Titel:
Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme
Normenketten:
SGB VIII § 42, § 42a Abs. 1, § 42f Abs. 1, Abs. 2 S. 1
SGB X § 20 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
§ 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII ermöglicht eine Inobhutnahme zum Zweck der Altersfeststellung nicht nur für eindeutig Minderjährige, sondern darüber hinaus auch für Personen, bei denen die Minderjährigkeit nicht ohne weiteres feststeht, aber auch nicht sicher ausgeschlossen werden kann. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Vorläufige Inobhutnahme, Einstweiliger Rechtsschutz, Altersfeststellung, Ausweispapiere, Altersangabe des Ausländers, Qualifizierte Inaugenscheinnahme, Graubereich der Altersfeststellung, Zweifelsfall, Afghanistan, vorläufige Inobhutnahme, Inaugenscheinnahme
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37243
Tenor
I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragsteller einstweilen vorläufig bis zur erneuten Feststellung der Volljährigkeit des Antragstellers durch den Antragsgegner unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts oder bis zu dessen Übergabe an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständige Jugendamt, längstens jedoch bis zur erstinstanzlichen Entscheidung über die Klage im Verfahren W 3 K 23.1365 gemäß § 42a SGB VIII in Obhut zu nehmen.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
1. Der Antragsteller ist nach seinen eigenen Angaben ein am … … 2006 geborener afghanischer Staatsangehöriger. Die Parteien streiten um eine vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers.
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Gemäß einem Auszug aus dem Ausländerzentralregister reiste der Antragsteller am 2. August 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und meldete sich am 3. August 2023 bei der Erstaufnahmeeinrichtung M … In diesem Zusammenhang begehrte er die Gewährung politischen Asyls. Er wurde mit dem Geburtsdatum … … 2004 registriert und am 17. August 2023 in die ANKER-Einrichtung U … verteilt. Hier gab er an, am … … 2006 geboren zu sein und belegte dies ausweislich einer Aktennotiz des Antragsgegners mit einem elektronischen Foto einer elektronischen ID-Card. Hierüber wurde der Antragsgegner am 30. August 2023 informiert.
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Am 31. August 2023 nahmen zwei Mitarbeiterinnen des Antragsgegners eine Befragung des Antragstellers zur Einschätzung bzw. Feststellung von dessen Minderjährigkeit vor. Aus den diesbezüglichen Dokumentationen ergeben sich die Angaben des Antragstellers, er sei am … … 2006 in Kunduz in Afghanistan geboren. Seine Mutter sei etwa 36 Jahre alt, sein Vater sei mit etwa 40 Jahren verstorben. Die Mutter lebe mit der 12-jährigen Schwester und dem 19-jährigen Bruder des Antragstellers derzeit in der Türkei. Er habe nach seiner Geburt zunächst neun Jahre lang in Kunduz gelebt. Nach dem Tod des Vaters sei er mit seiner Familie nach Kabul gegangen, wo er etwa fünf bis sechs Jahre gelebt habe. Nach der Machtübernahme durch die Taliban sei er etwa im Februar 2022 in die Türkei geflohen, wo er sich ein Jahr und sechs Monate lang aufgehalten habe. Er sei mit fünf Jahren eingeschult worden, habe acht Jahre lang die Schule ohne Schulabschluss besucht und sodann in Afghanistan vier Jahre lang als Fotograf gearbeitet. In der Türkei habe er in einer Fabrik gearbeitet. Er sei von der Türkei über Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gelangt, wobei er sich in Bulgarien etwa 15 bis 20 Tage lang und ansonsten in jedem Land etwa zwei bis drei Tage aufgehalten habe. Er habe Afghanistan im Februar 2022 und die Türkei vor etwa zwei Monaten verlassen. Im von beiden Mitarbeiterinnen des Antragsgegners ausgefüllten Fragebogen „Prüfung der Voraussetzungen für eine Inobhutnahme“ sind im Bereich „Äußere Merkmale der befragten Person“ folgende Kriterien angekreuzt: Stirnfalten, Halsfalten, Körperbehaarung, Bartwuchs (voll, deutlich vorhanden), Gesichtszüge, Hände (behaart). Handschriftlich ist in diesem Bereich hinzugefügt: „deutlich > 18 J.“ Unter der Rubrik „Hinweise, Widersprüche, Umstände, die bei der Befragung offenbar wurden“ ist angekreuzt: Eigene Altersangabe, Daten der Beschulung, Berufstätigkeit, Fluchtwege und -zeiten, Verhalten im Gespräch. In der Spalte „Gesamteindruck“ ist festgehalten: „Deutlich über 18 Jahre alt“. In der Spalte „Bewertung/Entscheidung“ ist festgehalten, dass aus den vorstehend skizzierten Wahrnehmungen, Angaben und Verhaltensweisen geschlossen werde, dass Volljährigkeit vorliege und der Antragsteller nicht in Obhut genommen werde.
