Inhalt

OLG München, Beschluss v. 28.06.2023 – 12 UF 433/23 e
Titel:

Doppelte Kindeswohlprüfung vor Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf ein Elternteil 

Normenketten:
BGB § 1671 Abs. 1 Nr. 2, § 1697a
FamFG § 7, § 21, § 30 Abs. 3
DSGVO Art. 21
Leitsätze:
1. Die Beschwerdeinstanz stellt eine neue Tatsacheninstanz dar, in der der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit zu beachten ist. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Aussetzung des familiengerichtlichen Verfahrens wegen vor dem Verwaltungsgericht eingeklagter Verstöße gegen die DSGVO durch Jugendamt und Fachstellen ist nicht erforderlich, wenn diese Frage nicht vorgreiflich für das Verfahren zu beantworten ist, insbesondere weil deren frühere Berichte für das Verfahren nicht relevant sind. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Verfahren der Beschwerde gegen eine Entscheidung des Gerichts zur Übertragung der elterlichen Sorge auf ein Elternteil ist nicht zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Verbringens des Kindes zu dem umgangsberechtigten Elternteil eine Kindeswohlgefährdung vorlag, sondern allein maßgebend ist der Erkenntnis- und Sachstand ausgerichtet am Kindeswohl zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
4. Grundlage für eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge ist eine doppelte Kindeswohlprüfung: Sowohl die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge als auch die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf einen Elternteil müssen dem Kindeswohl am besten entsprechen. (Rn. 50 – 69) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, vor der Entscheidung zur Übertragung der elterlichen Sorge auf einen Elternteil auch zu prüfen, ob nicht nur die Übertragung von Teilbereichen in Betracht kommt. (Rn. 70) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Willkürverbot, rechtliches Gehör, formale Verfahrensfehler, Kindeswohlgefährdung, doppelte Kindeswohlprüfung, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Einigungsunfähigkeit der Eltern, Kontinuität für das Kind
Vorinstanz:
AG Ingolstadt, Beschluss vom 30.03.2023 – 006 F 1266/21
Rechtsmittelinstanz:
VerfGH München, Entscheidung vom 15.11.2023 – Vf. 33-VI-23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 35583

Tenor

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 14.04.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30.03.2023 wird zurückgewiesen.
2. Im Übrigen werden Anträge, soweit sie sich auf Verstöße gegen die DSGVO beziehen, verworfen.
3. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
4. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,00 € festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Antragsgegnerin wendet sich mit der Beschwerde gegen die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für K. F. auf den Antragsteller.
2
Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern des Kindes K., geb. … 2017. Sie waren nicht verheiratet und leben dauerhaft getrennt. K. ging aus einer kurzen Beziehung hervor. Die Mutter lebt und arbeitet in M. K. hatte seit seiner Geburt bis zum …2021 seinen Aufenthalt bei der Mutter. Der Vater lebt mit seiner Lebensgefährtin und dem Sohn A. aus dieser neuen Beziehung in I. Die Beteiligten hatten die gemeinsame elterliche Sorge für K., welche im Verfahren vor dem Amtsgericht München Az:. 534 F 12212/19 eingerichtet wurde.
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Die Beziehung der Antragstellerin und des Antragsgegners war in der Vergangenheit sehr konfliktreich. Die Einrichtung eines regelmäßigen Umgangs zwischen Vater und Sohn gestaltete sich schwierig. Bis März 2020 hatte der Antragsgegner unregelmäßig Umgang mit K. Ab März 2020 kam es zu Schwierigkeiten hinsichtlich eines weiteren Umgangs. Die Antragsgegnerin verlangte ein psychiatrisches Gutachten vom Antragsteller und Drogentests. Die Umgänge erfolgten unter Vermittlung des Jugendamtes und mit Begleitung, da die Antragstellerin einen unbegleiteten Umgang des Kindes mit dem Antragsgegner ablehnte. Die eingesetzte Umgangsbegleiterin Frau G. äußerte sich in ihrem Abschlussbericht vom 12.06.2020 positiv zu den Umgängen und der Vater-Sohn-Beziehung. Die Antragstellerin hingegen müsse auf ihre Erziehungsfähigkeit hin untersucht werden und es müsse eine psychiatrische Abklärung ihrerseits erfolgen. Die Antragstellerin sabotiere Umgänge, sei manipulativ und bindungsintolerant. Im Rahmen des Umgangsverfahrens berichtete Frau S., Fachberatung der Kita, die K. besuchte, bereits im Juni 2020, dass K. ein liebevolles Verhältnis zum Vater habe.
