenscheinnahmegesprächs enthalten, die nicht unterschrieben ist und einige wenige Angaben zu den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers enthält. Zudem findet sich in den Verwaltungsakten ein Dokument „Prüfung der Voraussetzungen für eine Inobhutnahme“, das weder einen Namen noch Angaben zu den äußeren Merkmalen der befragten Person noch Angaben zu Hinweisen, Widersprüchen, Umständen, die bei der Befragung offenbar wurden, enthält und bei dem als Bewertung/Entscheidung angekreuzt ist: „Nach dem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten und den Angaben der Person ist davon auszugehen, dass Minderjährigkeit vorliegt.“
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Am 15. Juni 2023 nahm der Landkreis P. … a. d.. I.. den Antragsteller gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut und brachte ihn in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Ausländer in N. … a. d.. D. … unter.
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Unter dem 26. Juni 2023 wies die Landesstelle des Freistaates ... für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen den Antragsteller nach § 42b Abs. 3 SGB VIII dem Antragsgegner zu.
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Mit Bescheid vom 3. Juli 2023 nahm der Antragsgegner den Antragsteller gemäß § 42 SGB VIII ab dem 25. Juli 2023 in Obhut in Form der Unterbringung in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Ausländer in M. … In diesem Zusammenhang organisierte der Antragsgegner auch die Bahnreise des Antragstellers von N. … a. d.. D. … nach M. … Ab dem 25. Juli 2023 hielt sich der Antragsteller in der Wohngruppe in M. … auf.
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Am 31. Juli 2023 fand ein Gespräch zwischen dem Antragsteller und zwei Mitarbeitenden des Antragsgegners statt. Aus dem diesbezüglichen Dokument ergibt sich die Angabe des Antragstellers, er habe seine Tazkira auf dem Weg nach Deutschland verloren und das Dokument des afghanischen Konsulats selbst beantragt. Weiterhin gab der Antragsteller in diesem Zusammenhang an, er habe seine Heimat im September 2021 verlassen und er sei im Juni 2023 nach Deutschland eingereist. Sein Vater sei etwa 45/46 Jahre alt, seine Mutter etwa 40 Jahre. Er habe fünf Geschwister, die gemeinsam mit den Eltern im Iran lebten. An der Grenze habe er sich von seiner Familie getrennt und sei seinen Weg gegangen. In Afghanistan sei er sieben bis acht Jahre lang zur Schule gegangen. Er habe nichts gearbeitet, jedoch Englisch gelernt. Sein Vater sei ein paar Mal von irgendwelchen Leuten bedroht und geschlagen worden. Die Eltern hätten entschieden, Afghanistan zu verlassen. Er habe sich im Iran etwa ein Jahr lang, in der Türkei vier bis fünf Monate lang aufgehalten und sei sodann über Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich und die Schweiz mit Hilfe von Schleppern mit dem Zug nach Deutschland gereist. Das Dokument enthält die Einschätzung, der Antragsteller sei höflich und verhalte sich im Gespräch angemessen. Er wirke älter als angegeben, habe jedoch keine Erklärung für das ältere Geburtsdatum. Das Dokument enthält weiter die Angabe, der Antragsteller sei am 25. Juli 2023 mit dem Zug von I. … nach M. … gereist und habe dabei in Aschaffenburg umsteigen müssen. Er sei nicht wie geplant am Bahnhof in M. … angekommen und sei später direkt auf die Gruppe gekommen. Der Antragsteller habe sich nicht erklären können, wie das Geburtsdatum … … 2004 zustande gekommen sei, er habe immer den … … 2007 angegeben. Aufgrund des „falschen“ Geburtsdatums sei er zur afghanischen Botschaft nach M. … gefahren, um sich dort einen Nachweis über seine Daten ausstellen zu lassen. Eine Nachfrage des Antragsgegners bei der zuständigen Sachbearbeiterin des Jugendamts P. … a. d.. I.. habe ergeben, der Antragsteller sei vor der Aufnahme im Ankerzentrum I. … schon in anderen Städten gewesen und dort als volljährig geführt worden. Aufgrund der Bestätigung der afghanischen Identität sei er vom Jugendamt P. … als minderjährig geführt worden.
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Die sozialpädagogische Einschätzung der Sozialpädagogin G. des Antragsgegners benennt als äußere Merkmale, die auf Volljährigkeit hinweisen, die Stimmlage, den Bartwuchs und die Gesichtszüge. Als Hinweise/Widersprüche, die auf Volljährigkeit hinweisen, ist die eigene Altersangabe, das Verhalten im Gespräch sowie die fehlende Erklärung für abweichende Geburtsdaten benannt. Zudem ist in diesem Dokument festgehalten: „Insgesamt wirkte Herr R. … im Gespräch erwachsen, es waren keine jugendlichen Züge erkennbar. Die für ihn geplante Unterstützung (Begleitung beim Umstieg durch die DB-Mitarbeitenden am BHF A. ….) konnte nicht stattfinden, da M. nicht am Gleis erschien. Nach eigener Angabe habe es Verspätung gegeben. M. sei dann – ohne vorliegende Adresse der Wohngruppe – eigenständig dort angekommen, nachdem er sich in M. … durchgefragt habe und er an die UMA-Gruppe verwiesen wurde. Dies zeigt ein hohes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Das vorliegende Geburtsdatum …2004 lässt erhebliche Zweifel an einer Minderjährigkeit aufkommen, die von Herrn R. … nicht ausgeräumt werden konnten. Das Geb.-datum …2004 erscheint wahrscheinlicher, da Herr R. … deutlich älter als 16 Jahre wirkte. In der Gesamtschau wird er deshalb [weiterer Text nicht lesbar].“
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Die sozialpädagogische Einschätzung des Mitarbeitenden des Antragsgegners Bildungswissenschaftler A. benennt als äußere Merkmale, die auf Volljährigkeit hinweisen, die Stimmlage, den Bartwuchs und die Gesichtszüge. Als Hinweise/Widersprüche, die auf Volljährigkeit hinweisen, ist die eigene Altersangabe, das Verhalten im Gespräch und Widersprüche in vergangenen Alterseinschätzungen genannt. Weiterhin enthält das Dokument folgenden Text: „Herr R. … wirkte in dem Gespräch sehr klar und selbstbewusst. M. … Eltern wohnen mit seinen Geschwistern im Iran. Er erzählte, dass sie an der Grenze getrennt worden seien und er sich entschieden habe, alleine mit seinem Cousin weiter zu reisen. Im Ankerzentrum in I. … wurde M. … Geburtsdatum auf den „…2004“ festgelegt. Die Begründung hierfür führte zu einiger Verwirrung. M. … konnte nicht erklären wie es zu diesem Datum kam. In der Gesamtschau kann Herr R. … als volljährig eingeschätzt werden. Eine schüchterne und zurückhaltende Art konnte nicht beobachtet werden. Als weiteren Anhaltspunkt können die widersprüchlichen Aussagen zu dem Geburtsdatum des Ankerzentrums betrachtet werden.“
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Mit Bescheid vom 1. August 2023 nahm der Landkreis P. … a. d. I. den Antragsteller gemäß § 42a SGB VIII vorläufig vom 15. Juni 2023 bis zum 25. Juli 2023 in Obhut.
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Mit Bescheid vom 3. August 2023 stellte der Antragsgegner die seit dem 25. Juli 2023 bewilligte Jugendhilfe in Form der Inobhutnahme nach Maßgabe des § 42 SGB VIII mit Ablauf des 3. August 2023 ein. Dies wurde damit begründet, eine Abfrage beim Bundesverwaltungsamt habe ergeben, dass der Antragsteller bereits in mehreren Städten registriert worden sei, u.a. in … und in B. …, und dort angegeben habe, am … … 2004 geboren zu sein. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme habe bereits beim ersten Aufeinandertreffen ergeben, dass keine Zweifel an der Volljährigkeit bestünden. Das erwachsene Auftreten, die mit dem Antragsteller geführte Befragung innerhalb des Erstgesprächs und das äußere Erscheinungsbild hätten zu dieser Einschätzung beigetragen. Innerhalb der geführten Befragung seien vom Antragsteller nicht stimmige und nicht nachvollziehbare Angaben zu seiner Kindheit, dem Alter der Eltern und der Fluchtroute gemacht worden.