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Im Rahmen einer Aktennotiz hat die Mitarbeiterin W. des Antragsgegners festgehalten, der Antragsteller habe angegeben, die ID-Card habe man ihm in Bulgarien abgenommen und anschließend sei sie durch die Polizei verbrannt worden. Das Bild auf dem Foto der ID-Card habe nicht eindeutig dem Antragsteller zugeordnet werden können. Das äußere Erscheinungsbild sowie das Verhalten im Gespräch ließen deutlich auf Volljährigkeit schließen. Der Antragsteller habe im Gesicht und an den Händen einen deutlichen Haarwuchs. Es seien Stirn- und Halsfalten zu erkennen, was für die Volljährigkeit spreche. Der junge Mann antworte selbstsicher und wirke im Gesamtbild deutlich über 18 Jahre alt. Für die Volljährigkeit spreche außerdem, dass die Zeitangaben der schulischen und beruflichen Laufbahn ein Alter von über 18 Jahren ergäben.
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In der Aktennotiz der Mitarbeiterin R. zur Alterseinschätzung des Antragstellers ist festgehalten, ob das auf dem Foto des Reisepasses enthaltene Passfoto den Antragsteller abbilde, sei zweifelhaft. Der Reisepass sei dem Antragsteller in Bulgarien weggenommen worden. Beim Antragsteller müsse von Volljährigkeit ausgegangen werden. Seine Schilderungen wirkten in Hinsicht auf den Schulbesuch, die darauffolgende Arbeit und den Fluchtweg unschlüssig. Stimmten seine Angaben, müsse er etwa 19 Jahre alt sein. Zudem sprächen auch seine körperlichen Merkmale für eine Volljährigkeit. Beispielsweise zeige er ausgeprägte Stirnfalten sowie Halsfalten, behaarte Hände und einen starken Bartwuchs an Wange, Kinn und Oberlippe. Er habe sich zwar rasiert, nichts destotrotz sei dies deutlich erkennbar.
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Mit Schreiben vom 31. August 2023 teilte der Antragsgegner der ANKER-Einrichtung U … mit, die Alterseinschätzung sei zu dem Ergebnis gekommen, dass beim Antragsteller Volljährigkeit vorliege.
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2. Am 25. September 2023 legte der Antragsteller Widerspruch gegen das Schreiben vom 31. August 2023 ein und beantragte seine Inobhutnahme bis zur tatsächlichen Klärung des Alters. Gründe für die Entscheidung des Antragsgegners seien im Schreiben vom 31. August 2023 nicht genannt worden.
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Am selben Tag erhob der Antragsteller im Verfahren W 3 K 23.1365 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg mit dem Ziel, den Beklagten zu verpflichten, dem Antrag auf vorläufige Inobhutnahme stattzugeben.
9
Zugleich beantragte er im vorliegenden Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wird angeordnet.
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Dies begründete er damit, wäre ihm in Bulgarien nicht der Originalpass abgenommen worden, hätte er hiermit sein richtiges Geburtsdatum belegen können. Die vom Antragsgegner vorgenommene Alterseinschätzung sei nicht nachvollziehbar. Das Schreiben vom 31. August 2023 enthalte keine Begründung. Er begehre seine Inobhutnahme bis zur tatsächlichen Klärung seines Alters. Er fühle sich in der Unterkunft nicht wohl und sehr überfordert.
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Zudem legte der Antragsteller mit Schreiben vom 29. September 2023 Kopien verschiedener Dokumente vor, die er als Reisepass und National Identity-Card bezeichnete. Zum einen handelt es sich um ein in arabischer Schrift gehaltenes Dokument. Zum zweiten handelt es sich um ein mit „National Identity-Card“ überschriebenes Dokument, dass ein nicht erkennbares Foto sowie den Namen Ab. Na. und das Geburtsdatum …2006 enthält. Zudem handelt es sich um ein vom „Kabul Central Passport Departement (MOI)“ ausgestelltes Dokument, das teils in arabischer und teils in lateinischer Schrift gehalten ist. Hierauf ist der volle Name des Antragstellers und das Geburtsdatum … … 2006 angegeben, dazu das Wort „STUDENT“. Dieses Dokument weist das Ausstellungsdatum 23. Januar 2020 auf.
