Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.11.2023 – 7 CE 23.2130
Titel:

Keine Schreibzeitverlängerung für Zweite Juristische Prüfung bei Long Covid 

Normenketten:
BayJAPO § 13
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1
VwGO § 123, § 146 Abs. 4
Leitsatz:
Bestehen durch eine Krankheit bereits auf der Ebene der kognitiven Leistungsfähigkeit Beeinträchtigungen und benötigt ein Antragsteller daher mehr Zeit zur Lösungsfindung und nicht nur zur Darstellung der innerhalb der vorgegebenen Zeit gefundenen Lösung, kommt ein Nachteilsausgleich nicht in Betracht; nicht entscheidungserheblich ist, ob die Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit sich als temporär darstellen oder ob sie als dauerhaft bestehend anzusehen sind. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachteilsausgleich (verneint), Long Covid, Einschränkungen des Konzentrations- und Denkvermögens, Nachteilsausgleich, Schreibzeitverlängerung, Konzentration, Denkvermögen
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 23.11.2023 – M 4 E 23.5514
Fundstellen:
BayVBl 2024, 311
LSK 2023, 35971
BeckRS 2023, 35971

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. In Abänderung von Nr. III des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 23. November 2023 wird der Streitwert für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, ihr für die schriftlichen Prüfungen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung im Termin 2023/2, die am 28. November 2023 beginnt, einen Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung von jeweils einer Stunde zu gewähren.
2
Die Antragstellerin erkrankte erstmalig im Januar 2022 an Covid-19 und befindet sich seitdem in ärztlicher Behandlung. Mit E-Mail vom 1. Oktober 2023 beantragte sie einen Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung für die Klausuren in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2023/2. Am 20. Oktober 2023 wurde die Antragstellerin amtsärztlich untersucht. Ausweislich des Gesundheitszeugnisses vom 20. Oktober 2023, das sich in seiner Beurteilung auf die Ergebnisse der Untersuchung der Antragstellerin und vorab eingereichter aktueller fachärztlicher Untersuchungs- und Befundberichte stützt, liegt bei der Antragstellerin eine Gesundheitsstörung vor, wegen der sie sich bereits seit längerem in fachärztlicher Behandlung befinde. Trotz laufender Behandlungsmaßnahmen bestünden derzeit und bis auf Weiteres erhebliche Leistungseinschränkungen. Krankheitsbedingt seien die konzentrative Dauerbelastbarkeit und das Durchhaltevermögen erheblich beeinträchtigt. Die Arbeitsgeschwindigkeit sei reduziert. Aus amtsärztlicher Sicht benötige die Antragstellerin mehr Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben, zur Kontrolle des Geschriebenen und zur Korrektur. Eine Schreibzeitverlängerung der Gesamtbearbeitungszeit von 20%, mithin eine Verlängerung der Prüfungszeit um eine Stunde pro Klausur, sei aus amtsärztlicher Sicht notwendig. Mit Bescheid vom 6. November 2023 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Gewährung von Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung im Wesentlichen mit der Begründung ab, die geltend gemachte Beeinträchtigung betreffe das in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung abzuprüfende Leistungsbild. In einem solchen Fall sei die Gewährung eines Nachteilsausgleichs gemäß § 13 Abs. 1 JAPO ausgeschlossen. Die Amtsärztin ergänzte ihre Stellungnahme mit Datum 16. November 2023 dahingehend, dass bei der Antragstellerin eine vorübergehende Gesundheitsstörung vorliege, die körperlich verursacht sei. Dadurch bestünden aktuell Einschränkungen bei der Arbeitsgeschwindigkeit, die durch phasenweise Konzentrationsmängel verursacht würden. Aus amtsärztlicher Sicht sei die Antragstellerin in der Lage, bei einer Prüfung einen juristischen Sachverhalt aufzunehmen, zu verstehen und eine begründete Lösung zu erstellen. Sie benötige dafür krankheitsbedingt derzeit mehr Zeit als die eigentlich vorgesehene Prüfungszeit. Da es sich um eine vorübergehende Gesundheitsstörung handele, könne davon ausgegangen werden, dass sich die angegebenen quantitativen Leistungsstörungen wieder zurückbilden würden. Am 17. November 2023 attestierte die behandelnde Kardiologin der Antragstellerin, nach heutigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand und im Normalfall sei davon auszugehen, dass der Gesundheitszustand nicht dauerhaft beeinträchtigt und von einer Besserung auszugehen sei. Das Abhilfeersuchen der Antragstellerin wurde mit Schreiben des Antragsgegners vom 20. November 2023 abschlägig verbeschieden.