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Am 3. August 2023 teilte der Antragsgegner dem Beauftragten des Freistaats Bayern für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge und unerlaubt eingereister Ausländer in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Z. … (LABEA) mit, der Antragsteller sei am 31. Dezember 2004 geboren. Im Rahmen eines Erstgesprächs am 31. Juli 2023 habe eine qualifizierte Inaugenscheinnahme stattgefunden. Aufgrund dieser Erkenntnisse seien sich die Fachkräfte darüber einig, dass Herr R. … am 31. Juli 2023 bereits mindestens 18 Jahre alt gewesen sei. Das zuvor angegebene Geburtsdatum „…2004“ werde als wahrscheinlicher angesehen. Insgesamt seien die Fachkräfte zu der Einschätzung gekommen, dass bei Herrn R. … Volljährigkeit vorliege. Die im AZR hinterlegten Angaben stünden untereinander nicht in Einklang. Es ergäben sich erhebliche Zweifel an den Angaben, welche der Antragsteller nicht habe ausräumen können.
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Der Antragsteller wurde im ANKER-Zentrum U. … untergebracht.
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3. Am 29. August 2023 erhob der Antragsteller im Verfahren W 3 K 23.1229 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg gegen den Bescheid vom 3. August 2023 und beantragte zugleich im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
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Zur Begründung trug der Antragsteller vor, er sei am … … 2007 geboren. Dies habe er auf entsprechende Nachfrage bei seiner ersten Registrierung in Deutschland in B. … angegeben. Da der Antragsteller aufgrund des Verlusts seiner Tazkira kein Ausweispapier habe vorlegen können, sei als Geburtsdatum der … … 2004 eingetragen worden. Dieses Datum habe er jedoch nie genannt. Am selben Tag seien in B. … viele andere junge Afghanen mit Geburtsdatum … … 2004 registriert worden. Im Rahmen einer Befragung in B. … habe er angegeben, er habe ab dem Alter von sechs Jahren die Schule besucht, vermutlich sieben oder acht Jahre lang. Die 7. Klasse habe er abgeschlossen, die 8. Klasse unregelmäßig besucht. Der Schulbesuch habe aufgrund der Machtübernahme der Taliban in der Stadt Herat im Chaos geendet. Zwei Monate später habe er mit seiner Familie zusammen das Land in den Iran mit Ziel Türkei verlassen, an der Grenze seien sie jedoch getrennt worden. Das genaue Alter seiner Eltern kenne er nicht, da dies in Afghanistan nicht wichtig gewesen sei. Sicherlich habe er, der Antragsteller, ein anderes Verhalten als ein deutscher Teenager, da er Krieg, Tod, Verletzungen, die Trennung von der Familie, Hunger, Kälte und Furcht erlebt habe. Er habe keine Möglichkeit, eine beglaubigte Kopie seiner Tazkira aus Afghanistan beschaffen zu lassen.
19
Der Antragsgegner beantragte,
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Zur Begründung wurde vorgetragen, das Jugendamt habe zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Inobhutnahme gegeben seien. Die Erkenntnisse des Jugendamts P. … a. d.. I.. im Rahmen des § 42a SGB VIII seien berücksichtigt worden; allerdings hätten sich im Rahmen der Inaugenscheinnahme durch zwei qualifizierte Mitarbeiterinnen des Antragsgegners erhebliche Zweifel an den gemachten Angaben zur Familie, Flucht und Alter des Antragstellers ergeben. Er habe keine plausiblen Erklärungen dafür abgeben können, warum sein Alter bei der Einreise nach Deutschland mit 31. Dezember 2004 angegeben worden und im Ankunftsnachweis festgehalten worden sei. Die übereinstimmenden und dokumentierten Einschätzungen der beiden Fachkräfte hätten ergeben, dass es sich zweifelsohne um einen mindestens volljährigen jungen Mann handele. Die über die afghanische Botschaft beschaffte Tazkira könne nicht als identitätsstiftendes Dokument gelten, da es sich weder um einen Ausweis, einen Reisepass oder um eine ID-Karte handele; seit 2021 sei die Ausstellung von Ausweisen oder Geburtsnachweisen durch die afghanische Botschaft nicht mehr möglich. Es hätten zu keinem Zeitpunkt Zweifel an der Volljährigkeit bestanden. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme könne als ausreichend angesehen werden, wenn ohne weiteres erkennbar sei, dass es sich nicht um einen Grenzbereich zwischen Minderjährigkeit und Volljährigkeit handele. Wohl bewusst habe der Antragsteller widersprüchliche Angaben gemacht, wie es sich aus der Abfrage aus dem Ausländerzentralregister ergebe. Er habe sich mit Alias-Namen und unterschiedlichen Altersangaben in Deutschland erfassen lassen. Der Antragsteller habe sich nach seiner Ankunft in Deutschland orientiert, zielgerichtet, planvoll und auch in Kenntnis der Jugendhilfeverfahren verhalten. Diese Eigenschaften zeichneten Erwachsene aus. In der Gemeinschaftsunterkunft werde er ausreichend betreut und versorgt. Demgegenüber bestünden Bedenken gegen einen Aufenthalt in einer Jugendhilfeeinrichtung, wo andere Gruppenregeln gälten und pädagogische Arbeit mit Minderjährigen geleistet werde.
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Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Antragsgegners und auf den Inhalt der Gerichtsakte W 3 K 23.1229, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
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Der Antragsteller macht zwei unterschiedliche Begehren zum Gegenstand des Verfahrens, wie sich gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO in entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs geltenden Rechtsgrundsätze (§ 133, § 157 BGB) ergibt.
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Zum einen begehrt der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. August 2023. Dies ergibt sich aus dem im Rahmen des Klageverfahrens W 3 K 23.1229 gestellten Anfechtungsantrag auf Aufhebung des Bescheides vom 3. August 2023 in Verbindung mit dem im vorliegenden Verfahren formulierten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Dem prozessual unerfahrenen Antragsteller kann es nicht angelastet werden, anstelle der aufgrund von § 42f Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch i.d.F. der Bek. vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2824, ber. BGBl. I 2023, Nr. 19) – SGB VIII – hier richtigen Antragsformulierung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage die Formulierung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage benutzt zu haben. Deutlich wird jedenfalls, dass er die negativen Auswirkungen des Bescheides vom 3. August 2023 im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes schon vor einer Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache beseitigt haben möchte. Hierfür ist gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 42f Abs. 3 SGB VIII, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der richtige Antrag.
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Zum anderen begehrt der Antragsteller die Aufhebung der Vollziehung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist. Der prozessual unerfahrene Antragsteller hat beantragt, den Beklagten zu verpflichten, dem Antrag auf vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII stattzugeben. Dies ist der Sache nach so zu verstehen, dass er vorläufig wieder gemäß § 42 SGB VIII in Obhut genommen werden möchte, dass also die mit Bescheid vom 3. August 2023 beendete Inobhutnahme fortgesetzt werden soll. Damit begehrt er die Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen. Hierbei handelt es sich zum einen um die Änderungsmitteilung des Antragsgegners an den Beauftragten des Freistaates Bayern für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge und unerlaubt eingereister Ausländer in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Z. … (LABEA) – Landesstelle – vom 3. August 2023 und damit die Anmeldung zur Umverteilung als Volljähriger. Hierin wird mitgeteilt, der Antragsteller sei am 31. Juli 2023 bereits mindestens 18 Jahre alt gewesen. Die Fachkräfte seien zu dieser Entscheidung gekommen. Die Jugendhilfemaßnahme sei beendet worden. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, er müsse sich der zuständigen ANKER-Einrichtung G. … vorstellen. Zum anderen handelt es sich bei der Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen um die tatsächliche Beendigung seiner Inobhutnahme mit Unterbringung in einer Wohngruppe in M. …, welche von der rechtsgestaltenden Beendigung (Aufhebung und Einstellung) der Inobhutnahme durch den im Hauptsacheverfahren streitgegenständlichen Bescheid des Antragsgegners vom 3. August 2023 zu unterscheiden ist.