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Sie mache sich jedoch Sorgen um die psychische Entwicklung des Kindes, da die Antragstellerin nach jedem Umgang mit dem Vater K. befrage und eine Aufnahme mache. Die Antragstellerin sei nicht offen für pädagogische Hilfen. Der Mutter fehle die Empathie für die Bedürfnisse ihres Kindes und sie beeinflusse die Vater-Kind-Beziehung negativ. Am 02.12.2020 erfolgte eine weitere Gefährdungsmeldung durch die Kindertagesstätte an das Jugendamt. Das Verhalten der Antragstellerin stelle auf längere Sicht in erheblichem Maß eine Gefährdung für die gesunde und altersgemäße Entwicklung von K. dar. K. zeige erneut, wie bei einer bereits zuvor erfolgten Gefährdungsmeldung, auffälliges und aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern. Die Mutter sei zu einem konstruktiven Austausch hierüber nicht bereit und suche die Schuld allein beim Vater. Sie vertrete die Auffassung, dass selbst wenn K. Probleme nicht per se beim Vater lägen, so müsse das Kind wohl krank sein und Borderliner sein, wie sein Vater. Sie kommuniziere vor dem Kind, dass der Vater sich nicht für ihn interessiere, weil er jetzt eine andere Familie habe. Oft boykottiere sie die Umgangswochenenden des Vaters, indem sie das Kind vorher abhole und dem Vater nicht übergebe. Sie bringe K. teilweise nur noch 3 Tage die Woche in die Kita. Dadurch habe es K. schwerer, Anschluss an das Gruppengeschehen zu finden. Eigene Anteile an den Auffälligkeiten ihres Sohnes sei sie nicht in der Lage zu erkennen. Sie gefährde nicht nur die Vater-Sohn-Beziehung, sondern auch die altersgemäße Entwicklung ihres Sohnes.
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Mit Beschluss vom 10.12.2020 regelte das Amtsgericht München unter Az.: 534 F 4460/20 einen erweiterten Umgang des Antragsgegners mit K. von Donnerstagnachmittag bis zum Montagmorgen. Zudem erfolgte eine Ferienregelung. In seiner Entscheidung wies das Gericht explizit darauf hin, dass die Erziehungsfähigkeit der Mutter gegebenenfalls gesondert zu prüfen sei und abzuwarten sei, inwieweit sie die Gefährdungsmeldung ernst nehme und Vorschläge des Jugendamts annehme In ihrer Beschwerde gegen den Beschluss wies die Antragstellerin die Gefährdungsmeldung als fehlerhaft und oberflächlich zurück. Die Antragstellerin wirft dem Antragsgegner vor (auch aktuell), er habe K. geschlagen und zeige Symptome einer Borderline Erkrankung. Zudem habe er in der Vergangenheit Drogen und zu viel Alkohol konsumiert. Die zuständige Richterin am Amtsgericht habe K. am 20.10.2020 bei der Kindesanhörung nicht hinreichend befragt. Die Antragstellerin habe dies nachgeholt im Auto nach der Anhörung und aufgezeichnet. K. habe ihr geschildert, wie der Vater ihm seine Giraffe weggenommen habe und in den Müll geworfen habe und ihn geschlagen habe. Der Vater sei für unbegleitete Umgänge nicht geeignet.