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Der Antragsgegner beantragte,
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Zur Begründung wurde vorgetragen, die Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem öffentlichen Interesse an der Versagung einer vorläufigen Inobhutnahme gehe zu Lasten des Antragstellers. Zu Recht habe der Antragsgegner die vorläufige Inobhutnahme versagt. Nur Kinder und Jugendliche, also Personen, die noch nicht 18 Jahre alt seien, könnten nach § 42a SGB VIII in Obhut genommen werden. Das Alter sei gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII festzustellen. Beim Vergleich der als Handy-Foto vorgelegten ID-Card mit dem Aussehen des Antragstellers habe keine Übereinstimmung festgestellt werden können. Zudem entspreche das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers eindeutig dem eines Volljährigen. Die Stirnfalten seien ausgeprägt, Halsfalten seien vorhanden. Er weise starken Bartwuchs und Körperbehaarung auf, die Hände seien behaart, seine Gesichtszüge entsprächen dem eines Erwachsenen. Der Antragsteller antworte selbstsicher und wirke im Gesamtbild deutlich über 18 Jahre alt. Zudem ergäben sich Unstimmigkeiten zu den von ihm angegebenen Daten. Es sei aufgrund einer Auskunft der Ausländerbehörde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die vom Antragsteller vorgelegte Ausweiskopie manipuliert worden sei.
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Mit Bescheid vom 26. September 2023 lehnte der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller eine vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII ab. Dies wurde damit begründet, im Rahmen der Überprüfung der Voraussetzungen des § 42a SGB VIII habe sich ergeben, dass der Antragsteller nicht minderjährig sei. Eine Minderjährigkeit sei zweifelsfrei ausgeschlossen worden. Eine Einsichtnahme in die Ausweispapiere sei nicht möglich gewesen, da keine Unterlagen vorgelegt worden seien. Die Überzeugung des Antragsgegners zum Alter des Antragstellers stütze sich im Wesentlichen auf das äußere Erscheinungsbild, auf sein selbstsicheres Auftreten sowie auf seine widersprüchlichen Angaben. Eine vorläufige Inobhutnahme erfolge ausschließlich bei Minderjährigkeit, also bei Personen, die noch keine 18 Jahre alt seien.
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Mit Schreiben vom 9. Oktober 2023 legte der Antragsteller diesen Bescheid dem Gericht im vorliegenden Verfahren vor.
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Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte W 3 K 23.1365 und auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Antragsgegners, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
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Mit dem vorliegenden Antrag möchte der Antragsteller seine vorläufige Inobhutnahme durch den Antragsgegner erreichen. Streitgegenstand ist der von ihm nach § 42a Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch i.d.F.d.Bek. vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2824, ber. BGBl. 2023, Nr. 19) – SGB VIII – im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemachte Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme durch den Antragsgegner, welchen dieser mit seinem Bescheid vom 26. September 2023 abgelehnt hat. Dies ergibt sich durch die Auslegung des Vorbringens des Antragstellers, welches gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO in entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§ 133, § 157 BGB) vorzunehmen ist.
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Nach dem Wortlaut des Antrags im vorliegenden Verfahren begehrt der Antragsteller zwar die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage im Verfahren W 3 K 23.1365 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Gemeint ist in diesem Zusammenhang zunächst die Klage gegen ein Schreiben des Antragsgegners vom 31. August 2023 an die ANKER-Einrichtung U …, welches sich jedoch nicht an den Antragsteller richtet. Allerdings hat der Antragsteller im weiteren Verfahren dem Gericht den Bescheid des Antragsgegners vom 26. September 2023 vorgelegt und damit deutlich gemacht, dass er diesen in das vorliegende Verfahren einbeziehen möchte. Zudem hat er in der Antragsschrift vom 25. September 2023 deutlich gemacht, dass er bis zur tatsächlichen Klärung seines Alters eine Inobhutnahme begehrt, dies aufgrund seiner von ihm behaupteten Minderjährigkeit. Hieraus ergibt sich das Begehren des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihn einstweilen vorläufig bis zur tatsächlichen Klärung seines Alters in Obhut zu nehmen, dies im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO. Denn im Hauptsacheverfahren W 3 K 23.1365 kann er sein Begehren nicht mit einer Anfechtungsklage, sondern ausschließlich mit einer Verpflichtungsklage geltend machen. Im System des einstweiligen Rechtsschutzes ist in diesem Fall gemäß § 123 Abs. 1 VwGO die einstweilige Anordnung der richtige Rechtsbehelf und nicht nach § 123 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage.