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Beide Anträge haben Erfolg.
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1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 29. August 2023 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. August 2023 hat Erfolg.
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a) Der Antrag ist zulässig. Er ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 3. August 2023, mit welchem die mit Bescheid vom 3. Juli 2023 seit dem 25. Juli 2023 bewilligte Jugendhilfe in Form der Inobhutnahme nach Maßgabe des § 42 SGB VIII mit Ablauf des 3. August 2023 eingestellt wird, statthaft. Denn statthafter Rechtsbehelf in der Hauptsache ist eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen den Bescheid vom 3. August 2023. Dieser hat nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII keine aufschiebende Wirkung.
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Weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrages ist die Zulässigkeit des Hauptsacheverfahrens (W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 80 Rn. 134 m.w.N.). Dafür, dass die Klage gegen den Bescheid vom 3. August 2023 offensichtlich unzulässig sein könne, ist nach Aktenlage nichts ersichtlich. Insbesondere ist die Klage innerhalb eines Monats nach Erlass des Bescheides vom 3. August 2023 am 29. August 2023 und damit nach § 74 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2, § 58 Abs. 1 VwGO fristgemäß erhoben worden.
29
Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben minderjährig ist. Denn er ist unabhängig von der Frage seiner Volljährigkeit für das vorliegende Verfahren als prozessfähig anzusehen. Ist er volljährig, folgt seine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. §§ 2, 104 ff. BGB. Bei unterstellter Minderjährigkeit folgt seine Prozessfähigkeit für den Gegenstand des Verfahrens aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen kann, der das 15. Lebensjahr vollendet hat (vgl. OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15, 2 PA 223/15 – juris Rn. 12). Das 15. Lebensjahr hat der Antragsteller aber selbst unter Zugrundelegung seiner eigenen Altersangabe bereits vollendet.
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Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sozialleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I ist. (BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24/12 – NVwZ-RR 2013, 967 Rn. 16). Die Inobhutnahme verleiht dem Kind oder Jugendlichen einen Anspruch darauf, in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, verpflegt und betreut zu werden. Insoweit ist von einer Sozialleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I auszugehen. Zwar hat eine Inobhutnahme auch belastende Wirkungen. In der streitgegenständlichen Konstellation geht es jedoch um mit der Inobhutnahme verbundene Begünstigungen für den Antragsteller, die dieser mit seinem Antrag erhalten bzw. vorläufig bewahren möchte (BT-Drs. 18/6392, S. 21, zu § 42f Abs. 3). Mithin steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Dem Schutzinteresse des Minderjährigen wird hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass die aus § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I folgende partielle Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt, sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt. Zudem kann die Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I gem. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB I vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden (zum Ganzen OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – BeckRS 2015, 55026 Rn. 11 m.w.N.).
31
b) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist begründet.
32
Nach der im Verfahren auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Entscheidung.
33
In einem derartigen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO trifft das Gericht eine eigene Abwägungsentscheidung. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsaktes oder von dessen offensichtlicher Rechtswidrigkeit und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit sich diese bereits übersehen lassen. Sind sie im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 85 bis Rn. 94 m.w.N.).
34
Im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung des Gerichts ist im vorliegenden Fall zunächst zu berücksichtigen, dass manches für einen Erfolg der Klage gegen den Bescheid vom 3. August 2023 und aus derzeitiger Sicht nichts konkret dagegen spricht, jedoch aufgrund noch weiterer durchzuführender Aufklärungsmaßnahmen die Erfolgsaussichten insgesamt als offen bezeichnet werden müssen.
35
Dies ergibt sich aus Folgendem:
36
aa) Unklar ist, ob der Bescheid vom 3. August 2023 in formeller Hinsicht rechtmäßig ist. Es ist für das Gericht nach derzeitiger Aktenlage zumindest nicht erkennbar, ob und inwieweit der Antragsteller vor Erlass des Bescheides vom 3. August 2023 gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört worden ist. Aus den dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten des Antragsgegners ergibt sich, dass zwei Mitarbeitende des Antragsgegners ihn gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII qualifiziert in Augenschein genommen haben. Allerdings ist nicht erkennbar, ob und inwieweit der Antragsteller in diesem Rahmen oder später Gelegenheit hatte, sich zu einer Beendigung der Inobhutnahme zu äußern. Im Rahmen der summarischen Prüfung spricht dies für die formelle Rechtswidrigkeit des Bescheides. Die weitere Aufklärung des Verfahrensablaufes und des Gesprächsinhaltes am 31. Juli 2023 ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
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bb) Offen ist weiterhin, ob der Bescheid vom 3. August 2023 in materieller Hinsicht rechtmäßig ist.
38
Mit dem Bescheid vom 3. August 2023 hat der Antragsgegner die Inobhutnahme des Antragstellers, die er zuvor mit Bescheid vom 3. Juli 2023 vorgenommen hatte, beendet. Nach § 42 Abs. 4 SGB VIII endet die Inobhutnahme entweder mit der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder mit der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch. Keine dieser die Inobhutnahme beendenden Tatbestände ist im vorliegenden Fall gegeben. Allerdings gibt es neben diesen Sachverhalten noch weitere Fälle, in denen die Inobhutnahme endet, nämlich insbesondere dann, wenn der der Inobhutnahme zugrundeliegende Bescheid gemäß § 44 ff. SGB X vom Jugendamt aufgehoben wird (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB VIII, Stand: 22.6.2023, § 42 Rn. 273). Dies beruht auf der Tatsache, dass es sich bei der Inobhutnahme um einen Dauerverwaltungsakt handelt, der – jenseits der oben genannten spezialgesetzlich in § 42 Abs. 4 SGB VIII geregelten Fälle – nur nach § 45 SGB X oder nach § 48 SGB X beendet werden kann (Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 106). Im vorliegenden Fall beruft sich der Antragsgegner im Bescheid vom 3. August 2023 auf die Volljährigkeit des Antragstellers und bringt damit zum Ausdruck, die Inobhutnahme mit Bescheid vom 3. Juli 2023 sei rechtswidrig erfolgt. Denn eine volljährige Person kann nicht nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen werden. Damit richtet sich der Bescheid vom 3. August 2023 der Sache nach nach § 45 Abs. 1 SGB X. Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, rechtswidrig ist, darf er nach dieser Vorschrift, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Bei dem Bescheid vom 3. Juli 2023 handelt es sich um einen solchen begünstigenden Verwaltungsakt in diesem Sinne (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42f Rn. 8). Denn in der Situation des Antragstellers geht es bei der Inobhutnahme letztlich nicht um dessen Herausnahme aus seiner Herkunftsfamilie, eine Trennung von seinen Eltern und einen dementsprechenden belastenden Eingriff in deren Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern um den Erhalt der mit der Inobhutnahme verbundenen Vergünstigungen wie die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie, so dass der Leistungsgedanke im Vordergrund steht (Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 128).
