Titel:
Geheimhaltungsanordnung in Prämienanpassungsverfahren
Normenketten:
GVG § 172 Nr. 2, § 173 Abs. 2, § 173 Abs. 3
ZPO § 299 Abs. 1
StGB § 353d Nr. 2
Leitsätze:
1. Im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung gem. § 203 Abs. 2 VVG kann einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Versicherers an den technischen Berechnungsgrundlagen im Einzelfall durch den Ausschluss der Öffentlichkeit gem. § 172 Nr. 2 GVG und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gem. § 174 Abs. 3 GVG Rechnung getragen werden (Anschluss an BGH BeckRS 2015, 20932; OLG München BeckRS 2023, 36504). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Recht auf Akteneinsicht nimmt einer Geheimhaltungsanordnung nicht die Eignung, die Interessen des Versicherers zu schützen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Versicherer hat die Möglichkeit, die Einreichung der technischen Berechnungsgrundlagen zur Akte davon abhängig zu machen, dass ein ausreichender Geheimnisschutz – auch für den Fall der Akteneinsicht – sichergestellt ist (Anschluss an BGH BeckRS 2015, 20932). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens obliegt es grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden (Anschluss an BGH BeckRS 2021, 18068 Rn. 13; BGH BeckRS 2020, 1389 Rn. 21). (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Geheimhaltungsanordnung, Prämienanpassung, Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse, Akteneinsicht, technische Berechnungsgrundlagen
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Beschluss vom 15.11.2023 – 23 O 2577/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 36504
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 15.11.2023, Az. 23 O 2577/23, mit dem eine Geheimhaltungsanordnung erlassen worden ist, wird zurückgewiesen.
2. Die Beschwerdeführer tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Die Parteien streiten über Prämienanpassungen in der privaten Krankenversicherung. Der beklagte Versicherer hat mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2023 (Bl. 138/142 d. A. LG) die technischen Berechnungsgrundlagen der streitgegenständlichen Prämienanpassungen als Anlagenkonvolut B 11 (auf CD) vorgelegt, diese unter Bezugnahme auf eine als Anlage B 12 vorgelegte Übersicht als zum (Groß-)Teil geheimhaltungsbedürftig gekennzeichnet und die Anordnung der Verschwiegenheitspflicht hierfür beantragt.
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An der Sitzung des Landgerichts vom 15. November 2023 (Protokoll Bl. 148/151 d. A. LG) hat die Klägerin persönlich nicht teilgenommen; für ihre Prozessbevollmächtigte ist der bei dieser angestellte Rechtsanwalt K. erschienen. Die Einzelrichterin des Landgerichts hat während der Verhandlung über den Inhalt des Anlagenkonvoluts B 11 die Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 2 GVG ausgeschlossen (Protokoll, S. 2 unten). Durch weiteren Beschluss in der Sitzung hat das Landgericht den „Verhandlungsteilnehmern, Rechtsanwalt K. und Rechtsanwalt B.“ nach § 174 Abs. 3 GVG die Geheimhaltung von Daten und anderen Tatsachen zur Pflicht gemacht, „die durch die Verhandlung oder ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück in Bezug auf die Anlage B 11 zu ihrer Kenntnis gelangen“, wobei die Geheimhaltungsverpflichtung „nach Maßgabe der in der Datei B 12 enthaltenen Dateiübersicht“ gelte (Protokoll, S. 3 oben).
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Gegen diesen Beschluss ist mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 29. November 2023 (Bl. 152/163 d. A. LG) sofortige Beschwerde eingelegt worden. Durch den Geheimhaltungsbeschluss seien die Klagepartei und die Prozessbevollmächtigte beschwert. Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 30. November 2023 (Bl. 164/165 d. A. LG) nicht abgeholfen.
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Die gemäß § 174 Abs. 3 Satz 3 GVG, § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 8/20, VersR 2020, 1609 Rn. 10) und auch sonst zulässige sofortige Beschwerde der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten hat keinen Erfolg. Die Geheimhaltungsanordnung des Landgerichts ist rechtmäßig.
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1. Für eine solche Anordnung besteht mit § 174 Abs. 3 GVG eine wirksame Rechtsgrundlage. Die Vorschrift ist verfassungsgemäß.