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1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrunds, also die Eilbedürftigkeit, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 45 ff.). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (Happ, a.a.O., § 123 Rn. 54, 51).
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Happ, a.a.O., § 123 Rn. 54).
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Es entspricht dem Wesen der einstweiligen Anordnung, dass es sich um eine vorläufige Regelung handelt und der Antragsteller nicht bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes das erhalten soll, worauf sein Anspruch in einem Hauptsacheverfahren gerichtet ist; das Verfahren der einstweiligen Anordnung soll also nicht die Hauptsache vorwegnehmen. Das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG jedoch dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66, BeckRS 2016, 44855 Rn. 4; B.v. 18.2.2013 – 12 CE 12.2104 – juris Rn. 38; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123 Rn. 14; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 66a).
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Auf dieser Grundlage ist der Antrag zulässig und der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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2. Der auch ansonsten gegebenen Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben minderjährig ist. Denn er ist unabhängig von der Frage seiner Volljährigkeit für das vorliegende Verfahren als prozessfähig anzusehen. Ist er volljährig, folgt seine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. §§ 2, 104 ff. BGB. Bei unterstellter Minderjährigkeit folgt seine Prozessfähigkeit für den Gegenstand des Verfahrens aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen kann, der das 15. Lebensjahr vollendet hat (vgl. OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15, 2 PA 223/15 – juris Rn. 12). Das 15. Lebensjahr hat der Antragsteller aber selbst unter Zugrundelegung seiner eigenen Altersangabe bereits vollendet.
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Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII – und dies muss auch für die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII gelten – nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sozialleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I ist (BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24/12 – NVwZ-RR 2013, 967 Rn. 16). Die Inobhutnahme verleiht dem Kind oder Jugendlichen einen Anspruch darauf, in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, verpflegt und betreut zu werden. Insoweit ist von einer Sozialleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I auszugehen. Zwar hat eine Inobhutnahme auch belastende Wirkungen. In der streitgegenständlichen Konstellation geht es jedoch um mit der Inobhutnahme verbundene Begünstigungen für den Antragsteller, die dieser mit seinem Antrag erhalten bzw. vorläufig bewahren möchte. Mithin steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Dem Schutzinteresse des Minderjährigen wird hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass die aus § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I folgende partielle Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt, sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt. Zudem kann die Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I gem. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB I vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden (zum Ganzen OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – BeckRS 2015, 55026 Rn. 11 m.w.N.).
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3. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, nämlich einen Anspruch darauf, vorläufig gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII in Obhut genommen zu werden.
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a) Das Verfahren zur Inobhutnahme von neu in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten ausländischen Kindern und Jugendlichen ist zweigeteilt. Während für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, die (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, und für nicht neu eingereiste Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die sich bereits regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, ausschließlich § 42 SGB VIII anwendbar ist, hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (Art. 1 G. v. 28.10.2015, BGBl. I S. 1802) zum 1. November 2015 für neu eingereiste Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit ein dem § 42 SGB VIII vorgeschaltetes Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a bis § 42f SGB VIII eingeführt (Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 42a Rn. 1). Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42f Abs. 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Personen gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Die vorläufige Inobhutnahme endet gemäß § 42a Abs. 6 SGB VIII u.a. und in der Regel mit der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständige Jugendamt. Dieses muss den Minderjährigen dann unverzüglich nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut nehmen (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42a Rn. 26).
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Hieraus ergibt sich die Konzeption des Gesetzes, wonach eine vorläufige Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher nach § 42a SGB VIII im Falle ihrer unbegleiteten Einreise ihrer späteren Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet ist. Zwar ist Voraussetzung für eine Inobhutnahme sowohl nach § 42 SGB VIII als auch nach § 42a SGB VIII unter anderem die Minderjährigkeit der betroffenen Person. Allerdings macht von diesem Grundsatz § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eine Ausnahme. Diese Vorschrift eröffnet eine Inobhutnahme zum Zweck der Altersfeststellung nicht nur für eindeutig Minderjährige, sondern darüber hinaus auch für Personen, bei denen die Minderjährigkeit nicht ohne weiteres feststeht, aber auch nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Dies ergibt sich aus der Formulierung, dass die Minderjährigkeit „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ festzustellen ist. Nach der Konzeption des Gesetzes wird ausschließlich für die Zwecke und Dauer der Altersfeststellung in Kauf genommen, dass unter Umständen auch eine schon volljährige Person vorläufig in Obhut genommen wird. Dies spiegelt sich auch im weiteren Wortlaut der Vorschrift wider: Während alle andere Vorschriften des ersten Abschnitts des Dritten Kapitels des Achten Buchs Sozialgesetzbuch die Minderjährigkeit voraussetzen, in dem sie sich ausdrücklich auf „Kinder und Jugendliche“ beziehen, spricht allein § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eine Volljährigkeit in Kauf nehmend von der „ausländischen Person“ (BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – NVwZ-RR 2018, 659, 662, Rn. 29).