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Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts setzt nach § 45 Abs. 1 SGB X voraus, dass dieser Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Dies träfe auf den Bescheid vom 3. Juli 2023 dann zu, wenn der Antragsteller bereits volljährig wäre, weil nach § 42 Abs. 1 SGB VIII nur Kinder (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII) und Jugendliche (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII) in Obhut genommen werden können. Kind oder Jugendlicher ist aber nur, wer noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VIII).
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Ob der Antragsteller noch nicht 18 Jahre alt ist und damit der Bescheid vom 3. Juli 2023 rechtmäßig oder rechtswidrig ist, ist unklar.
41
Wie das Alter einer neu eingereisten unbegleiteten ausländischen Person, die angibt, minderjährig zu sein, festgestellt wird, ist in § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII geregelt. Diese Vorschrift ist zunächst im Rahmen des § 42a Abs. 1 SGB VIII anzuwenden. § 42a Abs. 1 SGB VIII ergänzt § 42 SGB VIII. Aus diesen beiden Vorschriften ergibt sich, dass das Verfahren zur Inobhutnahme von neu in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten ausländischen Kindern und Jugendlichen zweigeteilt ist. Während für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, die (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, und für nicht neu eingereiste Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die sich bereits regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, ausschließlich § 42 SGB VIII anwendbar ist, hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (Art. 1 G. v. 28.10.2015, BGBl. I S. 1802) zum 1. November 2015 für neu eingereiste Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit ein dem § 42 SGB VIII vorgeschaltetes Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a bis § 42f SGB VIII eingeführt (Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 42a Rn. 1). Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird.
42
Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII die Minderjährigkeit der ausländischen Person festzustellen. Wird die Minderjährigkeit festgestellt, endet die vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 6 SGB VIII in der Regel mit der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständige Jugendamt. Dieses muss den Minderjährigen dann unverzüglich nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut nehmen (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42a Rn. 26).
43
Wird die Volljährigkeit festgestellt, wird die ausländische Person aus der vorläufigen Inobhutnahme entlassen (Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 88a Rn. 2 a.E.) und in das für erwachsene Personen vorgegebene Verteilungsverfahren überführt, dies durch eine Mitteilung an den LABEA.
44
Hieraus ergibt sich die Konzeption des Gesetzes, wonach eine vorläufige Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher nach § 42a SGB VIII im Falle ihrer unbegleiteten Einreise der späteren Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet ist.
45
Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 SGB VIII ist nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII die Minderjährigkeit der ausländischen Person festzustellen. Wie der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren (BT-Drs. 18/6392, S. 20) festgehalten hat, ist diese Regelung zur verbindlichen Feststellung des Alters erforderlich, um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden. Damit wird in der Regel das Zuweisungsjugendamt, also das Jugendamt, dem der unbegleitete neu eingereiste ausländische Minderjährige im Rahmen der Verteilung nach § 42b Abs. 3 SGB VIII, § 88a Abs. 2 SGB VIII zugewiesen worden ist, die Feststellung des Aufgriffsjugendamts, also des Jugendamts, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufgehalten hat (§ 88a Abs. 1 SGB VIII), übernehmen und von der Minderjährigkeit der betroffenen Person ausgehen.
46
Nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist demgegenüber die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Zuweisungsjugendamt die Feststellung des Aufgriffsjugendamts zur Minderjährigkeit in Zweifel ziehen und die Minderjährigkeit der ausländischen Person erneut überprüfen darf.
47
Hierbei stellt sich zunächst die Frage, ob überhaupt eine erneute Feststellung zur Minderjährigkeit der betroffenen Person durch das Zuweisungsjugendamt zulässig ist oder ob dieses ausnahmslos an die Feststellung des Aufgriffsjugendamts gebunden ist. Die Kammer vertritt hierbei die Auffassung, dass das Zuweisungsjugendamt nicht ausnahmslos an die Feststellung des Aufgriffsjugendamts gebunden und damit nicht ausnahmslos an einer erneuten Feststellung zur Minderjährigkeit der ausländischen Person gehindert ist.
48
Wie oben bereits dargelegt, enthalten die gesetzlichen Vorschriften in § 42 bis § 42f SGB VIII zu dieser Frage keine konkrete Regelung. Lediglich § 42f Abs. 3 SGB VIII kann indirekt entnommen werden, dass eine „Altersfeststellung“ (im Unterschied zur in § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII enthaltenen Formulierung, wonach die Minderjährigkeit festzustellen ist) auch im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII möglich sein muss. Nach § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben nämlich Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 abzulehnen und zu beenden, keine aufschiebende Wirkung. Damit geht der Gesetzgeber wohl davon aus, dass im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII eine Altersfeststellung auch von von § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfassten ausländischen Personen zulässig sein kann.
49
Zieht man die Gesetzesmaterialien zu Rate, ist hier von der in den Gesetzestext eingearbeiteten Forderung des Bundesrates nach einer „verbindlichen Feststellung des Alters der mutmaßlich minderjährigen ausländischen Person durch das Jugendamt“ die Rede (BT-Drs. 18/6392, S. 20). Der Gesetzgeber hielt die Altersfeststellung für erforderlich, um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden. Demgegenüber soll die „Alterseinschätzung durch das Jugendamt“ nicht gegenüber Dritten, beispielsweise der Ausländerbehörde, verbindlich sein, da dies zu Verfahrensverzögerungen bei den Ausländerbehörden genutzt werden könnte (BT-Drs. 18/6392, S. 20). Aus diesen Ausführungen lässt sich erkennen, dass der Gesetzgeber eine Bindungswirkung der Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII gegenüber dem Zuweisungsjugendamt im Auge hatte, wo er andernfalls spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen befürchten würde. Allerdings ist aus diesen Erwägungen des Gesetzgebers nicht erkennbar, ob er eine ausnahmslose Bindungswirkung im Auge hatte. Dagegen spricht die bereits oben dargestellte Formulierung in § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in Verbindung mit den zu dieser Vorschrift vorhandenen Gesetzesmaterialien. Zu § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII führt der Gesetzgeber aus, mit der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a und der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 werde das Kindeswohl unbegleiteter ausländischer Minderjähriger durch das Jugendamt gesichert und ihren besonderen Schutzbedürfnissen und Bedarfslage Rechnung getragen. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nach Abs. 3 Satz 1 sei notwendig, um sicherzustellen, dass in der Kinder- und Jugendhilfe hinreichende Kapazitäten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Personen zur Verfügung stünden, die nicht volljährig seien, die also als Minderjährige des besonderen Schutzes durch die Kinder- und Jugendhilfe bedürften und die dem Kindeswohl entsprechend unterzubringen, zu versorgen und zu betreuen seien (BT-Drs. 18/6392, S. 21, zu § 42f Abs. 3). Dies macht das Ansinnen des Gesetzgebers deutlich, auch im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII die Kapazitäten der Kinder- und Jugendhilfe nicht dadurch unnötig in Anspruch zu nehmen und möglicherweise zu überfordern, dass Personen, die erst im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII als volljährig eingestuft werden, die Kapazitäten blockieren. Zudem spricht gegen eine ausnahmslose Bindungswirkung der Feststellung des Aufgriffsjugendamts zur Minderjährigkeit der ausländischen Person die Tatsache, dass es sich bei dieser Feststellung um ein Internum handelt, das nicht in Form eines Verwaltungsakts Außenwirkung erzielen und nicht eigenständig rechtlich angegriffen werden kann. Entfaltete dieses Internum dennoch eine absolute Bindungswirkung, wäre dies nicht mit Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang zu bringen.
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Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in § 42f Abs. 1 SGB VIII lediglich eine Feststellung der Minderjährigkeit, nicht aber – wie es in den oben genannten Gesetzesmaterialien wörtlich heißt – eine Altersfeststellung vorsieht. Dies bedeutet, dass nicht das taggenaue Alter festgestellt wird, sondern lediglich die Tatsache, ob die ausländische Person minderjährig, also noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 3 SGB VIII). Dies bedeutet, dass nach einem gewissen Zeitablauf erneut Unsicherheit über die Minderjährigkeit der betroffenen Person entstehen kann, wenn also aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr sicher ist, ob sie noch minderjährig oder bereits volljährig geworden ist. Auch in diesem Fall darf dem zuständigen Jugendamt eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit nicht verwehrt sein.
