Titel:
Präventivpolizeiliche Funkzellenabfrage nach Landespolizeirecht
Normenketten:
BayPAG Art. 42, Art. 43, Art. 44, Art. 99
FamFG § 59 Abs. 1, § 62 Abs. 1
Leitsätze:
Art. 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 43 Abs. 2 Satz 1, Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 3 PAG enthalten eine einschlägige Rechtsgrundlage für eine präventivpolizeiliche Funkzellenabfrage. (Rn. 16 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Lehnt der Ermittlungsrichter einen Antrag der Polizei auf Anordnung von präventivpolizeilichen Maßnahmen ab, steht der Polizei ein Beschwerderecht zu, wobei die Beschwerde bei Erledigung der Hauptsache auch darauf gerichtet sein kann, eine Rechtsverletzung festzustellen (Ergänzung zu BGH BeckRS 2015, 12686). (Rn. 8 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Präventivpolizeiliche Maßnahme, Funkzellenabfrage, Bayerisches Polizeirecht, Rechtsgrundlage, Beschwerdebefugnis, Feststellungsinteresse
Fundstelle:
BeckRS 2023, 3679
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 22.11.2022, Az. 58 UR II 10/22 L (PAG), aufgehoben und festgestellt, dass dieser den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat.
2. Von der Erhebung von Kosten wird abgesehen.
Gründe
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Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth und die Nürnberger Kriminalpolizei führen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Inhalte in mehreren Fällen. Insofern wurde (…) betreffend zweier Fälle (…) in Nürnberg nach § 100g Abs. 3 StPO eine Funkzellenabfrage beantragt. Dem wurde mit ermittlungsrichterlichem Beschluss (…) entsprochen.
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In der Nacht vom (…) wurde in (…) Nürnberg eingebrochen und von dort Kinderbekleidung entwendet. Ein Tatzusammenhang wurde nach kriminalistischer Erfahrung vermutet, weshalb die Kriminalpolizei eine weitere Funkzellenabfrage zum Vergleich anstrebte. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat einen Antrag nach § 100g Abs. 3 StPO jedoch abgelehnt. Daraufhin entschloss sich das zuständige Kommissariat 13 des Kriminalfachdezernats 1 in Nürnberg mit Antrag vom 22.11.2022 in eigener Zuständigkeit einen Antrag auf präventivpolizeiliche Funkzellenabfrage zu stellen. Dieser wurde vom zuständigen Ermittlungsrichter am Amtsgericht Nürnberg mit angegriffenem Beschluss vom gleichen Tage abgelehnt. Auf den Antrag der Kriminalpolizei (…) sowie den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg (…) wird Bezug genommen.
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Gegen den ablehnenden Beschluss hat das Polizeipräsidium Mittelfranken am 30.11.2022, bei Gericht eingegangen am 01.12.2022, Beschwerde eingelegt und diese mit gleichem Schreiben begründet. Auf die Beschwerdebegründung (…) wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
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Der Ermittlungsrichter hat der Beschwerde mit Beschluss vom 02.12.2022 nicht abgeholfen und die Akte dem Landgericht Nürnberg-Fürth zur Entscheidung über die Beschwerde vorgelegt.
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Nachdem es zwischenzeitlich zu weiteren Einbrüchen (…) gekommen war, wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth durch das Amtsgericht Nürnberg zwischenzeitlich ein Beschluss nach § 100g Abs. 3 StPO erlassen.
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Die zulässige Beschwerde des Polizeipräsidiums Mittelfranken erweist sich auch in der Sache als begründet, da Art. 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 43 Abs. 2 Satz 1, Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 3 PAG eine einschlägige Rechtsgrundlage für die beantragte präventivpolizeiliche Funkzellenabfrage enthalten und deren Voraussetzungen auch gegeben waren.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
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Die Beschwerde ist zulässig. Das Polizeipräsidium Mittelfranken ist beschwerdebefugt, Art. 99 Abs. 1 Satz 1 PAG i.V.m. § 59 Abs. 1 FamFG, und es besteht auch ein hinreichendes Feststellungsinteresse i.S.d. Art. 99 Abs. 1 Satz 1 PAG i.V.m. § 62 Abs. 1 FamFG.
