Titel:
Verfahren der Zurückstellung nach §35 BtMG bei Jugendlichen und Heranwachsenden
Normenketten:
BtMG § 35, § 38
JGG § 82 Abs. 1, § 84, § 105 Abs. 1, § 110 Abs. 1
StPO § 34
Leitsätze:
1. Für die Zurückstellungsentscheidung nach § 35 Abs. 1 BtMG i.V.m. § 38 Abs. 1 S. 1 BtMG und § 82 Abs. 1 S. 1 JGG ist bei Jugendlichen und nach Jugendrecht verurteilten Heranwachsenden der Jugendrichter als weisungsgebundener Vollstreckungsleiter und Organ der Justizverwaltung gemäß § 82 Abs. 1 S. 1, §§ 84, 105 Abs. 1, § 110 Abs. 1 JGG zuständig. Er holt die Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges ein, das gegebenenfalls zugleich eine Entscheidung über die Anrechnungsfähigkeit trifft. (Rn. 12 – 13)
2. Eine dem Zurückstellungsantrag stattgebende Entscheidung ist nach § 34 StPO zu begründen. Sie hat zudem den Zeitpunkt und die Dauer der Zurückstellung anzugeben und die Therapie, der sich der Verurteilte zu unterziehen hat, möglichst genau zu bezeichnen. Etwaige mit der Zurückstellung verbundenen Pflichten des Verurteilten, Antrittstermin und Nachweispflichten sind ebenfalls in den Bescheid mit aufzunehmen. (Rn. 14)
3. Hat der Betroffene gegen eine ablehnende Entscheidung des Jugendrichters Beschwerde eingelegt, kann in einer Abhilfeentscheidung verbunden mit einem bewussten Absehen der Vorlage der Beschwerde an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft und einem bewussten Absehen von der Einleitung der Vollstreckung, beides getragen von dem Willen, den Antritt und den Verlauf der Therapie nach § 35 Abs. 4 BtMG zu überwachen, eine positive Zurückstellungsentscheidung des Vollstreckungsleiters, die auch Außenwirkung entfaltete, liegen, auch wenn die Entscheidung nicht, wie geboten, in einem förmlichen Beschluss näher dargelegt und befristet worden ist. (Rn. 18)
4. Eine Entscheidung des Jugendrichters über eine Versagung der Zurückstellung kann in der Regel nicht in einen Widerruf umgedeutet werden. (Rn. 21)
Schlagworte:
Zurückstellung der Strafvollstreckung, Betäubungsmittelabhängigkeit, Zuständigkeit, Jugendrichter, Jugendlicher, Heranwachsender, Abhilfe der Beschwerde, Widerruf der Zurückstellung
Fundstellen:
LSK 2023, 37044
StV 2024, 532
BeckRS 2023, 37044
Tenor
1. Auf den Antrag des Verurteilten wird der Beschluss des Amtsgerichts Altötting vom 8. Februar 2023 in Gestalt des Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft München vom 16. Juni 2023 aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass die Vollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Altötting vom 19. Januar 2021 – 8 Ls 530 Js 26341/20 jug – gemäß § 35 BtMG mit Wirkung vom 14. März 2022 für längstens zwei Jahre zurückgestellt wurde zur beantragten Durchführung einer der Rehabilitation dienenden Behandlung in der Fachklinik Alpenland.
3. Das Verfahren ist gebührenfrei. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind aus der Staatskasse zu erstatten.
4. Der Geschäftswert wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Der Antragsteller wurde durch Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – Altötting vom 19. Januar 2021 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchter Körperverletzung und tateinheitlicher fahrlässiger Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Mit Urteil vom 10. März 2021 hat das Landgericht Traunstein die Berufung des Angeklagten verworfen. Im Urteil hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte die Tat aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat (Urteil Landgericht S. 10). Das Urteil ist seit 18. März 2021 rechtskräftig.