51
Aus diesen Gründen kann das Zuweisungsjugendamt nicht ausnahmslos an das Ergebnis der Feststellung der Minderjährigkeit durch das Aufgriffsjugendamt gebunden sein.
52
Demgegenüber stellt sich die Frage, ob das Zuweisungsjugendamt jederzeit und anlasslos erneut eine Feststellung zur Minderjährigkeit der ausländischen Person vornehmen kann, obwohl das Aufgriffsjugendamt eine solche bereits vorgenommen hat. Die Kammer vertritt hierbei die Auffassung, dass das Zuweisungsjugendamt an einer erneuten Feststellung zur Minderjährigkeit gehindert ist, wenn hierfür kein konkreter Anlass besteht.
53
Dies ergibt sich aus der oben dargestellten gesetzlichen Grundlage, die das Aufgriffsjugendamt gemäß § 42a Abs. 1 i.V.m. § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dazu verpflichtet, bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme die Minderjährigkeit festzustellen. Demgegenüber ist in § 42 SGB VIII keine derartige Regelung enthalten, dies deswegen, weil bei Personen, die sich bereits regelmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, das Geburtsdatum in der Regel taggenau feststeht und es zur Feststellung des Tatbestandsmerkmals der Minderjährigkeit im Rahmen des § 42 SGB VIII keines besonderen Feststellungsverfahrens bedarf. Das vom Gesetzgeber mit § 42a bis 42f SGB VIII geschaffene System lässt dessen Ziel deutlich werden, durch das Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit für die betroffene Person hinsichtlich deren Minderjährigkeit einen Zustand bzw. eine Sicherheit herzustellen, die mit der diesbezüglichen Sicherheit bei einer sich bereits regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Person mit feststehendem Geburtsdatum vergleichbar ist. Hält aber ein Jugendamt die Inobhutnahme einer sich regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Person nach § 42 SGB VIII für erforderlich, überprüft es regelmäßig dessen dokumentiertes Alter und damit dessen Minderjährigkeit nicht anlasslos durch ein Feststellungsverfahren, sondern vertraut auf die diesbezüglich vorhandenen – amtlichen – Angaben. Es ist nicht erkennbar, weshalb dies bei Personen, deren Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII festgestellt worden ist, grundlegend anders sein sollte.
54
Gestützt wird die Auffassung des Gerichts auch durch die bereits oben zitierten Gesetzesmaterialien. Hier macht der Gesetzgeber deutlich, dass er mit Hilfe der Regelungen in § 42f SGB VIII eine verbindliche Feststellung des Alters bezwecken will, um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden. Damit sind – wie dem Duktus der Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist – spätere Auseinandersetzungen auf der Ebene der Kinder- und Jugendhilfe gemeint. Dies geht aus der weiteren Ausführung des Gesetzgebers hervor, eine Bindungswirkung der Altersfeststellung gegenüber Dritten, beispielsweise der Ausländerbehörde, sei abzulehnen. Dies macht deutlich, dass der Gesetzgeber lediglich spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden wollte. Gleiches ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 18/6289, S. 2), wo der Bundesrat ein Verfahren zur verbindlichen Alterseinschätzung fordert und dies in einen konkreten Zusammenhang mit der sich hieran anschließenden Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII stellt.
55
Hinzu kommt das im Kinder- und Jugendhilferecht festgelegte Ziel, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (§ 1 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII). Auch unter Berücksichtigung dieses Ziels verbietet sich eine anlasslose erneute Feststellung des Zuweisungsjugendamts zur Minderjährigkeit. Denn ein solches Verfahren schafft für die betroffene Person, deren Minderjährigkeit bereits festgestellt worden ist, eine erneute Unsicherheit über ihr Schicksal im Rahmen der Unterbringung und damit eine psychische Belastung hinsichtlich der Frage, ob sie sich darauf verlassen kann, dass die minderjährigengerechte Unterbringung und Betreuung fortdauert oder ob sie sich auf eine diesbezüglich gravierende Veränderung einstellen muss. Auch das Verfahren der Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII selbst ist mit Belastungen verbunden, z.B. durch die erneute intensive Befragung im Rahmen der Inaugenscheinnahme, der sich die Person stellen muss, und durch eine mögliche – gegebenenfalls erneute – ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit ihren verschiedenen Belastungen, z.B. auch durch Röntgenstrahlen. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, die betreffende Person ohne jeglichen Anlass erneut derartigen Belastungen auszusetzen.
56
Aus alledem ergibt sich, dass das Zuweisungsjugendamt an einer erneuten Feststellung der Minderjährigkeit gehindert ist, wenn kein konkreter Anlass hierfür vorliegt.
57
Demgegenüber vertritt die Kammer die Auffassung, dass eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit durch das Zuweisungsjugendamt trotz bereits erfolgter Feststellung durch das Aufgriffsjugendamt zulässig sein muss, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht. Dies ergibt sich aus der oben genannten Regelung in § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII und der Motivation des Gesetzgebers, sicherzustellen, dass in der Kinder- und Jugendhilfe hinreichende Kapazitäten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Personen zur Verfügung stehen, die nicht volljährig sind (BT-Drs. 18/6392, S. 21, zu § 42f Abs. 3). Ein derartiger konkreter Anlass für eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit kann eine Erkenntnis zu Unzulänglichkeiten im Rahmen der Feststellung der Minderjährigkeit durch das Aufgriffsjugendamt gemäß § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII sein. In Betracht kommen als Anlässe auch später zu Tage tretende Erkenntnisse oder Urkunden, die bei der erstmaligen Feststellung der Minderjährigkeit noch nicht zur Verfügung standen oder nachträgliche Erkenntnisse, die auf eine bewusste Täuschung durch die betreffende Person im Verfahren beim Aufgriffsjugendamt hindeuten. Ein derartiger Anlass kann zudem auch der reine Zeitablauf sein, wenn bei der erstmaligen Feststellung der Minderjährigkeit lediglich diese Tatsache, jedoch kein konkretes Geburtsdatum festgestellt worden ist und durch den reinen Zeitablauf nunmehr Zweifel entstehen, ob noch die Minderjährigkeit fortdauert. Denn Tatbestandsmerkmal der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII ist zwingend die Minderjährigkeit der betroffenen Person. Besteht ein konkreter Anlass, am Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals zu zweifeln, muss die zuständige Behörde dazu befugt sein, diese Zweifel auszuräumen.
58
Aus alledem ergibt sich die Auffassung der Kammer, dass das Zuweisungsjugendamt dazu berechtigt ist, eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit vorzunehmen, wenn ein konkreter Anlass hierfür besteht (vgl. zu diesem Fragenkomplex: BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 31, wo ausgeführt wird, dass der Gesetzgeber mit dem Verfahren nach § 42f SGB VIII eine „frühzeitige und endgültige Klärung von Altersfragen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ vor Augen hatte; dies soll – so das Bundesverwaltungsgericht – vermeiden, dass nachfolgende Maßnahmen der Jugendhilfe wie z.B. die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII revidiert und rückabgewickelt werden müssen, weil sich nachträglich herausstellt, dass der Betroffene gar nicht minderjährig ist; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 25.10.2023 – OVG 6 S 50/23 – juris Rn. 7, das eine weitere Altersfeststellung zulässt, aber in deren Rahmen eine hinreichende Auseinandersetzung mit den Ernstannahmen aufgrund besserer Erkenntnisse verlangt; Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK, Stand: 11.6.2023, § 42f Rn. 33, wonach bei einer nach § 42 SGB VIII in Obhut genommenen Person die Einleitung eines Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII dann nicht ausgeschlossen ist, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die bislang erlangten Ergebnisse falsch sind; so auch OVG Bremen, B.v. 21.9.2016 – 1 B 164/16 – juris Rn. 12; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 – 3 B 5176/16 – juris Rn. 9; vgl. auch Achterberg, Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, JA 2019, 294, 298 für den Fall des Vorliegens neuerer Erkenntnisse, ferner Dürbeck in Wiesner/Wapler (Hrsg.), 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 42 Rn. 19, wonach zwar für das Zuweisungsjugendamt keine Bindungswirkung der vom Aufgriffsjugendamt getroffenen Feststellungen anzunehmen sei, im Regelfall aber auch keine Veranlassung für das erstgenannte bestehen werde, eigene amtswegige Ermittlungen zur Frage des Alters des Betroffenen anzustellen).