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Am 19.03.2021 zeigte das Jugendamt M. eine erneute Gefährdung des Kindes an. Das Kind zeige im Kindergarten starke Auffälligkeiten. K. haue, beiße und zwicke andere Kinder. Er behaupte stur, andere Kinder würden ihn schlagen. Die Antragstellerin vertrete die Auffassung, dass K. sich nur verteidige. Montags bringe der Vater K. um 8.00 h in die Kita und die Mutter hole ihn um 9.00 h zu sich nach Hause. Die Mutter berücksichtige nicht die Bedürfnisse des Kindes. Das Jugendamt wirkte darauf hin, dass der Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht für K. beantragt und das Kind zu sich nimmt. Der Vater beantragte vor dem Amtsgericht München im Wege der einstweiligen Anordnung die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Er holte am 19.03.2021 am Freitagvormittag auf Anregung des Jugendamtes K. vom Kindergarten ab und nahm ihn mit. Seither lebt K. in I. beim Antragsteller und dessen Familie. Er hat noch einen kleinen Bruder. Mit Beschluss vom 22.04.2021 übertrug das Amtsgericht München im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für K., geb. …2017 auf den Antragsgegner. Der Antrag der Antragstellerin auf Herausgabe des Kindes wurde zurückgewiesen. Die über das Aufenthaltsbestimmungsrecht hinausgehende Personensorge für das Kind K. wurde auf den Antragsgegner übertragen. Eine weitere Übertragung wurde zurückgewiesen. Zur Begründung stützte sich das Amtsgericht auf die mangelnde Bindungstoleranz der Antragstellerin und eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit. Die Übertragung erfolgte nach § 1671 BGB.
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Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Mutter wurde mit Beschluss des OLG München vom 28.06.2021 (Az. 12 UF 548/21) zurückgewiesen.
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Das weitere Hauptsacheverfahren wurde vor dem Amtsgericht I. geführt, da K. seither bei seinem Vater mit seinem Halbbruder und der Lebensgefährtin seines Vaters in I. lebt. Er geht dort in den Kindergarten und wird ab September die Grundschule besuchen. Ein Kontakt mit der Mutter hat seit 19.03.2021 nicht stattgefunden. Die Antragsgegnerin hatte zunächst vor dem Amtsgericht angegeben, keinen Umgangsantrag stellen zu wollen, da dies eine Schuldumkehr zur Folge hätte. Tatsächlich müsse sich jedoch der Vater in Zukunft für den Kontaktabbruch gegenüber K. rechtfertigen. Dennoch gab sie im Laufe des Verfahrens an, Umgang zu wollen, so dass schließlich ein Umgangsverfahren von Amts wegen eingeleitet wurde. Einen begleiteten Umgang, organisiert durch das Jugendamt, lehnte die Antragsgegnerin bisher ab. Hinsichtlich des Umgangsverfahrens ist ein weiteres Beschwerdeverfahren unter Az. 12 UF 261/ 23 vor dem OLG München anhängig.
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Der Antragsteller beantragte am 13.09.2021 die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens vor dem Amtsgericht I. und beantragte die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge.
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Zur Begründung gab er an, dass die Kommunikation mit der Antragsgegnerin die letzten Jahre ersichtlich nicht möglich sei. Es gebe keine Basis für eine gemeinsame elterliche Sorge. Diese diene nicht dem Wohl des Kindes, sondern behindere und gefährde K. in seiner Entwicklung.
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Er nahm Bezug auf 4 Meldungen der Kindeswohlgefährdung, auf Berichte der Umgangsbegleitung und der Kita, sowie Stellungnahmen von Jugendamt und bisherigem Verfahrensbeistand in M. Rechtsanwalt T.-J.
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Der Antrag des Vaters sei nicht begründet. Sie bestreite eine Behinderung und Gefährdung des Kindes in ihrer Obhut sowie alle Berichte des Jugendamtes, des bisherigen Verfahrensbeistandes und vertritt die Auffassung, dass insofern eine unrechtmäßige Datenerhebung ohne ihre Zustimmung erfolgt sei. Insofern hat sie ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht gegen die Datenerhebung durch das Jugendamt anhängig gemacht. Eine Entscheidung in diesem Verfahren wurde bisher nicht vorgelegt. Den Berichten lägen unwahre Behauptungen Dritter zugrunde, die nicht bewiesen werden könnten. Der Vater stelle seine Bedürfnisse über die des Kindes, lasse Telefonate von ihr mit K. nicht zu. Seit März 2021 rufe sie alle 2 – 4 Tage an, ohne Erfolg. Die Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz des Vaters sei damit widerlegt. Der Vater habe nötige U-Untersuchungen erst auf Druck veranlasst. Er habe K. seit dem Verbringen nach Ingolstadt bereits beim zweiten Kindergarten angemeldet und dadurch K. unnötig belastet. Es gebe keine Kontinuität beim Vater. Dagegen sei K. 4 Jahre bei der Mutter aufgewachsen. Die Antragsgegnerin behauptet, der Vater habe K. im März 2021 allein zuhause gelassen, nachdem er ihn gehauen habe. K. habe im März 2020 gesagt, der Vater habe ihn gehauen, deshalb habe sie ihn so intensiv befragt. Er sei stundenlang allein gelassen worden. Der Vater habe ihm sein Kuscheltier, eine Giraffe, weggenommen. Er habe im Kindergarten eingenässt nach Umgang beim Vater. Es habe ein Komplott von Vater/ Jugendamt und Fachstellen gegen sie gegeben. Sie denke, der Vater habe eine Borderline-Störung. Sie habe sich dazu umfassend informiert. Der Vater sei ein notorischer Lügner und die Tonaufnahmen von K. seien nur ein verzweifelter Versuch, Beweise zu sichern, um K. zu helfen. Sie verlange eine förmliche Beweisaufnahme hinsichtlich der unwahren Behauptungen der Fachstellen und ihres Sachvortrages.
