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VG Würzburg, Urteil v. 09.05.2023 – W 5 K 23.30125
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Abkehr vom Islam (Jemen)

Normenkette:
AsylG § 3
Leitsatz:
Ist der Abfall vom islamischen Glauben derart identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass die betreffende Person ihre atheistische Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird, droht ihr als Andersdenkender bzw. als Angehöriger einer religiösen Minderheit im Jemen eine Verfolgung aus religiösen Gründen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerber aus dem Jemen, Flüchtlingseigenschaft, zuerkannt, Jemen, Islam als Staatsreligion, Abfall vom Islam, Atheist, Scharia
Fundstellen:
InfAuslR 2023, 445
LSK 2023, 35729
BeckRS 2023, 35729

Tenor

I. Die Ziffern 1, 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für ... vom 10. Februar 2023 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

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Der Kläger ist Asylbewerber aus dem Jemen begehrt asylrechtlichen Schutz.
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1. Der nach eigenen Angaben am … … 1996 geborene Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und – wie er vorträgt – konfessionslos. Er reiste am 21. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. November 2021 einen Asylantrag.
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Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für ... am 14. Januar 2022 gab der Kläger im Wesentlichen an: Der Krieg habe ihn veranlasst, sein Heimatland zu verlassen. Er habe kein Interesse daran, zu kämpfen. Er wolle einen Ort aufsuchen, an dem man Freiheit – v.a. Religionsfreiheit – habe und wo er seine Bildung weiterbetreiben könne. Sein Leben sei im Jemen in Gefahr. Er habe eine negative Einstellung gegenüber den Houthi-Rebellen. Er sei von ihnen beeinflusst worden und auch eine Zeit lang Schiit gewesen. Seine Familienmitglieder seien sunnitische Muslime. Momentan habe er keinen Glauben mehr, wovon nur sein Bruder wisse. Sein Umfeld werde geschockt sein, denn es sei ein sehr sensibles Thema in der jemenitischen und islamischen Gesellschaft. Mit Freunden kommuniziere er darüber in den sozialen Medien. Er respektiere andere Religionen, wolle selbst aber ohne Religion in Freiheit leben. Er wolle keine Religion mehr haben, weil der Islam nichts sei, was aus dem Himmel komme, sondern vom Menschen gemacht sei.
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2. Mit Bescheid vom 10. Februar 2023 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Er habe kein konkretes, aktuelles und individuelles Verfolgungsschicksal darlegen können. Er habe zwar angegeben, dass sehr viel indirekter Druck auf ihn und andere junge Menschen ausgeübt worden sei, aber er habe nichts davon berichtet, dass es zu irgendwelchen Übergriffen gegen ihn gekommen sei. Demzufolge fehle es an der erforderlichen Verfolgungshandlung. Hinsichtlich der angeblichen Konfessionslosigkeit sei festzuhalten, dass der Kläger in seiner religiösen Haltung sehr wankelmütig gewesen sei. So habe er angegeben, dass er zunächst – wie seine Familie – sunnitischer Moslem gewesen sei und sich zunächst zum schiitischen Glauben hingezogen gefühlt habe, neuerdings jedoch generell keinen Glauben mehr habe. Der angegebenen Konfessionslosigkeit könne nicht geglaubt werden, da er nach seiner Anhörung zwei aktenkundige Bilder auf Facebook hochgeladen habe, die eine festliche Tafel und einen Kuchen mit den Jahreszahlen 1442 nach dem islamischen und 2020 nach dem gregorianischen Kalender zeigten. Er habe die Bilder damit kommentiert, dass er eine große Leidenschaft darin finde, religiöse Anlässe zu feiern, und dass diese Bilder bei einer Feier entstanden seien, die sie – somit auch der Antragsteller – im Gedenken an den Propheten abgehalten hätten. Eine Verfolgung sei auch nicht unter dem Aspekt anzunehmen, dass ihm eine Zwangsrekrutierung drohen könnte. Insoweit fehle es an einem Anknüpfungsmerkmal und auch an einer Verfolgungshandlung. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Aus dem Vortrag des Klägers ergebe sich nicht, dass ihm die Todesstrafe oder ein ernsthafter Schaden durch Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde. Eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG scheide aus. Zwar bestehe im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Es bestehe jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Betroffenen allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne Weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im Gouvernement Amanat al-Asima zwischen den verschiedenen Konfliktparteien wiesen kein so hohes Niveau an willkürlicher Gewalt auf, dass der Kläger allein durch seine dortige Anwesenheit ernsthaft und individuell bedroht wäre und sich die allgemeine Gefahr in seiner Person zum beachtlichen Risiko verdichten würde. Individuelle gefahrerhöhende Umstände seien nicht ersichtlich. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sei nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Jemen führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung individueller Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit der Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht erfüllt. Der Kläger werde bei einer Rückkehr in den Jemen in keine existenzbedrohende Lage geraten. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7
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AufenthG führen würde. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dies sei hier nicht der Fall.