2
Mit Schreiben seines Rechtsanwalts vom 12. April 2021 (Bl. 17 VH), ergänzt mit Schreiben vom 11. Juni 2021 (Bl. 27 VH) und vom 9. Dezember 2021 (Bl. 37 VH), hat der auf freiem Fuß befindliche Verurteilte unter Vorlage einer Bestätigung einer ambulanten Behandlung, einer Therapieplatzzusage und einer Bewilligung des Kostenträgers bei der Staatsanwaltschaft Traunstein die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG beantragt. Mit richterlicher Verfügung vom 17. Juni 2021 hat die Vorsitzende des Jugendschöffengerichts als erkennende Richterin des Amtsgerichts die Entscheidung über die Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG dem Rechtspfleger zugewiesen (Bl. 24 VH). Mit Vermerk vom 6. September 2021 (Bl. 32 VH) hat die Vorsitzende des Jugendschöffengerichts als erkennendes Gericht erster Instanz die Erteilung der Zustimmung zur Zurückstellung versagt. Mit Beschluss vom 12. Januar 2022 (Bl. 41 VH) hat das Amtsgericht – Jugendrichter – Altötting den Antrag des Verurteilten vom 12. April 2021, die weitere Vollstreckung gemäß § 35 BtMG zurückzustellen, abgelehnt (Bl. 41 VH).
3
Gegen diese dem Verteidiger am 24. Januar 2022 zugestellte Entscheidung hat der Verurteilte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 31. Januar 2022 sofortige Beschwerde eingelegt (Bl. 44 VH) und diese mit Schreiben vom 14. Februar 2022 unter Vorlage einer Aufnahmebestätigung für die stationäre Therapie begründet (Bl. 49 VH). Am gleichen Tage hat er mit gesondertem Schreiben beim Landgericht Traunstein unter Vorlage einer Aufnahmebestätigung die Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung beantragt (Bl. 52 VH). Das Landgericht Traunstein hat die ihm zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zugeleiteten Akten am 4. März 2022 an die Staatsanwaltschaft Traunstein unter Hinweis auf die Vorschaltbeschwerde nach § 21 StVollstrO zurückgeleitet (Bl. 53 VH). Mit Verfügung vom 7. März 2022 hat die Staatsanwaltschaft Traunstein die Schreiben des Verteidigers dem Amtsgericht Altötting zur Entscheidung über eine Abhilfe vorgelegt (Bl. 54 VH).
4
Der Direktor des Amtsgerichts Altötting hat unter dem 14. März 2022 einen handschriftlichen Beschluss erlassen, der Vorschaltbeschwerde des Verurteilten abgeholfen, die Zustimmung zur Zurückstellung der Vollstreckung gemäß § 35 Abs. 1 BtMG erteilt und die Entscheidung dem Verurteilten und dem Verteidiger formlos mitgeteilt (Bl. 55 VH). In der Folge hat der Rechtspfleger am 31. März 2022 eine Wiedervorlage des Verfahrens zum 2. Mai 2022 zur Überprüfung des Therapieantritts verfügt (Bl. 56 VH). Am 4. Mai 2022 hat der Jugendrichter angeordnet, den Verteidiger aufzufordern, den Antritt der Therapie schriftlich zu belegen (Bl. 56 VH). Mit Schreiben vom 25. Mai 2022 hat der Verteidiger dem Gericht eine Aufnahmemitteilung der Fachklinik Alpenland übersandt (Bl. 57 VH). Daraufhin hat der Jugendrichter am 30. Mai 2022 eine Wiedervorlage des Verfahrens zum 25. September 2022 verfügt (Bl. 57 VH). Vom 14. März bis 14. Juni 2022 befand sich der Verurteilte in stationärer Rehabilitation (Bl. 75 VH). Mit Schreiben vom 10. Oktober 2022 hat der Rechtspfleger des Amtsgerichts Altötting beim Verteidiger angefragt, ob sich der Verurteilte weiterhin in der Klinik befinden würde, woraufhin der Verteidiger mit Schreiben vom 11. November 2022 einen Wechsel in die Fachambulanz mitgeteilt hat (Bl. 59, 60 VH). Daraufhin hat der Direktor des Amtsgerichts unter ausdrücklichen Hinweis auf § 35 Abs. 4 BtMG eine Auskunft zur Beendigung der Therapie bei der Fachklinik eingeholt (Bl. 66 f. VH). Mit Verfügung vom 23. Januar 2023 hat der Jugendrichter die Akten der Staatsanwaltschaft zur weiteren Veranlassung und dem Vermerk „Widerruf Rückstellg. 35 BtMG?“ zugeleitet. Die Therapie sei durch die Ärzte wegen mangelnder Therapiebereitschaft beendet worden (Bl. 67 VH). Mit Verfügung vom 30. Januar 2023 hat die Staatsanwaltschaft Traunstein beim Amtsgericht Altötting mit Blick auf den bisherigen Verfahrensgang und den Bericht der Fachklinik zum Therapieabbruch angeregt, den Antrag des Verurteilten auf Zurückstellung „nochmals förmlich“ zu bescheiden und nunmehr zurückzuweisen (Bl. 68 VH).