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Aus diesen gesetzlichen Vorgaben ergibt sich folgende Struktur für das Vorgehen der zuständigen Jugendämter:
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Erhält ein nach § 88a Abs. 1 SGB VIII zuständiges Jugendamt Kenntnis von der Einreise einer Person, die angibt, minderjährig zu sein oder die bei den Behörden diesen Eindruck hinterlässt, so hat das Jugendamt gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X im Rahmen eines Erstgesprächs das Alter der Person zu klären. Ergeben sich hierbei objektive Anhaltspunkte dafür, dass die betroffene Person minderjährig sein könnte (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42a Rn. 5), lässt sich also eine verlässliche Klärung des Alters nicht kurzfristig herbeiführen und die Minderjährigkeit nicht sicher ausschließen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 42) bzw. ist die von der betroffenen Person behauptete Minderjährigkeit nicht ganz offensichtlich ausgeschlossen (Kirchhof in Schlegel/Voelzke, JurisPK SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 22.6.2023, § 42f Rn. 29), so hat das Jugendamt die vorläufige Inobhutnahme anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist. Denn der Schutz von Kindern und Jugendlichen darf nicht dadurch entfallen, dass die Behörde noch keine Klarheit über deren Alter hat (Kirchhof, a.a.O.).
30
Im Rahmen dieser vorläufigen Inobhutnahme hat das Jugendamt Einsicht in die Ausweispapiere der betreffenden Person zu nehmen. Hierbei handelt es sich um Dokumente, die aus deren Herkunftsland stammen und Namen, Geburtsdatum und Foto der Person enthalten, um sie zu identifizieren (Achterberg, Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, JA 2019, 294, 295). Verfügt die Person nicht über derartige Papiere, hat ihre Selbstauskunft eine wichtige Stellung. Erst wenn diese aufgrund von widersprüchlichen oder nicht schlüssigen Angaben Zweifeln begegnet, muss gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hilfsweise eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt werden (Achterberg, a.a.O.; Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 42f Rn. 4, wonach die Anzweiflung der Altersangabe auf extreme Ausnahmefälle zu beschränken ist).
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Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie in jedem Fall eine Befragung des Betroffenen ein, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Angabe zu seinem Alter zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist hierbei der Gesamteindruck (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 13). Auf der Grundlage der Erwägungen des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/6392. S. 20), wonach die Altersfeststellung auf der Grundlage von Standards zu erfolgen hat, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschlossen hat, ist gemäß deren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen“ (2. aktualisierte Fassung 2017, beschlossen auf der 122. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter vom 26. bis 28. April 2017 in Saarbrücken; 1. Fassung, auf welcher der Gesetzgeber Bezug genommen hatte, vom Mai 2014) – Handlungsempfehlungen –, das Verfahren stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamts durchzuführen (Handlungsempfehlungen Ziffer 6.2).
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Ist aufgrund dieser qualifizierten Inaugenscheinnahme weder die Minderjährigkeit noch die Volljährigkeit eindeutig feststellbar und verifizierbar, verbleibt es also bei einem Zweifelsfall, ist gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 43). Derartige Zweifel bestehen immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 14).
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Bei all diesen Schritten ist zu beachten, dass weder eine qualifizierte Inaugenscheinnahme noch eine ärztliche Untersuchung zu einer exakten Bestimmung des tatsächlichen Lebensalters führen können. Sie liefern allenfalls Näherungswerte mit einer Schwankungsbreite, die teilweise auf bis zu fünf Jahre beziffert wird (Kirchhof in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB VIII, § 42f Rn. 29). Jedenfalls ist von einem Graubereich von ein bis zwei Jahren über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren auszugehen (Handlungsempfehlungen, Ziffer 10.3), in welchem weiterhin Zweifel an der Volljährigkeit bestehen. Kommt also die Altersfeststellung zu dem Ergebnis, die betroffene Person sei etwa 18 oder 19 Jahre alt, so ist damit die Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen und deshalb weiterhin vom Vorliegen einer Minderjährigkeit auszugehen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 42 bis 43).