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Die Vorschriften der §§ 169 bis 174 GVG berücksichtigen in verfassungsrechtlich bedenkenfreier Weise den Umstand, dass einer unbegrenzten Öffentlichkeit der Verhandlungen vor einem erkennenden Gericht gewichtige Interessen entgegen stehen können und solche gegenläufigen Belange allgemein oder im Einzelfall eröffnete Ausnahmen von dem Grundsatz der Öffentlichkeit erfordern (BVerfG, NJW 2007, 672, 673). Dies gilt auch für § 174 Abs. 3 GVG als gesetzliche Grundlage einer Geheimhaltungsanordnung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. November 2023 – 1 BvR 2036/23, juris Rn. 19 f, 22 f, 25).
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Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, wie die Beschwerde sie fordert, ist weder geboten noch wäre sie zulässig. Das Beschwerdegericht hält § 174 Abs. 3 GVG aus den dargestellten Gründen, die der (zitierten) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, nicht für verfassungswidrig.
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2. Die förmlichen Anforderungen an die Geheimhaltungsanordnung sind gewahrt. Insbesondere hat das Landgericht in der Sitzung durch Beschluss entschieden und diesen in das Protokoll aufgenommen (vgl. § 174 Abs. 3 Satz 2 GVG).
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3. Voraussetzung einer Geheimhaltungsanordnung ist nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG, dass die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit oder aus den in §§ 171b, 172 Nr. 2 und 3 GVG bezeichneten Gründen ausgeschlossen ist. Dies ist hier der Fall. Die Öffentlichkeit war durch Beschluss des Landgerichts gemäß § 174 Abs. 1 GVG aus den Gründen des § 172 Nr. 2 GVG ausgeschlossen. Es ist ein wichtiges Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis zur Sprache gekommen, durch dessen öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen verletzt würden. Die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten technischen Berechnungsgrundlagen des beklagten Versicherers stellen ein solches Geheimnis dar.
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a) Als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse werden alle auf ein Unternehmen bezogenen Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Betriebsgeheimnisse umfassen im Wesentlichen technisches Wissen im weitesten Sinne, Geschäftsgeheimnisse betreffen vornehmlich kaufmännisches Wissen. Zu derartigen Geheimnissen werden etwa Umsätze, Ertragslagen, Geschäftsbücher, Kundenlisten, Bezugsquellen, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit, Kalkulationsunterlagen, Patentanmeldungen und sonstige Entwicklungs- und Forschungsprojekte gezählt, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebes maßgeblich bestimmt werden können (BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 14 mwN; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Juni 2020 – 12 W 5/20, VersR 2020, 1439, 1441; OLG München, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 25 W 1067/20, unter II; vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juni 2020 – 16 W 49/20, VersR 2020, 1033).
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b) Die Daten und Tatsachen, auf die sich die Geheimhaltungsanordnung des Landgerichts bezieht, sind in diesem Sinne wichtige Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, deren öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen des Versicherers verletzen würde.
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Der beklagte Versicherer hat nicht sämtliche eingereichten Unterlagen als geheimhaltungsbedürftig angesehen, sondern nur bestimmte Unterlagen, die er gekennzeichnet hat. In der entsprechenden Übersicht (Anlage B 12) hat der Versicherer bestimmte Grundlagen seiner Prämienkalkulation – mit Ausnahme etwa der Übersicht über das Tarifwerk, der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der Sterbetafeln, die allgemein zugänglich sind – als geheimhaltungsbedürftig eingestuft. Nur auf die als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichneten Unterlagen bezieht sich die Geheimhaltungsanordnung.
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Diese Unterlagen sind geeignet, Aufschluss zu geben über Stornowahrscheinlichkeiten, Verfahren zur Herleitung von Kopfschadenprofilen und von Grundkopfschäden, Aufwendungen für Abschluss- und Schadensregulierungskosten und für unternehmenspolitische Projekte sowie Aussagen zur Risikostruktur des Neugeschäfts. Hierbei handelt es sich um maßgebliche Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 14; vgl. auch OLG München, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 25 W 1067/20, unter II und III.1; Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 40).
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4. Der Erlass der Geheimhaltungsanordnung mit dem vom Landgericht formulierten Inhalt entspricht dem durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessen. Die Anordnung ist insbesondere auch verhältnismäßig.