5
Mit Beschluss vom 8. Februar 2023, dem Verteidiger am 24. Februar 2023 zugestellt, hat das Amtsgericht – JugendrichterAltötting ohne Anhörung des Verurteilten dessen Antrag, die weitere Vollstreckung der Jugendstrafe gemäß § 35 BtMG zurückzustellen, abgelehnt (Bl. 69 VH). Die Entscheidung hat das Gericht auf die ärztlicherseits attestierte fehlende Therapiebereitschaft gestützt. In den Gründen des Beschlusses hat der Jugendrichter auch die Zustimmung zur Zurückstellung versagt. Am 9. März 2023 hat der Rechtspfleger die Ladung des Verurteilten zum Strafantritt verfügt (Bl. 74 VH). Nach Aktenlage ist der Verurteilte der Ladung bislang nicht nachgekommen.
6
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 16. März 2023 hat der Verurteilte gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom „16.02.2023“ Beschwerde eingelegt und diese mit seiner fortdauernden Therapiebereitschaft begründet (Bl. 77 VH). Das Amtsgericht – Jugendrichter – Altötting hat der Beschwerde zunächst mit Verfügung vom 27. März 2023 (Bl. 90 VH) und anschließend mit Beschluss vom 24. April 2023 nicht abgeholfen und die Sache über die Staatsanwaltschaft der Generalstaatsanwaltschaft in München zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 93, 94 VH). Mit Schreiben seines Verteidigers vom 25. Mai 2023 hat der Verurteilte ergänzend aktuelle Therapienachweise nachgereicht (Bl. 101 VH).
7
Am 16. Juni 2023 hat die Generalstaatsanwaltschaft München mit einem schriftlichen Bescheid die Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Amtsgerichts „Traunstein“ vom 8. Februar 2023 zurückgewiesen. Zwar habe das Gericht die Zustimmung zur Zurückstellung erteilt, es fehle jedoch an einem Nachweis der Betäubungsmittelabhängigkeit. Sollte eine Abhängigkeit vorgelegen haben, hätte der Verurteilte diese bereits überwunden, nachdem im Rahmen der Therapie durchgeführte Urinscreenings mehrfach negativ ausgefallen wären. Zudem mangele es nach den Urteilsfeststellungen an einer Kausalität (Bl. 106 ff. VH). Dieser Bescheid ist dem Verteidiger am 30. Juni 2023 zugestellt worden (Bl. zu 105 VH).
8
Mit Beschluss vom 6. Juli 2023 hat das Amtsgericht – Jugendrichter – Altötting nachträglich eine Anrechnungsentscheidung für den Zeitraum 14. März bis 14. Juni 2022 getroffen (Bl. 116 VH).
9
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 14. Juli 2023, bei Gericht per Fax eingegangen am selben Tage, hat der Verurteilte gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft vom 16. Juni 2023 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und diesen mit Schriftsatz des Verteidigers vom 28. Juli 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tage, begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat unter dem 25. August 2023 Stellung genommen und beantragt, den Antrag des Verurteilten als unbegründet zu verwerfen. Der Verteidiger hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten und weitere Nachweise zum Verlauf der Therapie eingereicht.