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3. Am 21. Februar 2023 ließ der Kläger über den Klägerbevollmächtigten Klage erheben und sinngemäß beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für ... vom 10. Februar 2023 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jemen vorliegt.
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Zur Begründung wurde auf die Aussagen des Klägers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt verwiesen und ergänzend im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei konfessionslos und vom Islam abgefallen. Er respektiere aber alle Glaubensrichtungen und sei der Auffassung, dass Religion Privatsache zu sein habe. Er lehne Vertreter von Religionen ab, die der Auffassung seien, dass sie ihre Glaubensüberzeugungen mit Gewalt Dritten aufzwingen dürften. Unzweifelhaft drohe dem Kläger aufgrund seines Nichtglaubens bei einer Rückkehr in den Jemen sowohl von staatlichen Kräften, von den Houthis, aber auch von nichtstaatlichen Akteuren eine Verfolgung wegen seines Abfalles vom Islam. Soweit die Beklagte einwende, dass der Kläger islambezogene Bilder in sozialen Medien veröffentlicht habe, verkenne sie, dass der Kläger auch Bilder mit Bezug zum Buddhismus und zum Christentum veröffentlicht habe. Der Kläger lehne Religionen nicht generell ab, sondern befürworte deren guten Seiten und den Glauben anderer Personen. Für sich selbst habe der Kläger aber entschieden, sich keiner Glaubensrichtung mehr zugehörig zu fühlen und gerade auch nicht mehr dem islamischen Glauben anzugehören, da dieser zu viele Stellen bezüglich Gewaltausübung aus Glaubensgründen beinhalte. Zudem drohe dem Kläger wegen einer ihm drohenden Zwangsrekrutierung durch die Houthis eine Verfolgung aus politischen Gründen. Eine inländische Fluchtalternative sei nicht gegeben. Jedenfalls sei dem Kläger subsidiärer Schutz zuzusprechen, da ihm eine menschenrechtswidrige Behandlung durch die Houthis drohe. Zudem lägen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vor. Höchstvorsorglich könne der Kläger angesichts der katastrophalen humanitären und wirtschaftlichen Situation im Jemen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG beanspruchen.
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4. Das Bundesamt für ... beantragte für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die Begründung des angegriffenen Bescheids verwiesen.
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5. Mit Beschluss vom 30. März 2023 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.
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6. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat im Hauptantrag Erfolg.
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Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Die Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für ... vom 10. Februar 2023 sind daher rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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1. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Regelungen des § 3 Abs. 2 bzw. § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft etwa die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen.
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Eine Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei ist maßgeblich, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
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Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asyl-Erstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebende Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris; U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe, die Wiederholungsträchtigkeit einer solchen Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris).
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2. Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb seines Heimatlandes. Aufgrund seines Abfalls vom islamischen Glauben und seiner offenen atheistischen Weltanschauung droht ihm im Falle seiner Rückkehr in den Jemen eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Für den Kläger besteht auch keine Möglichkeit des internen Schutzes im Sinne des § 3e AsylG.
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Der Kläger hat das Gericht aufgrund des Vorbringens des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt sowie aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass sein Abfall vom islamischen Glauben mittlerweile dergestalt identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass er seine atheistische Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. Infolgedessen droht dem Kläger als Andersdenkender bzw. als Angehöriger einer religiösen Minderheit im Jemen eine Verfolgung aus religiösen Gründen.