3
Mit Beschluss vom 23. November 2023 lehnte das Verwaltungsgericht den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ab. Es werde nicht bezweifelt, dass die Erkrankung der Antragstellerin die von der Amtsärztin aufgeführten Symptome (Beeinträchtigung der konzentrativen Dauerbelastbarkeit und des Durchhaltevermögens, Reduzierung der Arbeitsgeschwindigkeit und „derzeit und bis auf Weiteres erhebliche Leistungseinschränkungen“) verursache mit der Folge, dass die Antragstellerin „mehr Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben, zur Kontrolle des Geschriebenen und zur Korrektur“ benötige. Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs scheitere vorliegend jedoch daran, dass der Nachteilsausgleich nicht dazu diene, eine durch Erkrankung oder Behinderung bedingte Einschränkung der mit der Prüfung nachzuweisenden Leistungsfähigkeit selbst auszugleichen. Die im Rahmen des schriftlichen Teils der Zweiten Juristischen Staatsprüfung anzufertigenden schriftlichen Aufsichtsarbeiten beträfen nicht nur die Frage, ob der Prüfling über die notwendigen Sachkenntnisse verfüge. Vielmehr solle gerade auch überprüft werden, ob er in der Lage sei, diese Kenntnisse durch den Einsatz der für eine praktische juristische Tätigkeit in Rechtsprechung, Verwaltung und Rechtsberatung erforderlichen Fertigkeiten anzuwenden und umzusetzen. Dazu zähle unter anderem die Fähigkeit, einen Sachverhalt unter zeitlichem Druck aufzunehmen, zu verstehen und einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen. Prüfungsgegenstand der Klausuren sei auch die (gedanklich-intellektuelle) Bewältigung der jeweiligen Aufgabenstellung innerhalb eines kurz bemessenen Zeitrahmens unter Aufsicht. Die zur Erbringung dieser Prüfungsleistung erforderliche Leistungsfähigkeit sei nach amtsärztlicher Einschätzung „derzeit und bis auf Weiteres“ aufgrund der „vorübergehenden, körperlich verursachten Gesundheitsstörung“ erheblich eingeschränkt. Insoweit fehle der Antragstellerin krankheitsbedingt gerade nicht lediglich die Möglichkeit, ihre tatsächlich vorhandene und durch die Prüfung zu beweisende Leistungsfähigkeit darzustellen, sondern es sei bereits ihre (Denk-)Leistungsfähigkeit, in beschränkter Zeit eine Klausuraufgabe juristisch zu lösen, eingeschränkt. Diese Leistungsschwäche dürfe aus Gründen der Chancengleichheit und zur Wahrung des Prüfungszwecks aber gerade nicht durch einen Nachteilsausgleich ausgeglichen werden. Ob ein gesundheitliches Leiden die Leistungsfähigkeit selbst einschränke, sei an den zu erbringenden Prüfungsleistungen zu messen und eine rechtliche und keine medizinische Frage. Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs komme sowohl bei Dauerleiden als auch bei akuten Erkrankungen in Betracht, sodass nicht maßgeblich darauf abzustellen sei, dass die Gesundheitsstörung der Antragstellerin zwar seit längerem bestehe, sich aber voraussichtlich (noch) nicht zu einem Dauerleiden entwickelt habe.
4
Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Rechtsschutzziel weiter. Der Antragsgegner widersetzt sich der Beschwerde.
5
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verfahrensakten Bezug genommen.
II.
6
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
7
Das Verwaltungsgericht hat den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses. Der Senat folgt den Gründen des streitgegenständlichen Beschlusses des Verwaltungsgerichts und nimmt hierauf Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ergänzend ist im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen zu bemerken:
8
Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 JAPO erhält auf Antrag einen angemessenen Nachteilsausgleich, wer wegen einer nachgewiesenen Behinderung bei der Fertigung der Prüfungsarbeiten oder der Ablegung der mündlichen Prüfung erheblich beeinträchtigt ist, soweit die Beeinträchtigung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft und der Nachteilsausgleich den Wettbewerb nicht beeinträchtigt. § 13 Abs. 1 Satz 1 JAPO dient der Sicherung des prüfungsrechtlichen Grundsatzes der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG).