10
Der rechtzeitig bei Gericht eingegangene Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG ist zulässig (§ 23 Abs. 1, § 24 Abs. 1, § 26 Abs. 1 EGGVG). Die darin enthaltene Sachdarstellung ist aus sich heraus noch hinreichend verständlich, die Rechtsverletzung durch die angegriffenen Entscheidungen hinreichend substantiiert dargelegt. Damit ermöglicht das Antragsvorbringen des Verurteilten dem Senat die erforderliche Schlüssigkeitsprüfung. Das Vorschaltverfahren ist durchgeführt worden.
11
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung des Jugendrichters in Gestalt des Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft verletzt den Antragsteller in seinen Rechten.
12
1. Nach § 35 Abs. 1 BtMG i.V.m. § 38 Abs. 1 S. 1 BtMG und § 82 Abs. 1 S. 1 JGG kann der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Jugendstrafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte wegen einer Straftat zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. § 36 Abs. 1 BtMG sieht vor, dass, ist die Vollstreckung zurückgestellt worden und hat sich der Verurteilte in einer staatlich anerkannten Einrichtung behandeln lassen, die vom Verurteilten nachgewiesene Zeit seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung auf die Strafe angerechnet wird, bis infolge der Anrechnung zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Die Entscheidung über die Anrechnungsfähigkeit trifft das Gericht des ersten Rechtszuges zugleich mit der Zustimmung nach § 35 Abs. 1 BtMG.
13
Für die Zurückstellungsentscheidung ist bei Jugendlichen und nach Jugendrecht verurteilten Heranwachsenden der Jugendrichter als weisungsgebundener Vollstreckungsleiter und Organ der Justizverwaltung gemäß § 82 Abs. 1 S. 1, §§ 84, 105 Abs. 1, § 110 Abs. 1 JGG zuständig (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 1989 – 2 ARs 492/89, juris; Patzak/Volkmer/Fabricius/Fabricius, 10. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 316-317; Sonnen in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl., I. Abschnitt § 82 VI. Vollstreckung von Entscheidungen nach BtMG Rn. 16; MüKoStGB/Kornprobst, 4. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 123). Er holt die Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges ein. Abweichend vom Erwachsenenvollzug ist eine Übertragung der Zurückstellungsentscheidung auf den Rechtspfleger in der Jugendvollstreckung nicht vorgesehen (§ 31 Abs. 5 RPflG).
14
Eine dem Zurückstellungsantrag stattgebende Entscheidung ist nach § 34 StPO zu begründen. Sie hat zudem den Zeitpunkt und die Dauer der Zurückstellung anzugeben und die Therapie, der sich der Verurteilte zu unterziehen hat, möglichst genau zu bezeichnen. Etwaige mit der Zurückstellung verbundenen Pflichten des Verurteilten, Antrittstermin und Nachweispflichten sind ebenfalls in den Bescheid mit aufzunehmen (Kornprobst a.a.O., § 35 Rn. 153).
15
Gegen die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde ist die Vorschaltbeschwerde nach § 21 StVollstrO eröffnet. Im Falle einer Beschwerde ist der Jugendrichter, wenn er zugleich Vollstreckungsleiter und Gericht des ersten Rechtszugs ist, nicht daran gehindert, in beiden Funktionen abzuhelfen (vgl. OLG München NStZ 1993, 455).
16
Der Widerruf der Zurückstellung der Vollstreckung beurteilt sich nach § 35 Abs. 5 und 6 BtMG. Zuständig ist der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter. Gegen den Widerruf kann die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges herbeigeführt werden (§ 35 Abs. 7 S. 2 BtMG). War der Vollstreckungsleiter erkennender Richter, so entscheidet an seiner Stelle die Jugendkammer (§ 83 Abs. 2 JGG).
17
2. Gemessen an diesen Vorgaben ist die angefochtene Entscheidung in Gestalt des Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft aufzuheben. Denn sie weist durchgreifende Rechtsfehler auf. Sowohl der Jugendrichter als auch die Generalstaatsanwaltschaft haben bei ihren Entscheidungen aus dem Blick verloren, dass das Amtsgericht Altötting im Beschluss vom 14. März 2022 der Beschwerde des Verurteilten vollumfänglich abgeholfen hat.