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Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum der umfassenden verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus. Das Ergebnis einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 2. Alternative SGB VIII ist daher von den Verwaltungsgerichten im Hinblick auf gleichwohl fortbestehende Zweifel an der Minder- bzw. Volljährigkeit des Betroffenen nicht lediglich daraufhin zu überprüfen, ob alle relevanten Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft wurden und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe beachtet und der Gehalt der anzuwendenden Begriffe und der gesetzliche Rahmen, in dem diese sich bewegen, erkannt wurde und keine sachfremden Erwägungen in die Beurteilung eingeflossen sind (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 15).
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b) Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass zumindest derzeit ein Zweifelsfall vorliegt, der dem Antragsteller einen Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 SGB VIII verleiht.
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aa) Der Antragsteller hat dem Antragsgegner ein auf dessen Smartphone befindliches Foto einer ID-Karte bzw. eines Reisepasses (so die Angaben in den Aktennotizen der Mitarbeiterinnen W. und R., jeweils vom 31.8.2023) vorgelegt. Der Antragsgegner hat dargelegt, das hierauf befindliche Bild habe nicht eindeutig dem Antragsteller zugeordnet werden können. In der Behördenakte befinden sich verschiedene Abbildungen von angeblichen Ausweisdokumenten, die der Antragsteller – in besser lesbarer Qualität – auch dem Gericht vorgelegt hat. Hierbei handelt es sich zunächst um ein in arabischer Sprache gehaltenes und damit für das Gericht nicht lesbares Dokument, welches das Foto einer männlichen Person enthält. Dieses Foto ist nicht ohne weiteres mit den von den deutschen Behörden gefertigten Fotos des Antragstellers in Einklang zu bringen. Weiterhin hat der Antragsteller das Abbild einer National Identity Card der Islamic Republic of Afghanistan vorgelegt. Sie enthält die Angabe Ab. als Name und Na. als Vorname, an anderer Stelle ist als Name Ba. Za. Ab. Na. genannt. Es weist ein Geburtsdatum „…2006“ auf. Das auf der Karte befindliche Bild ist nicht einmal ansatzweise erkennbar. Hieraus ergibt sich, dass allein schon aufgrund der fehlenden Übereinstimmung hinsichtlich des Namens und zusätzlich aufgrund des nicht erkennbaren Bildes das Abbild dieses Dokuments nicht dem Antragsteller zugeordnet werden kann. Weiterhin hat der Antragsteller die Kopie eines in arabischer und lateinischer Schrift gehaltenen Dokuments des Kabul Central Passport Departement vorgelegt. Sie weist den Namen des Antragstellers und das Geburtsdatum „… … 2006“ auf und enthält ein Foto, das im Vergleich zu den von den deutschen Behörden gefertigten Fotos möglicherweise den Antragsteller darstellen könnte. Zudem weist die Kopie dieses Dokuments den Begriff „STUDENT“ auf, wohl als Berufsbezeichnung für dessen Inhaber. Auch dieses Dokument ist nicht eindeutig dem Antragsteller zuzuordnen, dies schon aufgrund der fehlenden eindeutigen Übereinstimmung des auf dem Dokument befindlichen Fotos mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Bildern des Antragstellers. Hinzu kommt die Angabe „STUDENT“, die sich nicht einmal ansatzweise erklärt. Nach seinen eigenen Angaben hat der Antragsteller die Schule ohne Abschluss verlassen und nie studiert. Vielmehr will er als Fotograf tätig gewesen sein. Selbst wenn man annähme, dass Wort „STUDENT“ solle einen Schüler bezeichnen, ergibt sich hieraus keine Stimmigkeit. Denn das Dokument ist am 23. Januar 2020 ausgestellt worden, zu einem Zeitpunkt, zu dem der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben schon lange kein Schüler mehr gewesen ist.
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Damit ist aus den vom Antragsteller vorgelegten Kopien von Personaldokumenten keine Altersfeststellung möglich.
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bb) Zu Recht ist der Antragsgegner zudem zu dem Ergebnis gekommen, dass die Angaben des Antragstellers zu seinem Alter nicht eindeutig und in sich schlüssig sind und damit die Zweifel hinsichtlich seiner Minderjährigkeit nicht ausräumen können.