9
Ein Nachteilsausgleich darf aber nur insoweit gewährt werden, als ein Prüfling aufgrund seines Leidens gehindert ist, seine tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten nachzuweisen. Nachteilsausgleich dient dem Ausgleich der durch eine Erkrankung oder Behinderung bedingten Einschränkung der Fähigkeit zur Darstellung der tatsächlich vorhandenen Leistungsfähigkeit des Prüflings, nicht dagegen dem Ausgleich einer durch die Erkrankung oder Behinderung bedingten Einschränkung der mit der Prüfung nachzuweisenden Leistungsfähigkeit selbst (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.2015 – 6 C 35.14 – juris Rn. 18 f.; BayVGH, B.v. 24.5.2023 – 7 CE 23.330 – juris Rn. 10; OVG NW, B.v. 13.7.2021 – 6 B 986/21 – juris Rn. 10; Jeremias, NVwZ 2019, 839/840 f.). Ein Nachteilsausgleich ist somit dann zu gewähren, wenn lediglich die Beeinträchtigung vorliegt, eine an sich vorhandene Leistungsfähigkeit technisch umsetzen zu können, nicht jedoch, wenn bereits die Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die jeweils geforderten Prüfungsleistungen aufgrund in der Person des Prüflings liegender persönlichkeitsbedingter Einschränkungen dem Grunde nach vermindert ist (vgl. BayVGH, B.v. 24.5.2023 a.a.O.; Quapp, DVBl 2018, 80/82). Leiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften das Leistungsbild des Prüflings prägen, sind daher nicht ausgleichsfähig. Bei einer (dauerhaften) Einschränkung der Leistungsfähigkeit kommt eine Rücksichtnahme auf persönliche Belastungen des Prüflings in Form eines Nachteilsausgleichs nicht in Betracht, wenn dieser (auch) erweisen soll, dass er mit solchen Schwierigkeiten fertig wird und mithin die Grundvoraussetzungen der durch die Prüfung zu ermittelnden Eignung für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Ausbildung besitzt (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2023 a.a.O.; OVG NW, B.v. 13.7.2021 – 6 B 986/21 – juris Rn. 12). Würde man derartige persönlichkeitsbedingte Erschwernisse berücksichtigen, führte dies prüfungsrechtswidrig dazu, durch Prüfungsvergünstigungen Leistungsschwächen auszugleichen, die für Art und Umfang der Eignung und Befähigung, die mit dem Leistungsnachweis gerade festgestellt werden sollen, von wesentlicher Bedeutung sind (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2023 a.a.O.; Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 301e m.w.N.).
10
Ob eine geltend gemachte Erkrankung die Leistungsfähigkeit eines Prüflings mindert oder lediglich zu einer Beeinträchtigung der Darstellungsfähigkeit der eigentlich vorhandenen Leistungsfähigkeit führt, lässt sich nur unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls anhand einer tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung klären, die unter Berücksichtigung der in der Prüfung abverlangten Leistungen und der späteren Anforderungen im angestrebten Beruf vorzunehmen ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2023 – 7 CE 23.330 – juris Rn. 11; NdsOVG, B.v. 22.6.20 – 2 LA 461/2021 – juris Rn. 17; VGH BW, B.v. 22.2.2021 – 9 S 556/21 – juris Rn. 5; Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, Rn. 301d).
11
Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat die Antragstellerin den geltend gemachten Anspruch auf Nachteilsausgleich durch eine Verlängerung der Schreibzeit nicht i.S.v. § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht. Gegen die Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die bei der Antragstellerin vorliegenden Beeinträchtigungen stellten eine generelle Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit dar und erschwerten nicht lediglich die Darstellung der abgeprüften Kenntnisse und Befähigungen, ist auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nichts zu erinnern.