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a) Bei der tatsächlichen und rechtlichen Prüfung von Prämienanpassungen durch die Zivilgerichte ist das Interesse des Versicherungsnehmers an einer Überprüfung der Berechnung der Prämienerhöhungen mit einem schutzwürdigen Interesse des Krankenversicherers an der Geheimhaltung der Berechnungsgrundlagen zum Ausgleich zu bringen. Die Zivilgerichte haben zu prüfen, ob einem Interesse des Krankenversicherers an Geheimhaltung durch die Anwendung von § 172 Nr. 2, § 173 Abs. 2, § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG (vgl. auch § 353d Nr. 2 StGB) Rechnung getragen werden kann (BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 9 mwN; Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20; vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 12). Sie haben auch zu klären, worauf dieses Interesse sich im Einzelnen bezieht (BVerfG, VersR 2000, 214, 216).
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b) Die Anordnung des Landgerichts ist geeignet, die überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Versicherers (s.o. unter 3) zu schützen.
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aa) Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (BVerfGE 96, 10, juris Rn. 61 mwN).
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bb) Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Vorgehen nach § 172 Nr. 2, § 173 Abs. 2, § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG geeignet ist, den Schutz der Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu gewährleisten, insbesondere, weil es sich bei der Gegenpartei nicht um einen Wettbewerber der beklagten Partei, sondern um einen Kunden handelt und folglich nicht schon die Bekanntgabe der Geheimnisse selbst eine Geheimnisverletzung zur Folge hätte (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2008 – VIII ZR 138/07, BGHZ 178, 362 Rn. 47 zu Gastariferhöhungen). Im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung gemäß § 203 Abs. 2 VVG kann einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Versicherers an den technischen Berechnungsgrundlagen im Einzelfall durch den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 2 GVG und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 174 Abs. 3 GVG Rechnung getragen werden (OLG München, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 25 W 1067/20, unter II; vom 8. November 2021 – 25 W 1525/21, unter II.1; vom 7. März 2023 – 25 W 233/23, unter II.1; vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 9, 14; Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20; Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 9).
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Die Geheimhaltungspflicht gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG erstreckt sich nicht nur auf amtliche Schriftstücke, sondern auch auf Tatsachen, die durch die Verhandlung zur Kenntnis der Partei gelangen. Hierunter fallen auch die Tatsachen, die sich aus den vom Versicherer eingereichten technischen Berechnungsgrundlagen ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015, aaO Rn. 17 mwN).
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Durch Verbindung von Öffentlichkeitsausschluss (§ 172 Nr. 2 GVG) und Geheimhaltungsanordnung (§ 174 Abs. 3 Satz 1 GVG) besteht grundsätzlich Strafrechtsschutz nach § 353d Nr. 2 StGB (vgl. Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 8, 23 ff, 42 ff), und zwar auch gegenüber Rechtsanwälten (vgl. MünchKomm-StGB/Puschke, 4. Aufl., § 353d Rn. 83 mwN: Tateinheit mit § 203 StGB möglich). Diese Strafbewehrung eines Verstoßes gegen eine Geheimhaltungsanordnung nach § 353d Nr. 2 StGB ist gegebenenfalls Folge einer solchen Zuwiderhandlung, nicht aber eine von dem die Geheimhaltungsanordnung erlassenden Gericht zu beachtende Voraussetzung der Anordnung (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 26).
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cc) Auch in Ansehung der (weiteren) von der Beschwerde vorgebrachten Einwände erweist sich die Geheimhaltungsanordnung als geeignet. Dass eine Geheimhaltungsanordnung gemäß § 174 Abs. 3 GVG möglicherweise keinen umfassenden Schutz bietet (vgl. OLG München, Beschluss vom 8. Mai 2023 – 38 U 6499/22, juris Rn. 50 ff), ist nicht entscheidend (s.o. unter aa).
22
(1) Zwar kann gegen eine – wie hier – nicht erschienene Partei selbst keine Geheimhaltungsanordnung ergehen. In der Sitzung nicht anwesende Personen können schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht gemäß § 174 Abs. 3 GVG zur Geheimhaltung verpflichtet werden (vgl. BeckOK-GVG/Allgayer, 2023, § 174 Rn. 16; Kissel/Mayer/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 174 Rn. 23; Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 19). Dies macht die gegenüber den Anwesenden getroffene Geheimhaltungsanordnung aber nicht ermessensfehlerhaft (OLG München, Beschluss vom 8. November 2021 – 25 W 1525/21, unter II.1; vom 7. März 2023 – 25 W 233/23, unter II.1).
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(2) Das Recht auf Akteneinsicht nimmt einer Geheimhaltungsanordnung nicht die Eignung, die Interessen des Versicherers zu schützen.