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a) Beschwerdeberechtigung der Polizei
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§ 59 Abs. 3 FamFG gewährt ein besonderes Beschwerderecht von Behörden nach den besonderen Vorschriften dieses oder eines anderen Gesetzes. Das PAG enthält eine entsprechende Sonderregelung nicht.
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Fehlt es an einer solchen Vorschrift, besteht ein eigenes Beschwerderecht einer Behörde somit nur nach Maßgabe des § 59 Abs. 1 FamFG. Für eine Behörde kann sich aus § 59 Abs. 1 FamFG eine Beschwerdeberechtigung nur dann ergeben, wenn sie durch eine gerichtliche Entscheidung in gesetzlich eingeräumten eigenen Rechten unmittelbar betroffen ist. Das ist nicht schon immer dann der Fall, wenn das öffentliche Interesse an der Erfüllung der einer Behörde übertragenen öffentlichen Aufgabe durch die gerichtliche Entscheidung beeinträchtigt wird (BGH 08.10.2014 – XII ZB 406/13, NJW 2015, 58 Rn. 15; BGH 17.06.2015 – XII ZB730/12, NJW 2015, 2800 (2801) Rn. 16). Eine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung kann aber in Fällen vorliegen, in denen das Gesetz der Behörde ein echtes Antragsrecht einräumt und deren Antrag durch das Gericht zurückgewiesen wird (BGH 17.06.2015 – XII ZB730/12, NJW 2015, 2800 (2801) Rn. 16), vgl. auch § 59 Abs. 2 FamFG. Das ist vorliegend zu bejahen. Art. 43 Abs. 2 Satz 1 PAG gewährt der Polizei ausdrücklich eine Berechtigung („verlangen“) und stellt diese unter Richtervorbehalt. Ausweislich Art. 94 Nr. 17, 96 Abs. 1 PAG i.V.m. § 23 Abs. 1 FamFG bedarf es zur richterlichen Entscheidung eines verfahrenseinleitenden zu begründenden polizeilichen Antrags, wodurch auch der Entscheidungsgegenstand determiniert wird (BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern/Löffelmann, 20. Ed. 2022, Art. 96 PAG Rn. 12).
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b) Feststellungsinteresse
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Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Hat sich die Hauptsache nach Erlass der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts erledigt, ist zwar im Regelfall ein mit der Beschwerde zu verfolgendes Rechtsschutzinteresse des Beteiligten nicht mehr gegeben, weil der Beteiligte nach Erledigung durch die Entscheidung lediglich noch Auskunft über die Rechtslage erhalten kann, ohne dass damit noch eine wirksame Regelung getroffen werden könnte. Im Einzelfall kann trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels ein Bedürfnis nach einer gerichtlichen Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage besonders geschützt ist. In Anbetracht dessen, dass das Amtsgericht nicht bezogen auf den konkreten Sachverhalt entschieden hat, sondern die beantragte Maßnahme, bei welcher es sich um eine häufiger vorkommende polizeiliche Präventivmaßnahme handelt, als generell nicht von einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im präventivpolizeilichen Bereich gedeckt erachtet hat, ist eine konkrete Wiederholungsgefahr nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 FamFG zu bejahen. Es handelt sich nicht ausschließlich um die Klärung einer allgemeinen Rechtsfrage, sondern ein ähnlich gelagerter Antrag steht konkret zu erwarten.
2. Begründetheit der Beschwerde
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Die Beschwerde ist auch begründet. Das Polizeipräsidium Mittelfranken ist durch die angegriffene Entscheidung in seinen Rechten verletzt.
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a) Kein Vorrang repressiver Funkzellenabfrage
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Die präventivpolizeilichen Befugnisse nach dem PAG stehen gleichrangig neben repressiven Eingriffsermächtigungen nach der StPO. Gefahrenabwehr ist eine zentrale staatliche Aufgabe, die gegenüber der Strafverfolgung eigenständige Bedeutung hat und nicht hinter ihr zurücktritt; vielmehr stehen beide als staatliche Aufgaben mit unterschiedlicher Zielrichtung gleichberechtigt nebeneinander (BGH 26.04.2017 – 2 StR 247/16, BGHSt 62, 123 = NStZ 2017, 651 (654) Rn. 27). Das Gesetz kennt folglich keinen Vorrang strafprozessualer Vorschriften gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht (BGH 26.04.2017 – 2 StR 247/16, BGHSt 62, 123 = NStZ 2017, 651 (654) Rn. 26), sodass die zunächst erfolgte Weigerung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zur Beantragung einer repressiven Funkzellenabfrage dem präventivpolizeilichen Antrag nicht entgegenstand.