12
a) Gegen die Feststellungen des Verwaltungsgerichts wendet die Antragstellerin ein, bei ihr liege genau nicht eine Einschränkung der abzuprüfenden Leistungsfähigkeit selbst vor, sondern sie sei krankheitsbedingt derzeit nicht in der Lage, ihre tatsächlich vorhandene und durch die Prüfung nachzuweisende Leistungsfähigkeit darzustellen. Das Verwaltungsgericht habe die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Mai 2023 – 7 CE 23.330 – (juris) und des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Juli 2021 – 6 B 986/21 – (juris) in Bezug genommen, dabei jedoch übersehen, dass der vorliegende Fall grundlegend anders liege. Im Gegensatz zu diesen Entscheidungen, die Nachteilsausgleich bei primär generalisierter Epilepsie mit Grandmal und Absencen bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie chronischer Migräne abgelehnt hätten, leide die Antragstellerin genau nicht an einer chronischen oder dauerhaften Beeinträchtigung, die ihr für immer anhafte und die deshalb ihr Leistungsbild präge bzw. die Leistungsfähigkeit dem Grunde nach vermindere und damit für das spätere Berufsleben von Bedeutung wäre. Aufgabe der Zweiten Juristischen Staatsprüfung sei es, das Maß der tatsächlich vorhandenen Eignung für die späteren juristischen Berufe zu ermitteln. Das Vorhandensein oder Fehlen von vorübergehenden erheblichen Einschränkungen oder Behinderungen am Tag X der Prüfung sei nicht Teil des abgeprüften Leistungsbilds.
13
Der Vortrag der Antragstellerin überzeugt nicht. Das Verwaltungsgericht ist auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Krankheit der Klägerin zwar um eine seit längerem bestehende, aber voraussichtlich noch nicht zu einem Dauerleiden entwickelte Gesundheitsstörung handelt, dies aber für die Gewährung von Nachteilsausgleich ohne Bedeutung ist. Einer jeglichen Prüfung ist immanent, dass die an diesem bestimmten Tag nicht abstrakt, sondern konkret vorhandene Leistungsfähigkeit des Prüflings in die Bearbeitung der Prüfungsaufgabe einfließt und damit Grundlage für die Beurteilung ist, ob der Prüfling das abgeforderte Leistungsbild erfüllt. Denn der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Prüflings liegt in Bezug auf die jeweilige Prüfungsaufgabe immer eine Momentaufnahme zugrunde. Es wird nicht abstrakt bewertet, ob der Prüfling unter besonderen oder anderen Umständen oder zu einem anderen Zeitpunkt in der Lage wäre, die an ihn gestellten Leistungsanforderungen zu erfüllen. Nicht maßgeblich ist daher, dass es sich bei der Erkrankung der Antragstellerin nicht um eine chronische oder dauerhafte Beeinträchtigung handelt, die ihr „immer anhaftet und deswegen ihr Leistungsbild prägt“. Ausweislich des amtsärztlichen Attests vom 20. Oktober 2023 sind bei der Antragstellerin „derzeit und bis auf Weiteres“ erhebliche Leistungseinschränkungen vorhanden, die konzentrative Dauerbelastbarkeit und das Durchhaltevermögen sind erheblich beeinträchtigt, die Arbeitsgeschwindigkeit ist reduziert. Die Antragstellerin benötigt mehr Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben, zur Kontrolle des Geschriebenen und zur Korrektur. Genau diese Kompetenzen sind jedoch zusammen mit dem erforderlichen fachlichen Wissen Grundlage dafür, anhand der innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von fünf Stunden erstellten Prüfungsarbeiten die Kenntnisse und die Eignung der Antragstellerin für die Ausübung ihrer späteren Tätigkeit beurteilen zu können. Jedenfalls „derzeit und bis auf Weiteres“ prägen die im amtsärztlichen Attest bescheinigten erheblichen Leistungseinschränkungen das Leistungsbild der Antragstellerin. Bestehen durch eine Krankheit bereits auf der Ebene der kognitiven Leistungsfähigkeit Beeinträchtigungen und benötigt ein Antragsteller daher mehr Zeit zur Lösungsfindung und nicht nur zur Darstellung der innerhalb der vorgegebenen Zeit gefundenen Lösung, kommt ein Nachteilsausgleich nicht in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2023 – 7 CE 23.330 – juris Rn. 19; ebenso OVG NW, B.v. 22.5.2012 – 14 E 467/12 – juris Rn.4, wonach eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung beim Denken keinen Anspruch auf Schreibzeitverlängerung begründet, weil die Denkleistung, in beschränkter Zeit eine Klausuraufgabe zu lösen, die geforderte Prüfungsleistung ist). Nicht entscheidungserheblich ist, ob die Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit sich als temporär darstellen oder ob sie als dauerhaft bestehend anzusehen sind.