59
Hat das Zuweisungsjugendamt demnach Anlass, eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit durchzuführen, ist hierfür § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII mit den darin festgelegten Verfahrensschritten analog anwendbar, dies aufgrund einer planwidrigen Regelungslücke und der vergleichbaren Interessenlage und aufgrund der Bezugnahme in § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII. Hinzu kommt, dass mit diesen Verfahrensvorschriften möglicherweise minderjährige Personen vor übermäßigen Eingriffen bei der Feststellung der Minderjährigkeit geschützt werden können (BT-Drs. 18/6289, S. 2; BT-Drs. 18/6392, S. 20, wonach die Feststellung unter Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität erfolgen soll).
60
Muss demnach das Alter einer neu eingereisten ausländischen Person, die angibt, minderjährig zu sein, festgestellt werden, so hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Nach Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift hat das Jugendamt in Zweifelsfällen auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen.
61
Dies bedeutet, dass das Jugendamt zunächst Einsicht in die Ausweispapiere der betreffenden Person zu nehmen hat. Hierbei handelt es sich um Dokumente, die aus deren Herkunftsland stammen und Namen, Geburtsdatum und Foto der Person enthalten, um sie zu identifizieren (Achterberg, Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, JA 2019, 294, 295). Verfügt die Person nicht über derartige Papiere, hat ihre Selbstauskunft eine wichtige Stellung. Erst wenn diese aufgrund von widersprüchlichen oder nicht schlüssigen Angaben Zweifeln begegnet, muss gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hilfsweise eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt werden (Achterberg, a.a.O.; Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 42f Rn. 4, wonach die Anzweiflung der Altersangabe auf extreme Ausnahmefälle zu beschränken ist).
62
Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie in jedem Fall eine Befragung des Betroffenen ein, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Angabe zu seinem Alter zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist hierbei der Gesamteindruck (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 13). Auf der Grundlage der Erwägungen des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/6392, S. 20), wonach die Altersfeststellung auf der Grundlage von Standards zu erfolgen hat, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschlossen hat, ist gemäß deren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen“ (2. aktualisierte Fassung 2017, beschlossen auf der 122. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter vom 26. bis 28. April 2017 in Saarbrücken; 1. Fassung, auf welcher der Gesetzgeber Bezug genommen hatte, vom Mai 2014) – Handlungsempfehlungen –, das Verfahren stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamts durchzuführen (Handlungsempfehlungen Ziffer 6.2).
63
Ist aufgrund dieser qualifizierten Inaugenscheinnahme weder die Minderjährigkeit noch die Volljährigkeit eindeutig feststellbar und verifizierbar, verbleibt es also bei einem Zweifelsfall, ist gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 43). Derartige Zweifel bestehen immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 14).
64
Bei all diesen Schritten ist zu beachten, dass weder eine qualifizierte Inaugenscheinnahme noch eine ärztliche Untersuchung zu einer exakten Bestimmung des tatsächlichen Lebensalters führen können. Sie liefern allenfalls Näherungswerte mit einer Schwankungsbreite, die teilweise auf bis zu fünf Jahre beziffert wird (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB VIII, Stand: 11.6.2023, § 42f Rn. 29). Jedenfalls ist von einem Graubereich von ein bis zwei Jahren über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren auszugehen (Handlungsempfehlungen, Ziffer 10.3), in welchem weiterhin Zweifel an der Volljährigkeit bestehen. Kommt also die qualifizierte Inaugenscheinnahme oder eine ärztliche Untersuchung zu dem Ergebnis, die betroffene Person sei etwa 18 oder 19 Jahre alt, so ist damit die Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen und deshalb weiterhin vom Vorliegen einer Minderjährigkeit auszugehen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 42 bis 43).
65
Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum der umfassenden verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus. Das Ergebnis einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII ist daher von den Verwaltungsgerichten im Hinblick auf gleichwohl fortbestehende Zweifel an der Minder- bzw. Volljährigkeit des Betroffenen nicht lediglich daraufhin zu überprüfen, ob alle relevanten Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft wurden und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe beachtet und der Gehalt der anzuwendenden Begriffe und der gesetzliche Rahmen, in dem diese sich bewegen, erkannt wurde und keine sachfremden Erwägungen in die Beurteilung eingeflossen sind (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 15).
66
Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass zwar ein Anlass dafür bestand, eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit vorzunehmen und der Antragsgegner somit nicht an die diesbezügliche Feststellung des Jugendamts Pfaffenhofen an der Ilm gebunden war, dass aber zumindest derzeit ein Zweifelsfall vorliegt, so dass nicht davon ausgegangen werden darf, dass der Antragsteller volljährig ist. Damit erweist sich der Bescheid vom 3. Juli 2023 im Rahmen der summarischen Prüfung nicht als eindeutig rechtswidrig, so dass die Voraussetzungen für dessen Aufhebung gemäß § 45 Abs. 1 SGB X mit Bescheid vom 3. August 2023 nach gegenwärtiger Aktenlage nicht vorliegen. Jedoch lässt sich im Hinblick auf das Vorliegen eines Zweifelfalls und der für diesen Fall vorgeschriebenen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII), aber noch ausstehenden ärztlichen Untersuchung derzeit noch nicht abschließend feststellen, ob der Antragsteller als minderjährig oder als volljährig anzusehen ist. Jedenfalls bis zur Nachholung der bislang unterbliebenen gesetzlich vorgesehenen Verfahrensschritte zur Altersfeststellung geht das Gericht daher davon aus, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens offen sind, weil sich der Bescheid vom 3. August 2023 weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig erweist.
67
Dies ergibt sich aus Folgendem:
68
Sowohl das Jugendamt P. … a. d.. I.. als auch das Jugendamt des Antragsgegners haben auf der Grundlage von § 42f SGB VIII eine Alterseinschätzung vorgenommen.
69
In deren Rahmen hat das Jugendamt P. … an d.. I.. ein Dokument des Generalkonsulats der Islamischen Republik Afghanistan vom 12. Juni 2023 mit dem Titel „Bestätigung der Afghanischen Identität“ herangezogen. Dieses nennt – insgesamt auch in deutscher Sprache ausgestellt – als Geburtsdatum des Antragstellers den 8. April 2007. Weiterhin enthält es die Passage: „Hiermit bestätige ich, dass die genannten Angaben richtig sind und ich selbst dafür verantwortlich bin.“ Dem ist die Unterschrift des Antragstellers beigefügt. Aus der letztgenannten Passage ergibt sich, dass das Generalkonsulat selbst die Angaben des Antragstellers zu seinem Geburtsdatum nicht geprüft, sondern ungeprüft übernommen hat. Im Rahmen der summarischen Überprüfung kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass es sich damit um ein im Sinne des § 42f Abs. 1 SGB VIII verwertbares Ausweispapier handelt. Darüber hinaus hat das Jugendamt P. … a. d.. I.. den Antragsteller am 13. Juni 2023 befragt. Es ist dabei zum Ergebnis gekommen, dass Minderjährigkeit vorliegt, dies mit der Begründung, vom Aussehen und vom allgemeinen Eindruck könnten die Geburtsangaben des Antragstellers bestätigt werden. Der Antragsteller verhalte sich altersangemessen eher schüchtern und zurückhaltend. Allerdings sind keine transparenten und nachvollziehbaren Angaben vorhanden, welche visuellen Wahrnehmungen und welche Eindrücke im Einzelnen zu dieser Einschätzung geführt haben. Zudem sind die entsprechenden Unterlagen nur unzureichend ausgefüllt und nicht unterschrieben.