18
a) Nachdem der Verurteilte gegen die Versagung der Zurückstellung (Beschluss vom 12. Januar 2022) Beschwerde eingelegt hatte, hat der Direktor des Amtsgerichts mit Beschluss vom 14. März 2022 der Beschwerde abgeholfen. Im Fortgang hat das Amtsgericht keine Entscheidung der für die Entscheidung über die Beschwerde zuständigen Generalstaatsanwaltschaft über das Rechtsmittel des Verurteilten herbeigeführt. Nach der Aktenlage ist der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter vielmehr davon ausgegangen, dass der Direktor des Amtsgerichts in seiner Abhilfeentscheidung nicht nur die Zustimmung zur Zurückstellung erteilt, sondern auch die Vollstreckung der Jugendstrafe nach § 35 BtMG zurückgestellt hat. Sowohl der Jugendrichter als auch der Rechtspfleger des Amtsgerichts haben im Anschluss an den Abhilfebeschluss die tatsächliche Zurückstellung der Vollstreckung und die Überwachung der Therapie in den Akten verfügt. Der Senat versteht daher bereits den Abhilfebeschluss des Amtsgerichts Altötting vom 14. März 2022 als Zurückstellungsentscheidung. Jedenfalls liegt in dem bewussten Absehen der Vorlage der Beschwerde an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft verbunden mit dem bewussten Absehen von der Einleitung der Vollstreckung, beides getragen von dem Willen, den Antritt und den Verlauf der Therapie nach § 35 Abs. 4 BtMG zu überwachen, eine positive Zurückstellungsentscheidung des Vollstreckungsleiters, die auch Außenwirkung entfaltete, obgleich die Entscheidung nicht, wie geboten, in einem förmlichen Beschluss näher dargelegt und befristet worden ist. Für dieses Ergebnis spricht zudem, dass der Jugendrichter nachträglich mit Beschluss vom 6. Juli 2023 eine Anrechnungsentscheidung nach § 36 Abs. 1 S. 2 BtMG, wenngleich wohl als Vollstreckungsleiter unter Verkennung seiner Zuständigkeit, getroffen hat.
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b) Da die unbefristet getroffene Zurückstellungsentscheidung weiter fortwirkt, kommt die von der Staatsanwaltschaft im Februar 2023 angeregte Versagung der Zurückstellung nicht in Betracht. Die angefochtene Entscheidung kann somit keinen Bestand haben. Soweit der Jugendrichter in dem angefochtenen Beschluss vom 8. Februar 2023, ebenfalls unter Verkennung seiner Zuständigkeit, die Zustimmung zur Zurückstellung versagt hat, unterliegt auch diese Entscheidung der Aufhebung. Der Jugendrichter hat übersehen, dass das Amtsgericht die Zustimmung bereits mit Beschluss vom 14. März 2022 erteilt hatte.
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3. Der Senat hebt den Beschluss des Amtsgerichts Altötting vom 8. Februar 2023 und den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 16. Juni 2023 auf. Er holt die auf die Beschwerde des Verurteilten vom 31. Januar 2022 veranlasste, in der Abhilfeentscheidung vom 14. März 2022 rechtsfehlerhaft unterbliebene förmliche Entscheidung der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach und stellt fest, dass die Vollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Altötting vom 19. Januar 2021 – 8 Ls 530 Js 26341/20 jug – gemäß § 35 BtMG mit Wirkung vom 14. März 2022 für längstens zwei Jahre zurückgestellt wurde zur beantragten Durchführung einer der Rehabilitation dienenden Behandlung in der Fachklinik Alpenland. Da der Senat insoweit lediglich die Zurückstellungsentscheidung des Amtsgerichts Altötting bestätigt, kommt es auf die streitige Frage, ob der Senat im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null eine eigene Zurückweisungsentscheidung treffen kann, nicht an (vgl. zur Zulässigkeit einer eigenen Sachentscheidung OLG Dresden, Beschluss vom 20. September 2005 – 2 VAs 26/05 –, juris; Fabricius in Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 409; Kornprobst a.a.O. Rn. 174). Der Senat versieht die Zurückstellungsentscheidung mit der gesetzlich zulässigen Höchstfrist von 2 Jahren. Anzurechnen ist die Zeit der stationären Therapie im Zeitraum vom 14. März bis 14. Juni 2022.