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b) Die Feststellungen im ergänzenden amtsärztlichen Attest vom 16. November 2023 dahingehend, dass die Antragstellerin in der Lage sei, bei einer Prüfung einen juristischen Sachverhalt aufzunehmen, zu verstehen und eine begründete Lösung zu erstellen, dafür aber krankheitsbedingt derzeit mehr Zeit als die eigentlich vorgesehene Prüfungszeit benötige, gebieten keine andere Sicht. Maßgeblich für das zur Beurteilung stehende Leistungsbild der Antragstellerin – dessen Festlegung keine medizinische, sondern eine rechtliche Frage betrifft – wird sein, wie die individuelle Leistungsfähigkeit der Antragstellerin zum Zeitpunkt der Prüfungen in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2023/2 beschaffen ist. Wenn, wie vorliegend durch die Regelungen der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen, normative Prüfungsanforderungen eine bestimmte Leistung innerhalb einer vorgegebenen Zeit mit dem Ziel abfordern, Aufschluss über Eignung und Befähigung des Prüflings zu erlangen, dürfen diese nicht an dessen individuelle Leistungsfähigkeit angepasst werden; andernfalls würde die Prüfung ihren Zweck von vornherein verfehlen.
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c) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin steht der Versagung des Nachteilsausgleichs nicht Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG entgegen. Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die an sie gestellten Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 29.7.2015 – 6 C 35.14 – juris Rn. 15; BayVGH, U.v. 2.6.2022 – 7 B 21.349 – juris Rn. 29). Allerdings sind einheitliche Prüfungsbedingungen geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Daher steht diesen Prüflingen ein Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen im jeweiligen Einzelfall unmittelbar aufgrund des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG zu. Das Gebot der Chancengleichheit vermittelt jedoch keinen Anspruch auf eine Leistungsbewertung, die das individuelle Leistungsvermögen hinsichtlich der zu prüfenden Befähigung berücksichtigt bzw. dessen Mängel, die nicht nur die Fähigkeit zur technischen Darstellung betreffen, kompensiert (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.2015 – 6 C 35.14 – juris Rn. 20). Würde die Prüfungsbehörde Prüflingen wie der Antragstellerin, denen es zeitweilig oder dauerhaft subjektiv unmöglich ist, bestimmten Leistungsanforderungen zu genügen, Nachteilsausgleich gewähren, würde zu deren Gunsten auf die einheitliche Anwendung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung verzichtet. Eine derartige Handhabung würde im Ergebnis dazu führen, dass die Prüfungsanforderungen für diese Prüflinge im Verhältnis zu den anderen Prüfungsteilnehmern modifiziert würden und dem Gebot der Chancengleichheit zuwiderlaufen.
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Unter diesem Gesichtspunkt führt auch die Einwendung der Antragstellerin, die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts würde zu „widersinnigen und gleichheitswidrigen Ergebnissen“ führen, nicht zum Ziel. Soweit die Antragstellerin vorträgt, ein Prüfungsteilnehmer, dessen vorübergehendes Leiden so stark sei, dass ihm Prüfungsunfähigkeit attestiert werde, könne von der Prüfung zurücktreten, weil er am Tag X der Prüfung seine tatsächliche individuelle Leistungsfähigkeit nicht unter Beweis stellen könne, während ein Prüfungsteilnehmer, dessen vorübergehendes Leiden ihn zwar auch erheblich beeinträchtige, aber nicht so stark, dass die gesamte Prüfung generell unzumutbar wäre, weder zurücktreten noch Ausgleich des Leidens verlangen könne, geht der Vergleich fehl. Soweit sich die Antragstellerin mit diesem Vergleich auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation bezieht, ist die Frage, ob sie prüfungsfähig ist, nicht Gegenstand der Beurteilung, ob Nachteilsausgleich zu gewähren ist, und damit nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Verfahrens. Im Übrigen übersieht sie, dass ein von einer Prüfung zurückgetretener Kandidat diese unter den Prüfungsbedingungen zu wiederholen hat, die für alle anderen an diesem Prüfungstermin Teilnehmenden gelten, während sie die Absolvierung der Prüfung unter Gewährung von Nachteilsausgleich und damit unter gleichheitswidrigen Bedingungen begehrt.
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Die Abänderung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.1.3 und Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.