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Bei der Registrierung des Antragstellers am 3. August 2023 wurde als Geburtsdatum der 15. Juni 2004 festgehalten. Der Grund hierfür ist weder für das Gericht erkennbar noch ist der Antragsteller hierzu befragt worden. Allerdings ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller diesem Geburtsdatum bis Ende August 2023, also über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten, widersprochen hätte. Demgegenüber hat er erst in der ANKER-Einrichtung U* … ein abweichendes Geburtsdatum, nämlich den … … 2006 angegeben. Es ist nicht erkennbar, weshalb der Antragsteller bis zu dieser Angabe einen längeren Zeitraum hat verstreichen lassen, sollte er tatsächlich am … … 2006 geboren worden sein.
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Weiterhin lässt sich das Geburtsdatum … … 2006 nicht eindeutig aus den Angaben des Antragstellers im Rahmen der Befragung durch die Mitarbeiterinnen des Antragsgegners nachvollziehen. Zum einen hat er angegeben, sich ab seiner Geburt zunächst neun Jahre in Kunduz und dann fünf bis sechs Jahre in Kabul aufgehalten zu haben und sodann Afghanistan im Februar 2022 verlassen zu haben. Hieraus errechnet sich das Geburtsjahr 2007 bzw. 2008. Damit wäre der Antragsteller minderjährig. Zum anderen hat der Antragsteller angegeben, er habe – beginnend im Alter von fünf Jahren – acht Jahre lang die Schule besucht und anschließend vier Jahre lang als Fotograf in Afghanistan gearbeitet zu haben, bevor er dieses Land im Februar 2022 verlassen habe. Aus diesen Angaben errechnet sich das Geburtsjahr 2005. Damit wäre der Antragsteller 18 Jahre alt und volljährig. Mit dem diesbezüglichen Widerspruch ist der Antragsteller, der behauptet, im Jahr 2006 geboren zu sein, jedoch nicht konfrontiert worden. In keinem Fall lässt sich jedoch aus den Angaben plausibel das Geburtsjahr 2006 berechnen. Deshalb lässt sich auch die Eigenangabe des Antragstellers zu seinem Alter nicht für die Feststellung der Minderjährigkeit heranziehen.
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cc) Demzufolge hat der Antragsgegner durch zwei diesbezüglich erfahrene Mitarbeiterinnen eine Altersfeststellung durch Inaugenscheinnahme vorgenommen. Hierbei sind beide Mitarbeiterinnen – wie sich aus den dem Gericht vorliegenden Aktenvermerken ergibt – unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen, der Antragsteller sei deutlich über 18 Jahre alt bzw. etwa 19 Jahre alt und damit volljährig. Beide Mitarbeiterinnen stützen dieses Ergebnis zum einen auf das äußere Erscheinungsbild, nämlich deutlichen Haarwuchs an Gesicht und Händen sowie Stirn- und Halsfalten, und zum anderen auf das Verhalten des Antragstellers im Gespräch. Maßgeblich hierfür war sein selbstsicheres Verhalten, welches jedoch nicht für das Gericht im Einzelnen nachvollziehbar benannt worden ist. Beide Mitarbeiterinnen stützen das Ergebnis, der Antragsteller sei volljährig, zudem auf dessen Zeitangaben zur schulischen und beruflichen Laufbahn; allerdings berücksichtigen sie hier lediglich die Angabe, er habe beginnend im Alter von fünf Jahren acht Jahre lang die Schule besucht und darauffolgend vier Jahre als Fotograf in Afghanistan gearbeitet und sich anschließend eineinhalb Jahre in der Türkei aufgehalten. Demgegenüber berücksichtigen sie nicht die Angabe, er habe sich neun Jahre in Kunduz und fünf bis sechs Jahre in Kabul aufgehalten, bevor er im Februar 2022 das Land verlassen habe.
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Deutlicher Haarwuchs am Gesicht und Händen, starker Bartwuchs – allerdings frisch rasiert – sowie Stirn- und Halsfalten können keinen maßgeblichen Hinweis zur Feststellung der Volljährigkeit eines Menschen geben. Denn alle diese Merkmale können auch bereits bei einem jugendlichen Minderjährigen in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen. Auch ein selbstbewusstes – für das Gericht im Einzelnen nicht nachvollziehbar dargelegtes – Verhalten kann auch bei einem jugendlichen Minderjährigen vorzufinden sein (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 48).