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Seine entsprechende Darstellung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung wird durch die Erkenntnismittellage gestützt. Die Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion und die Scharia zur Quelle aller Gesetze. Sie sieht Gedanken- und Meinungsfreiheit „innerhalb der Grenzen des Gesetzes“ vor, lässt aber die Erwähnung der Religionsfreiheit aus. Das Gesetz verbietet die Herabwürdigung des Islams, die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion und Missionierungsversuche, die auf Muslime gerichtet sind, um diese zur Konversion zu einer anderen Religion zu bringen. Apostasie ist ein Kapitalverbrechen. Angeklagte haben dreimal die Möglichkeit, ihr Verhalten zu „bereuen“ [Anm. der arabische Ausdruck tawba bezeichnet wörtlich die „Rückkehr zum Islam“, „das sich Umdrehen“]; wenn sie dies tun, sind die von der Todesstrafe ausgenommen. Alle Konfliktparteien inhaftierten und folterten weiterhin Hunderte Personen allein wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Jemen, Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 31).
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Nach dem Eindruck, den das Gericht auf Grund der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, hat sich dieser – nach eingehender Beschäftigung – ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom Islam abgewandt und lebt nunmehr eine atheistische Grundhaltung. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar seine Motive dargestellt, die eine Abkehr vom bisherigen Glauben zu erklären geeignet sind und ist dabei auf einen aus seiner Sicht fehlenden Gottesbeweis, auf den aus seiner Sicht allein menschengemachten Koran und auf seine dennoch bestehende Toleranz gegenüber allen Religionen eingegangen. Die über Jahre vollzogene Entwicklung, welche in einer Abkehr des Klägers vom Islam mündete, ist plausibel dargestellt worden. Nach seiner glaubhaften Einlassung wird er im Fall einer Rückkehr in den Jemen nicht zum Islam zurückkehren. Aus den Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass er seine atheistische Glaubensüberzeugung nicht verbergen kann und deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Dritten auch als Atheist wahrgenommen wird. Dementsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tatsache des Abfalls des Klägers vom islamischen Glauben bei seiner Rückkehr in den Jemen nicht bekannt werden würde. Für den Kläger dürfte es praktisch unmöglich sein, sich an Zusammenkünften mit Muslimen zu verweigern, ohne sich als Abtrünniger vom Islam zu offenbaren. Der Kläger machte auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung nach seinen Einlassungen insgesamt einen sehr glaubwürdigen und authentischen Eindruck. Seine Antworten auf die Fragen des Gerichts waren stets spontan und ohne Zögern. An keiner Stelle drängte sich dem Gericht der Eindruck auf, dass der Kläger in seinen Aussagen inhaltlich übertrieben, sondern stets in jeder Hinsicht wahrheitsgemäß von tatsächlichen eigenen Überzeugungen und Erlebnissen berichtet hat. Der Kläger erschien dem Gericht daher auch persönlich glaubwürdig.
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Für das Gericht bestehen nach alledem keine Zweifel daran, dass der Kläger über einen längeren, bereits in seinem Heimatland begonnenen Prozess hinweg aus einer festen, ernstgemeinten und inneren Überzeugung eine atheistische Glaubensüberzeugung i.S.d § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG angenommen hat und er sein Leben danach ausrichtet.
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Gründe, die der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht zu erwarten, dass der Kläger im Jemen Schutz vor der ihm drohen Verfolgung nach § 3d AsylG finden würde. Auch kann der Kläger nicht gemäß § 3e AsylG auf eine interne Fluchtalternative verwiesen werden. Die bereits geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen im Jemen landesweit.
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3. Nachdem beim Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegen, steht ihm im Ergebnis der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
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4. Die Entscheidungen unter Nr. 3 und Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids sind gegenstandslos und aufzuheben (vgl. VG Freiburg, U.v. 24.9.2020 – A 9 K 6070/17 – juris Rn. 83 ff. m.w.N.). Weiterhin erweisen sich die im angegriffenen Bescheid enthaltenen Nebenentscheidungen hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6) als rechtswidrig und sind aufzuheben.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.