24
Das Recht der Parteien auf Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 1 ZPO umfasst die gesamten Akten und darf den Parteien nicht im Hinblick auf zu wahrende Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse verwehrt werden (BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 18 mwN). Der schriftsätzliche Vortrag und die begleitenden Anlagen werden, soweit sie vorbehaltslos eingereicht worden sind, zum Aktenbestandteil und unterliegen der Akteneinsicht nach § 299 Abs. 1 ZPO (OLG München, Beschluss vom 8. Mai 2023 – 38 U 6499/22, juris Rn. 47, 50).
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Keiner Entscheidung bedarf hier die Frage, unter welchen Umständen auf dieses Recht schlüssig verzichtet wird (vgl. Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 20 ff). Jedenfalls hat der Versicherer die Möglichkeit, die Einreichung der technischen Berechnungsgrundlagen zur Akte davon abhängig zu machen, dass ein ausreichender Geheimnisschutz – auch für den Fall der Akteneinsicht – sichergestellt ist (vgl. Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 12 f, 48 f; vgl. auch BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015, aaO Rn. 20: keine Vorwerfbarkeit der Nichteinreichung bei Ablehnung einer Geheimhaltungsanordnung). Zudem steht es dem Versicherer frei, sich mit einem unvollkommenen Schutz durch eine Geheimhaltungsanordnung zu begnügen (vgl. OLG München, Beschluss vom 8. Mai 2023, aaO Rn. 50, 52).
26
c) Die erlassene Anordnung ist erforderlich, weil es kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des verfolgten legitimen Zwecks gibt.
27
aa) Ein Bedürfnis für eine Geheimhaltungsanordnung entfällt nicht durch die Strafbarkeit der Verletzung von Privatgeheimnissen gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB.
28
Erstens ist insoweit die Behandlung sogenannter Drittgeheimnisse – auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung – umstritten (vgl. BeckOK-StGB/Weidemann, 2023, § 203 Rn. 14.1 mwN). Zweitens setzt die Strafbarkeit eine unbefugte Offenbarung voraus, was im Fall einer Entbindung von der Schweigepflicht durch den Mandanten zweifelhaft sein kann (vgl. BeckOK-StGB/Weidemann, aaO Rn. 40 ff). Und drittens stellt eine Geheimhaltungsanordnung eine gerichtliche Entscheidung im Einzelfall dar, welche die Pflicht zur Verschwiegenheit konkret bezeichnet und damit besonders geeignet ist, diese Pflicht aufzuzeigen und zu ihrer Einhaltung zu ermahnen.
29
bb) Anders als die Beschwerde meint war die Geheimhaltungsanordnung nicht auf die Reichweite des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB und im Sinne des § 203 Abs. 3 StGB einzuschränken.
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Die Beschwerde legt den unzutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt zugrunde, alleinige Konsequenz eines Verstoßes gegen die Geheimhaltungsverpflichtung wäre eine Strafbarkeit nach § 203 Abs. 1 StGB mit der Ausnahme des § 203 Abs. 3 StGB, weil § 203 StGB spezieller sei als § 353d StGB. Dies trifft nicht zu. Wie bereits belegt (s.o. unter b.bb) ist Tateinheit (§ 52 StGB) zwischen § 203 StGB und § 353d Nr. 2 StGB möglich, weil die Vorschriften unterschiedliche Rechtsgüter schützen. Zudem ist die Strafbewehrung eines Verstoßes gegen eine Geheimhaltungsanordnung keine von dem erlassenden Gericht zu beachtende Voraussetzung der Anordnung (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 26).
31
cc) Nicht ausschlaggebend ist, ob der Versicherungsnehmer und seine Prozessbevollmächtigte angeboten haben, eine vertragsstrafenbewehrte Geheimhaltungsvereinbarung mit dem Versicherer abzuschließen.
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Die von § 174 Abs. 3 GVG vorgesehene Geheimhaltungsanordnung wird nicht dadurch unverhältnismäßig, weil es dem Versicherer als Beweisführer neben dem vom Gerichtsverfassungsrecht vorgesehenen Instrumentarium auch möglich wäre, für seine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse eine Geheimhaltung – ohne strafrechtliche Flankierung gemäß § 353d Nr. 2 StGB – rein privatrechtlich zu vereinbaren. Können sich die Parteien – trotz möglicher Vorzüge – nicht auf eine strafbewehrte Geheimhaltungsvereinbarung einigen, so kann sich der Versicherer auch mit dem – wenngleich unvollkommenen, aber anders ausgestalteten – Schutz durch die Geheimhaltungsanordnung begnügen (vgl. OLG München, Beschluss vom 8. Mai 2023 – 38 U 6499/22, juris Rn. 52), will er nicht einen möglichen Prozessverlust hinnehmen (vgl. auch OLG München, Beschluss vom 5. September 2023 – 25 W 994/23, unter 1.b.bb).
