Titel:
rechtmäßige Ausweisung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln
Normenketten:
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 3
Leitsatz:
Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfebeschwerde, Ausweisung, Betäubungsmittelkriminalität, Generalprävention, Verhältnismäßigkeit, Prozesskostenhilfe, Spezialprävention, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 02.11.2023 – Au 1 K 23.750
Fundstelle:
BeckRS 2023, 35940
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger, ein 1997 geborener irakischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz insoweit erfolglosen Prozesskostenhilfeantrag für eine Klage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet durch die Beklagte mit Bescheid vom 18. April 2023 weiter.
2
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Klage gegen die Ausweisung zu Recht abgelehnt, weil keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestehen (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Ausweisung ist aller Voraussicht nach rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3
1. Soweit die Beschwerdebegründung rügt, das Verwaltungsgericht habe beim Kläger, der seit seiner Einreise im Jahr 2015 mehrfach strafrechtlich belangt und zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – Kempten vom 21. April 2021 wegen Betäubungsmittelstraftaten zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und vier Monaten (vier Fälle des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln) sowie von einem Jahr und drei Monaten (ein Fall des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln) verurteilt wurde, zu Unrecht das Vorliegen von Ausweisungsgründen angenommen, trifft dies nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat es im Hinblick auf die strafgerichtliche Entscheidung, die Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, als offen angesehen, ob beim Kläger eine Wiederholungsgefahr und damit ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse besteht. Es hat allerdings zu Recht ein generalpräventives Ausweisungsinteresse angenommen.
4
Eine Ausweisung kann regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 3). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 33 m.w.N.).
5
Gemessen daran besteht im Fall des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei den abgeurteilten Betäubungsmitteldelikten können nach allgemeiner Lebenserfahrung aufenthaltsbeendende Maßnahmen eine generalpräventive Wirkung entfalten (BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 8; U.v. 22.5.2023 – 10 B 23.99 Rn. 33 n.V.). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den Taten des Klägers nicht um einmaliges Fehlverhalten ging. Er hat vielmehr in Gewinnerzielungsabsicht über einen Zeitraum von mehreren Monaten planmäßig mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gehandelt. Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, grundsätzlich eine untere Grenze. Da der hier insbesondere im Raum stehende Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr (und bis zu 15 Jahren, § 38 Abs. 2 StGB) bedroht ist, verjährt er gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB) frühestens nach 20 Jahren. Ob eine derart lang andauernde „Aktualität“ eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses in Fällen wie dem vorliegenden tatsächlich zu bejahen ist, kann dahingestellt bleiben. Im Fall des Klägers ist jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses noch zu bejahen. Denn die letzte mit dem Urteil vom 21. April 2021 abgeurteilte Tathandlung ereignete sich im Oktober 2020 und liegt damit lediglich etwas mehr als drei Jahre zurück.
6
2. Das Verwaltungsgericht ist zudem zu Recht und von der Beschwerde nicht beanstandet davon ausgegangen, dass bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls das öffentliche Ausweisungsinteresse die privaten Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
7
Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 AufenthG und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
8
Dabei sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476).
9
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass vorliegend das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erfüllt ist und dass demgegenüber beim Kläger, der nach Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis nur noch im Besitz von Fiktionsbescheinigungen ist, kein vertyptes Bleibeinteresse im Sinne von § 55 AufenthG besteht. Auch die ergänzende Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Kläger ist ledig, kinderlos und hält sich erst seit acht Jahren im Bundesgebiet auf. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus wurde bestands- und rechtskräftig widerrufen. Gegen eine tiefergehende Integration des Klägers in die hiesigen Verhältnisse spricht insbesondere, dass er bereits vor der Verurteilung, die Anlass für die Ausweisung war, wiederholt wegen nicht unerheblicher (Gewalt-)Straftaten verurteilt wurde. Allein der Umstand, dass er aufgrund seiner Erwerbstätigkeit erfolgreich im Arbeitsmarkt integriert ist, kann das schwerwiegende generalpräventive Ausweisungsinteresse, das aufgrund seiner erheblichen Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität besteht, nicht aufwiegen.
10
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
11
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).