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All dies macht deutlich, dass die Alterseinschätzung als solche nicht zur Gänze in sich stimmig und nicht in allen Punkten für das Gericht nachvollziehbar ist. Zudem ist dem Antragsteller keine Gelegenheit gegeben worden, hierzu Stellung zu nehmen und die Zweifel an seiner Minderjährigkeit zu seinen Gunsten auszuräumen (OVG Bremen, B.v. 22.2.2016 – 1 B 305/15 – NVwZ-RR 2016, 592 f., BT-Drs. 18/6392, S. 20). Damit ist die Inaugenscheinnahme des Antragstellers durch den Antragsgegner schon von ihrem Ansatz her nicht geeignet, die Zweifel an der Minderjährigkeit des Antragstellers auszuräumen mit dem Ergebnis, er sei eindeutig volljährig.
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Doch selbst wenn dies so wäre, ergäbe sich eine Altersfeststellung von 18 bis maximal 19 Jahren. Das festgestellte Alter liegt damit in dem oben genannten Graubereich, in welchem bei einer Altersfeststellung mittels qualifizierter Inaugenscheinnahme dennoch zugunsten der betreffenden Person von einer Minderjährigkeit ausgegangen werden muss.
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dd) Bestehen aber weiterhin Zweifel, ob der Antragsteller minderjährig oder volljährig ist, ist seine vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zwingend; der Antragsteller hat einen entsprechenden Anspruch darauf (Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 42f Rn. 2). Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme wird der Antragsgegner gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen haben.
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Damit hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
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3. Der Antragsteller hat zudem einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er hat vorgetragen, sich in der ANKER-Einrichtung U* … nicht wohl zu fühlen und sich sehr überfordert zu fühlen. Damit erscheint die vom Gericht getroffene Regelung nötig, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, bis zur endgültigen Klärung seines Alters einstweilen in der ANKER-Einrichtung ... zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 SGB VIII) nicht annähernd gleichwertig sind (BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833 – juris Rn. 27; BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24.98 – BVerwGE 109, 155, 161; VG München, B.v. 14.9.2023 – M 18 E 23.3992 – juris Rn. 34). Auf der Hand liegt, dass eine Nachholung der Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie erst nach endgültiger Altersfeststellung zugunsten der Minderjährigkeit des Antragstellers mit Rückwirkung nicht möglich ist und der in Art. 6 Abs. 1 GG festgehaltene Minderjährigenschutz eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigt. Andernfalls würde der Antragsteller in einer Einrichtung für volljährige Asylbewerber verbleiben. Dies entspricht nicht einer jugendgerechten Betreuung. Das Asylbewerberleistungsgesetz enthält auch keine mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vergleichbare Leistung. Ein Aufenthalt in einer Einrichtung für Volljährige birgt daher eine (latente) Gefahr für das Wohl unbegleiteter Minderjähriger. Die Nachteile, die dem Minderjährigen hierdurch entstehen, sind insoweit irreversibel, als sich insbesondere die tatsächliche Unterbringung auch nach einer für den Antragsteller nicht auszuschließenden günstigen Entscheidung in der Hauptsache für die Vergangenheit nicht mehr ändern lassen würde. Damit ist die vorliegende Anordnung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig.
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4. Nach alledem ist der Antragsgegner verpflichtet, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen und zunächst ein ordnungsgemäßes Alterseinschätzungsverfahren nach den oben dargestellten Maßstäben durchzuführen. Dem vorliegenden Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist daher in vollem Umfang stattzugeben. Der Antragsteller hat eine Befristung der Anordnung dahingehend beantragt, sie bis zur tatsächlichen Klärung seines Alters auszusprechen. Dem ist das Gericht gefolgt, allerdings mit der weiteren Befristung bis zu einer Übergabe an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständige Jugendamt für den Fall, dass der Antragsgegner zu dem Ergebnis kommen sollte, der Antragsteller sei tatsächlich minderjährig und ihn damit gemäß § 42b Abs. 1 SGB VIII zur Verteilung anmeldet mit der Folge einer Übergabe an das nach § 42 SGB VIII dann zuständige Jugendamt. Weiterhin hält das Gericht eine Befristung bis zur erstinstanzlichen Entscheidung über die Klage im Verfahren W 3 K 23.1365 für angemessen, da aufgrund der in diesem Verfahren möglicherweise neu gewonnenen Erkenntnisse auch der einstweilige Rechtsschutz neu überdacht werden muss.
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Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 Satz 2 VwGO.