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d) Auch in der vorzunehmenden Gesamtabwägung unter Berücksichtigung nicht nur der schutzwürdigen Interessen des beklagten Versicherers, sondern auch der – auch konventionsrechtlich geschützten – Rechte und Interessen der Klagepartei, insbesondere ihrer grundrechtsgleichen Rechte auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren, sowie der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei, hier insbesondere ihrer Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG und § 59l Abs. 1 BRAO, erweist sich die Geheimhaltungsanordnung als verhältnismäßig.
34
aa) Im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens obliegt es grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 21; vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 13).
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bb) Der gesetzlich vorgesehene Schutz durch die Geheimhaltungsanordnung bietet gerade im vorliegenden Fall einen Ausgleich dafür, dass der Krankenversicherer im Prozess Kalkulationen und zugrundeliegende Zahlen offenlegen muss, um sich sachgerecht verteidigen zu können.
36
Zu berücksichtigen ist, dass der Versicherer gesetzlich verpflichtet ist, Prämienanpassungen vorzunehmen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten (§ 155 VAG), so dass ein Spannungsverhältnis entsteht, in dem der Schutz davor, dass Wettbewerber, Kreditgeber oder Dritte von Kalkulationen, deren Grundlagen oder auch von konkreten Zahlen hinsichtlich der auslösenden Faktoren oder limitierenden Maßnahmen Kenntnis erhalten können, weitestgehend zu gewährleisten ist (OLG München, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 25 W 1067/20, unter II). Dies dient nicht zuletzt der Gewährleistung der Berufsfreiheit des Versicherers.
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cc) Dem gegenüber sind insbesondere die Auswirkungen der Geheimhaltungsanordnung auf die Berufsausübung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei zu berücksichtigen. Hierzu verhält sich die Beschwerdeschrift ausführlich.
38
Die Verschwiegenheitsverpflichtung, die dem Rechtsanwalt auferlegt wird, der als Vertreter der Prozessbevollmächtigten an der Sitzung teilnimmt, setzt diesen der Gefahr aus, möglicherweise durch unbefugtes Offenbaren den Tatbestand des § 353d Nr. 2 StGB zu erfüllen, wenn er geheim zu haltende Informationen an andere Rechtsanwälte oder Mitarbeiter der Prozessbevollmächtigten weitergibt, die etwa – wie hier – als Berufsausübungsgesellschaft (§§ 59b ff BRAO) organisiert ist.
39
Bei der Bewertung dieses Nachteils ist zu berücksichtigen, dass es der Prozessbevollmächtigten mit vertretbarem Aufwand möglich ist, denjenigen Rechtsanwalt in die Verhandlung zu entsenden und zur Verschwiegenheit verpflichten zu lassen, der in der jeweiligen Sache später die technischen Berechnungsgrundlagen – soweit gewünscht – sichtet. Für den technischen Vorgang der Einsichtnahme, die sich typischerweise im Auslesen eines USB-Sticks oder anderen Datenträgers erschöpfen wird, wird keine Hinzuziehung weiterer Mitarbeiter erforderlich sein. Auch stünde es der Prozessbevollmächtigten frei, mehr als eine Person in die Verhandlung zu entsenden, soweit sie deren Befassung mit den technischen Berechnungsgrundlagen für erforderlich hält. Hingegen lässt die Vorschrift des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG – entgegen der Auffassung der Beschwerde – keine Auslegung dahingehend zu, dass auch in der Sitzung nicht anwesende Personen (wie die Berufsausübungsgesellschaft, deren Vertreter sowie deren Mitarbeiter und Gehilfen im Sinne des § 203 Abs. 3 StGB) der Geheimhaltungsanordnung unterworfen werden könnten (s.o. unter b.cc.(1)).
40
Nicht schutzwürdig ist ein etwaiges Interesse der Prozessbevollmächtigten des Versicherungsnehmers, Informationen aus einem Verfahren für weitere Verfahren nutzbar zu machen (Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 40; vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 22; vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 28).