70
Aufgrund der Tatsache, dass sich das Jugendamt P. … a. d.. I.. damit nicht an die Vorgaben des § 42f Abs. 1 SGB VIII gehalten hat und seine Feststellungen zur Minderjährigkeit des Antragstellers nicht nachvollziehbar und transparent sind, bestand ein Anlass für den Antragsgegner, erneut eine Feststellung der Minderjährigkeit vorzunehmen. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob der Antragsgegner dies erkannt und aufgrund dieses Anlasses gehandelt hat; maßgeblich ist allein das tatsächliche objektive Vorliegen eines solchen Anlasses, welches das Gericht vollumfänglich überprüfen kann.
71
Das Jugendamt des Antragsgegners hat am 31. Juni 2023 demzufolge auf der Grundlage von § 42f Abs. 1 SGB VIII zu Recht eine erneute/eigene Alterseinschätzung vorgenommen.
72
Dabei hat der Antragsgegner dem vom Generalkonsulat der Islamischen Republik Afghanistan ausgestellten Dokument zu Recht keine Beachtung beigemessen, dies mit der Begründung, der Antragsteller habe es selbst beantragt und seine hierbei gemachten Angaben zu seiner Person seien ungeprüft übernommen worden. Deshalb hat der Antragsgegner eine qualifizierte Inaugenscheinnahme vorgenommen. Die Mitarbeiterin G. kommt hierbei zu dem Ergebnis, in der Gesamtschau werde der Antragsteller als volljährig eingeschätzt. Sie stützt dies darauf, dass er im Gespräch erwachsen gewirkt habe, dass er ohne die vorbereitete Unterstützung die Reise von Neuburg an der Donau bis nach Miltenberg erfolgreich durchgeführt habe und dort ohne Hilfe in die Jugendhilfeeinrichtung gelangt sei, ohne deren Adresse zu kennen.
73
Der Mitarbeiter A. gelangt ebenfalls zu dem Ergebnis, in der Gesamtschau könne der Antragsteller als volljährig eingeschätzt werden. Er begründet dies damit, eine schüchterne und zurückhaltende Art habe nicht beobachtet werden können. Als weiteren Anhaltspunkt benennt er die widersprüchlichen Aussagen zu dem Geburtsdatum.
74
Diese Einschätzungen sind nicht so transparent, dass das Gericht sie nachvollziehen könnte. Stimmlage, Haarwuchs, Bartwuchs und Gesichtszüge können keinen maßgeblichen Hinweis zur Feststellung der Volljährigkeit eines Menschen geben. Denn alle diese Merkmale können auch bereits bei einem jugendlichen Minderjährigen in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen. Auch ein selbstbewusstes – für das Gericht im Einzelnen nicht nachvollziehbar dargelegtes – Verhalten kann auch bei einem jugendlichen Minderjährigen vorzufinden sein (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 48).
75
Aus – angeblichen – Widersprüchen hinsichtlich der Altersangaben des Antragstellers kann nicht mit hinreichender Sicherheit darauf geschlossen werden, dass er volljährig ist. Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang die Ansicht des Antragsgegners, der Antragsteller habe das Geburtsdatum … … 2004 tatsächlich selbst angegeben. Demgegenüber hat der Antragsteller deutlich gemacht, es handele sich um ein „gegriffenes“ Datum, weil er in der Erstaufnahmeeinrichtung in Berlin keine Personaldokumente habe vorlegen können. Warum der Antragsgegner dennoch der Meinung ist, der Antragsteller selbst habe dieses Datum angegeben, ist nicht erkennbar.
76
Auch eine besondere Selbständigkeit – hier in Bezug auf die Reise von Neuburg an den Donau bis zur Jugendhilfeeinrichtung in M. …, ohne deren genaue Anschrift zu kennen – ist kein tragender Hinweis auf eine Volljährigkeit. Vielmehr muss im Auge behalten werden, dass der Antragsteller – zumindest nach seinen eigenen Angaben – gemeinsam mit seinem Cousin von der Türkei bis nach Deutschland gelangt ist und demzufolge in Bezug auf Reisen in unbekanntem Terrain eine gewisse Erfahrung besitzen dürfte. Die Einschätzung, der Antragsteller wirke im Gespräch erwachsen, er wirke deutlich älter als 16 Jahre, ist für das Gericht ohne Spezifizierung nicht nachvollziehbar.
77
Auch das im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vorgetragene Argument des Antragsgegners, der Antragsteller habe sich mit Alias-Namen und unterschiedlichen Altersangaben in Deutschland erfassen lassen, spricht nicht für dessen Volljährigkeit. Vielmehr hat der Antragsteller im vorliegenden Verfahren deutlich gemacht, nach seiner Erstmeldung in B. … sei er weiterverteilt worden. Unabhängig von der Richtigkeit der einen oder anderen Behauptung kann auf jeden Fall nicht aus der Aufnahme unterschiedlicher Geburtsdaten alternativlos auf Volljährigkeit geschlossen werden.
78
Auch unabhängig von der Alterseinschätzung des Antragsgegners ist für das Gericht zumindest aus derzeitiger Sicht nichts erkennbar, was eindeutig die Volljährigkeit des Antragstellers belegen würde. Die in den Verwaltungsakten enthaltenen Lichtbilder des Antragstellers lassen eher das Erscheinungsbild eines Minderjährigen als eines Volljährigen erkennen, dies aufgrund der noch erkennbar jugendlichen Gesichtszüge. Zu einem eindeutigen Ergebnis kann die Heranziehung der Lichtbilder jedoch nicht führen.
79
Die Angaben des Antragstellers beim Antragsgegner zu seinem Lebenslauf lassen nachvollziehbar in etwa das Geburtsjahr 2007 errechnen. Der Antragsteller gibt an, etwa sieben bis acht Jahre bis zu seiner Flucht aus Afghanistan die Schule besucht zu haben. Aufgrund der Tatsache, dass eine Einschulung in der Regel mit etwa sechs Jahren erfolgt (ACCORD, Das Schulsystem in Afghanistan, Mai 2020, S. 2), war der Antragsteller bei seiner Flucht hiernach etwa 14 Jahre alt. Er hat weiter angegeben, sich ein Jahr lang im Iran und vier bis fünf Monate lang in der Türkei aufgehalten zu haben und dann – ohne einen weiteren längeren Aufenthalt zu benennen – nach Deutschland gereist zu sein. Dies ergibt in etwa ein Alter von sechzehneinhalb Jahren bis maximal 17 Jahren und ist insoweit mit dem vom Antragsteller angegebenen Geburtsdatum … … 2007 kompatibel.
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Zudem spricht für das Vorliegen eines Zweifelsfalls die von der Einschätzung des Antragsgegners abweichende Einschätzung des Jugendamts P. … … a. d. I. Auch wenn diese ebenfalls für das Gericht nicht nachvollziehbar dargestellt ist, macht sie doch deutlich, dass man bei der Alterseinschätzung des Antragstellers nicht von vornherein zu dem eindeutigen Ergebnis gelangen muss, er sei volljährig.