21
4. Eine förmliche Widerrufsentscheidung hat der Jugendrichter des Amtsgerichts bislang nicht getroffen. Die Entscheidung des Jugendrichters vom 8. Februar 2023 über eine Versagung der Zurückstellung kann nicht in einen Widerruf umgedeutet werden. Denn der Widerruf der Zurückstellung unterliegt nach § 35 Abs. 5 und 6 BtMG erheblich strengeren Anforderungen als die Versagung der Zurückstellung. Das Amtsgericht hat sich in dem Beschluss zur Zurückstellung der Strafvollstreckung ersichtlich zu den gesetzlich normierten Voraussetzungen des Widerrufs der Zurückstellung nach § 35 Abs. 5 BtMG, namentlich der gebotenen Prognose, nicht verhalten.
22
Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Erwägungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Bescheid vom 16. Juni 2023 die Versagung der Zurückstellung nicht tragen würden.
23
1. Die Vollstreckungsbehörde hat in ihrem Bescheid die Feststellungen des Landgerichts übergangen. Die Berufungskammer hat im Urteil dargelegt, dass der Angeklagte die Tat aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat (Urteil Landgericht S. 10). Dieser Umstand hätte der Erörterung bedurft. Denn nach der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung kann den Urteilsfeststellungen ein hohes Gewicht und ein erheblicher Beweiswert zukommen, wenn das Tatgericht sich eingehend mit der Betäubungsmittelabhängigkeit beschäftigt und die entsprechenden Beweise erhoben und gewürdigt hat (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 25 m.w.N.; Fabricius in Patzak a.a.O. Rn. 92).
24
2. Des weiteren hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Bescheid übergangen, dass sich der Verurteilte im Zeitraum vom 14. März bis 14. Juni 2022 einer stationären Therapie unterzogen hat. Auskünfte zum Verlauf der noch nicht abgeschlossenen ambulanten Therapie hat sie unter Verstoß gegen ihre Pflicht, ihre Entscheidung auf aktuelle Erkenntnisse zu stützen (vgl. etwa OLG Nürnberg, Beschluss vom 2. August 2018 – 2 VAs 8/18 –, juris Rn. 22; Fabricius a.a.O. Rn. 404), nicht eingeholt.
25
3. Ihrer Folgerung, während einer laufenden Therapie durchgeführte negative Urinscreenings ließen auf eine nachhaltige Überwindung der Abhängigkeit schließen, kann sich der Senat nicht anschließen. Die Auffassung, dass der Verurteilte seine Betäubungsmittelabhängigkeit bereits überwunden haben könnte, ist mit der vom ihm belegten Weiterführung der Therapie nicht vereinbar.
26
4. Schließlich könnte nach der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung ein Scheitern der vorausgegangenen stationären Therapie nicht ohne weiteres als Versagungsgrund für eine Zurückstellung der Strafvollstreckung herangezogen werden (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 204 VAs 131/21 –, juris Rn. 24; Fabricius a.a.O. Rn. 207 m.w.N.). Wollte die Generalstaatsanwaltschaft ihre Entscheidung auf eine fehlende Therapiewilligkeit stützen, hätte sie sich mit der aktuellen Entwicklung des Verurteilten und seinen fortlaufenden Bemühungen um eine Behandlung seiner Abhängigkeit befassen müssen.
27
1. Eine Kostengrundentscheidung nach § 1 Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Nr. 15300 bzw. 15301 KV GNotKG war nicht veranlasst, da der Antrag weder zurückgenommen noch (insgesamt) zurückgewiesen wurde. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beruht auf § 30 Satz 1 EGGVG.
28
2. Die Entscheidung über den Geschäftswert ergibt sich aus § 36 Abs. 3, § 79 Abs. 1 Satz 1 GNotKG. Danach ist in Ermangelung genügender Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Wertes ein Geschäftswert von 5.000.- EUR anzusetzen.
29
3. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof ist mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 1 EGGVG nicht zuzulassen.