41
dd) Ebenfalls zu berücksichtigen sind die Rechte und Interessen des Versicherungsnehmers. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Versicherungsnehmer nicht selbst zur Verschwiegenheit verpflichtet worden ist, wirkt sich die Geheimhaltungsanordnung auf ihn mittelbar aus durch die dem anwesenden Rechtsanwalt auferlegte Verschwiegenheitspflicht und die sich hieraus ergebenden möglichen Beeinträchtigungen der Prozessführung, insbesondere der Mandatsbearbeitung bei der Prozessbevollmächtigten (s.o. unter cc).
42
Der Anspruch des Versicherungsnehmers auf effektiven Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) kann verletzt werden, indem sein Interesse an einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung der Prämienanpassung außen vor gelassen wird, sei es durch Verheimlichung der maßgebenden Berechnungsgrundlagen, sei es durch unzumutbare Erschwerung der Kenntnisverschaffung von diesen (Gramse, r+s 2023, 577 Rn. 8 mwN).
43
Eine solche Befürchtung ist in der vorliegenden Konstellation aber nicht gerechtfertigt. Möchte der Versicherungsnehmer selbst die technischen Berechnungsgrundlagen einsehen, was nach der Erfahrung des Beschwerdegerichts eher untypisch erscheint, so hat er die Möglichkeit, sich durch Anwesenheit in der Sitzung, in der die Geheimhaltungsanordnung erlassen wird, dem zur Verschwiegenheit verpflichteten Personenkreis anzuschließen, dies notfalls auch nachträglich (vgl. OLG München, Beschluss vom 8. November 2021 – 25 W 1525/21, unter II.2). Auch das grundsätzlich unbeschränkte Akteneinsichtsrecht (s.o. unter b.cc.(2)) ermöglicht ihm auf zumutbare Weise eine Information. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum die Beschwerde eine Verletzung des Akteneinsichtsrechts der Klagepartei sowie ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren geltend macht. Entgegen der Ansicht der Beschwerde findet insbesondere kein unzulässiger „Geheimprozess“ statt.
44
ee) Nach alledem muss bei der Entscheidung, ob die Geheimhaltungsanordnung verhältnismäßig ist, das grundrechtlich geschützte Geschäfts- und Betriebsgeheimnis des Versicherers nicht hinter die – ebenfalls grundrechtlich verbürgten – Rechte und Interessen des Versicherungsnehmers und seiner Prozessbevollmächtigten zurücktreten.
45
Die zum Geheimnisschutz geeignete (s.o. unter b) und erforderliche (s.o. unter c) Geheimhaltungsanordnung – mit ihrer strafrechtlichen Flankierung gemäß § 353d Nr. 2 StGB – schützt wichtige Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse des Versicherers in einer Konstellation, der sich dieser nicht ohne gewichtige Nachteile entziehen kann und in der er auf diesen Schutz besonders angewiesen ist (s.o. unter bb). Demgegenüber sind die Beeinträchtigungen für die Prozessbevollmächtigte des Versicherungsnehmers gering (s.o. unter cc) und diejenigen für den Versicherungsnehmer selbst wenig spürbar (s.o. unter dd). Diese Beeinträchtigungen sind unter Berücksichtigung aller Umstände zumutbar.
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5. Das Beschwerdeverfahren war nicht gemäß § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache dem Senat zu übertragen und die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen gemäß § 574 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.
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Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO) erfordert keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Insbesondere weicht die Beschwerdeentscheidung, wie sich aus der vorstehenden Begründung ergibt, nicht ab von entscheidungserheblichen Rechtssätzen im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Dezember 2015 (IV ZR 272/15, VersR 2016, 177) oder im Beschluss des 38. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 8. Mai 2023 (38 U 6499/22, juris).
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Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Die Geeignetheit einer Geheimhaltungsanordnung ist durch die zitierte Rechtsprechung insbesondere des Bundesgerichtshofs geklärt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015, aaO Rn. 9, 14; Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20). Über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung hat der Tatrichter unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020, aaO Rn. 21; vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 13). Insoweit wirft auch die Beschwerde keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO. Ein Beschwerdewert war nicht festzusetzen; für die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde fällt gemäß Nr. 1812 KV GKG eine Festgebühr an.
1. Beschluss vom 18.12.2023 hinausgeben an:
Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin …
2. Beschluss veröffentlichen