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Aus alledem ergibt sich, dass der Antragsteller nicht eindeutig als volljährig angesehen werden kann, sondern dass zumindest ein Zweifelsfall vorliegt.
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Doch selbst wenn man der Einschätzung des Antragsgegners folgen wollte, führte dies nicht zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller ein Erwachsenenalter jenseits des vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof beschriebenen obengenannten „Graubereichs“ von mindestens zwei Jahren aufwiese. Denn der Antragsgegner gelangt zu der Einschätzung, dass der Antragsteller „am …2023 bereits mindestens 18 Jahre alt war“ (vgl. Schreiben vom 3.8.2023 an den LABEA). Dies macht deutlich, dass der Antragsgegner dem Antragsteller nicht ein Alter so weit jenseits der Grenze von 18 Jahren zuordnet, dass er nicht mehr in den genannten Graubereich fiele. Auch die Einschätzung „das Geburtsdatum …2004 erscheint wahrscheinlicher“ (sozialpädagogische Einschätzung der Mitarbeiterin G. vom 2.8.2023), lässt erkennen, dass der Antragsgegner ein Alter des Antragstellers von 18 Jahren für durchaus möglich und plausibel hält. Anhaltspunkte dafür, dass dies anders sein könnte und der Antragsteller eindeutig ein Alter so weit jenseits des 18. Geburtstags aufwiese, dass er nicht in den obengenannten Graubereich fiele und damit zwingend von einer Volljährigkeit auszugehen wäre, sind für das Gericht nicht ersichtlich.
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Damit spricht aus derzeitiger Sicht viel für ein Alter des Antragstellers von unter 18 Jahren und nichts konkret Greifbares für ein Alter von 18 Jahren oder gar von so deutlich über 18 Jahren, dass der Antragsteller nicht mehr in den oben genannten Graubereich fiele. Allerdings hat der Antragsgegner die in § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorgesehene in Zweifelsfällen von Amts wegen oder auf Antrag des Antragstellers – der vorliegend gegeben ist – vorzunehmende ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung noch nicht veranlasst. Dies wird der Antragsgegner nun umgehend nachholen müssen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist völlig offen, so dass das Gericht davon ausgehen muss, dass auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens ebenfalls völlig offen sind.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Beachtung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Anhaltspunkte dafür, dass seit dem Erlass des Inobhutnahmebescheids vom 3. Juli 2023 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sein könnte und damit § 48 Abs. 1 SGB X eine tragende Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 3. August 2023 bilden könnte, so dass sich dieser deshalb als rechtmäßig erwiese, sind nicht erkennbar.
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cc) Die in einem solchen Fall offener Erfolgsaussichten in der Hauptsache gebotene Folgenabwägung geht zulasten des Antragsgegners aus. Zwar streitet für einen Vorrang des Vollzugsinteresses die gesetzliche Wertung des § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, wonach Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung haben. Jedoch ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des streitgegenständlichen Falls abweichend von dieser gesetzlichen Wertung davon auszugehen, dass das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers schwerer wiegt als das öffentliche Vollzugsinteresse. Unabhängig davon, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache wegen Umständen, für die der Antragsgegner beweispflichtig ist, offen sind, spricht hierfür die Bedeutung des auf Art. 6 Abs. 1 GG fußenden Minderjährigenschutzes. Dessen effektive Durchsetzung gebietet im streitgegenständlichen Fall die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Andernfalls würde der Antragsteller in einer Einrichtung für volljährige Asylbewerber verbleiben. Dies entspricht nicht einer jugendgerechten Betreuung. Das Asylbewerberleistungsgesetz enthält auch keine mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vergleichbaren Leistungen. Ein Aufenthalt in einer Einrichtung für Volljährige birgt daher eine (latente) Gefahr für das Wohl unbegleiteter Minderjähriger. Die Nachteile, die dem Minderjährigen hierdurch entstehen, sind insoweit irreversibel, als sich insbesondere die tatsächliche Unterbringung auch nach einer für den Antragsteller nicht auszuschließenden günstigen Entscheidung in der Hauptsache für die Vergangenheit nicht mehr ändern lassen würde. Nachteile, die sich daraus ergeben können, dass sich ein möglicherweise Volljähriger in einem Bereich aufhält, der Minderjährigen vorbehalten ist und dort zudem die für Minderjährige vorgesehenen Ressourcen blockiert, stehen hinter diesem möglicherweise verletzten Schutzbedürfnis zurück.
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Zudem ist keine konkrete Gefahr ersichtlich, dass andere bereits eindeutig als minderjährig eingestufte hilfsbedürftige Personen wegen Kapazitätsengpässen aufgrund der vorläufigen Belegung eines Platzes in einer Gruppe für unbegleitete minderjährige Ausländer durch den Antragsteller keine angemessene Hilfe durch das Jugendamt erhalten könnten. Im Übrigen geht das Gericht davon aus, dass Kapazitätsengpässe, wenn überhaupt, nur in äußerst seltenen Fällen eine Einschränkung des Minderjährigenschutzes im Rahmen einer Folgenabwägung erlauben würden und ein solcher Ausnahmefall hier nach Aktenlage nicht ersichtlich ist.
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dd) Von einer Befristung der Anordnung sieht das Gericht ab. Dass eine Befristung nicht beantragt worden ist, steht zwar dem Ausspruch einer Befristung nach § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO nicht entgegen. Allerdings erscheint sie auch im Hinblick darauf, dass die Inobhutnahme mit Eintritt der Volljährigkeit des Antragstellers zu beenden sein wird, da nach § 42 Abs. 1 SGB VIII nur Kinder und Jugendliche in Obhut genommen werden können, nicht notwendig. Das Ende der aufschiebenden Wirkung ist in § 80b Abs. 1 VwGO hinreichend geregelt. Zudem kann das Gericht Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben, wenn dies künftig erforderlich erscheinen sollte (§ 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO). Nachdem offen ist, wie lange das Hauptsacheverfahren dauern und wie es ausgehen wird, erscheint es sinnvoller, bei Bedarf von dieser flexiblen Änderungsmöglichkeit Gebrauch zu machen, als bereits jetzt eine ausdrückliche Befristung vorzunehmen. Insofern kann gegenwärtig auch dahinstehen, ob und inwieweit der Antragsgegner überhaupt durch den vorliegenden Beschluss an einer Beendigung der Inobhutnahme durch einen neuen, auf andere als die streitgegenständlichen Gründe gestützten Verwaltungsakt gehindert wäre.
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2. Der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO hat Erfolg. Er ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
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Der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung ist begründet. Das Gericht kommt nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu dem Ergebnis, dass die Aufhebung der Vollziehung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO anzuordnen ist. Sinn und Zweck der Vorschriften über die Inobhutnahme ist (auch) das Ziel, Minderjährige wirksam vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII). Solange nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass der junge Mensch bereits volljährig ist, ist er als Minderjähriger zu behandeln. Dabei ist zugunsten des Minderjährigen jeweils das geringstmögliche Lebensalter zu unterstellen (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 42). Zum Zeitpunkt der Antragstellung hatte der Antragsgegner den Antragsteller bereits als Volljährigen zur Umverteilung angemeldet (Änderungsmitteilung vom 3.8.2023). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist der Bescheid des Antragsgegners vom 3. August 2023 über die Beendigung der Inobhutnahme bereits vollzogen worden und der Antragsteller ist in die ANKER-Einrichtung Unterfranken überführt worden. Nur durch die Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen in Form der Rücknahme der Änderungsmitteilung an den LABEA über die Volljährigkeit des Antragstellers und die Wiederaufnahme des Antragstellers in eine Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge lassen sich die Gefahren für das Kindeswohl abwenden.
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3. Damit war dem Antrag in vollem Umfang stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die Gerichtskostenfreiheit stützt sich auf § 188 Satz 2 VwGO.