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b) Zulässigkeit einer präventivpolizeilichen Funkzellenabfrage Der Landesgesetzgeber hat die Möglichkeit einer präventivpolizeilichen Funkzellenabfrage ausdrücklich in seinen Willen aufgenommen (LT-Drs. 17/20425, S. 65). Er hat sogar dezidiert die Anwendungsvoraussetzungen in Art. 44 Abs. 1 Satz 3 PAG für gerade diese polizeiliche Maßnahme absenken wollen:
„Das bisher in Satz 2 Halbsatz 2 hierfür enthaltene Erfordernis einer gegenwärtigen Gefahr wird damit aufgegeben, da insbesondere bei präventivpolizeilichen Funkzellenabfragen die einzelnen Teilnehmer und an der Telekommunikation beteiligten Geräte und Anschlüsse gerade erst ermittelt werden sollen und daher eben nicht bereits bei der Anordnung der Maßnahme benannt werden können“ (LT-Drs. 17/20425, S. 65).
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Die Art. 42, 43, 44 PAG greifen ersichtlich ineinander und sind damit systematisch im Kontext auszulegen. Ein systematischer Rückschluss aus § 100g Abs. 3 StPO ist schon deshalb nicht angängig, weil es sich um unterschiedliche Gesetzgeber handelt, die nicht notwendig einheitlich formulieren.
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Die Regelung des bayerischen Gesetzgebers ist auch verfassungsrechtlich genügend bestimmt. Die erteilte Ermächtigung findet im Wortlaut des Gesetzes eine ausreichende Abstützung. Gesetze müssen hinreichend klar und verständlich sein, damit rechtliche Entscheidungen vorhersehbar sind. Damit hängt auch ihre Bestimmtheit zusammen. Insofern besteht jedoch rechtsstaatlich kein Optimierungsgebot im Sinne eines möglichen Höchstmaßes an Bestimmtheit; es genügt eine hinreichende Bestimmtheit (Dürig/Herzog/Scholz/Grzeszick, 99. EL 2022, Art. 20 Rn. 61). Es sind lediglich Mindestanforderungen an die Fassung der Norm geboten, sodass sich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für die Anwendung der Vorschrift gewinnen lässt (Dürig/Herzog/Scholz/Grzeszick, 99. EL 2022, Art. 20 Rn. 61).
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In der Zusammenschau von Wortlaut des Gesetzes, systematischer Anordnung, Gesetzgebungsmaterialien und Gesetzeszweck ergibt sich, dass die beantragte präventivpolizeiliche Funkzellenabfrage dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz unterfällt.
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Das entspricht auch der herrschenden Meinung in der Literatur (BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern/Bär, 20. Ed. 2022, Art. 44 PAG Rn. 7 f.; Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz/Polizeiorganisationsgesetz, 6. Aufl. 2023, Art. 44 PAG Rn. 8 f.).
„Nach Abs. 1 S. 3 können – ohne Kenntnis einer konkreten Rufnummer des Betroffenen – die bei einer örtlich festgelegten Funkzelle während einer konkreten Tatzeit aufgelaufenen Verkehrsdaten von den Sicherheitsbehörden verlangt werden. Solche Daten können von den Diensteanbietern nur kurzfristig auf der Grundlage des § 100 TKG gespeichert werden. Da bei einer solchen Maßnahme alle Kommunikationsvorgänge einer Funkzelle für einen bestimmten Zeitraum zu übermitteln sind, werden die Rechte einer Vielzahl von unbeteiligten Personen tangiert, die sich in der konkreten Funkzelle aufgehalten haben. Im Hinblick darauf ist daher bei der Anordnung sowohl in Bezug auf die geforderten räumlichen und zeitlichen Begrenzungen besonders auf eine Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu achten“ (BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern/Bär, 20. Ed. 2022, Art. 44 PAG Rn. 7).
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Dem schließt sich die Kammer an. Die dargestellten Anforderungen sind im Antrag der Polizei vom 22.11.2022 eingehalten. Die beantragte Maßnahme wäre mithin anzuordnen gewesen.