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Das Amtsgericht gab ein familienpsychologisches Gutachten in Auftrag zur Klärung der Frage, welcher Elternteil insbesondere unter Berücksichtigung der gefühlsmäßigen Bindungen des Kindes, der eigenen Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz sowie der jeweils angestrebten Perspektiven für das eigene Leben und das Leben des Kindes besser in der Lage ist, das Kind zu betreuen und zu erziehen: Die Antragsgegnerin verweigerte eine Teilnahme an der Begutachtung durch den beauftragten Sachverständigen Dr. S. Ein Gespräch mit der für K. eingesetzten Verfahrensbeiständin, Rechtsanwältin I., lehnte sie ab. Eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in I. lehnte sie ebenfalls ab. Sie bestand auf einer vom Jugendamt zu unterzeichnenden Erklärung zum Datenschutz und zur Datenverarbeitung. Ohne Unterschrift des Jugendamtes verweigerte sie eine Zusammenarbeit. Frau R. vom Jugendamt gab lediglich im Anhörungstermin vor dem Amtsgericht I. am 22.10.2021 an, dass K. sich gut eingelebt habe.
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Im erstinstanzlichen Verfahren wurden mehrfach Befangenheitsanträge der Antragsgegnerin gestellt sowie Beschleunigungsrügen erhoben, über welche letztlich in der Beschwerdeinstanz vor dem OLG München entschieden wurden. Infolgedessen verzögerte sich die Entscheidung des Amtsgerichts.
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Der Sachverständige Dr. S. gab am 18.11.2022 eine vorläufige Einschätzung ab, ergänzt am 28.11.2022 durch eine Stellungnahme zu einem Befangenheitsantrag der Antragsgegnerin sowie ergänzt am 14.12.2022. Der Befangenheitsantrag bezüglich des Sachverständigen wurde durch Beschluss vom 29.11.2022 zurückgewiesen. Der Sachverständige führte im Wesentlichen aus, dass er lediglich eine vorläufige Einschätzung abgeben könne, da die Antragsgegnerin nicht mitgewirkt habe. Die vorläufige Einschätzung erfolgte auf Grundlage der Gerichtsakten sowie der vom Sachverständigen erhobenen Daten und der aktuellen Lebenssituation des Kindes K. Der Sachverständige beschrieb K. als altersgerecht entwickeltes, kluges, emotional ausgeglichenes Kind, das in familiärer Gemeinschaft von Vater, Stiefmutter und Halbbruder völlig integriert sei. Er schilderte, dass K. keine konkrete Erinnerung mehr an das Leben mit seiner Mutter habe. K. sei sicher gebunden in seiner heutigen Familie und sei selbst eine bedeutsame Bezugsperson für seinen Halbbruder. Aufgrund der vergangenen Zeit seit dem tatsächlichen Zusammenleben mit der Mutter sei davon auszugehen, dass die leibliche Mutter für K. keine vertraute Bezugs- oder gar Bindungsperson mehr darstelle. Einzig der Verbleib des Kindes K. im Haushalt des Vaters sei derzeit am Kindeswohl orientiert. Eine Trennung von seinen zentralen Bezugspersonen würde eine enorme psychische Belastung für K. darstellen. Es sei nicht absehbar, ob die Bedingungen bei Mutter entsprechend günstig wären.
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Alle Beteiligten wurden erstinstanzlich zuletzt am 21.11.2020 angehört. K. wurde zuletzt am 05.09.2022 angehört.
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Die Verfahrensbeiständin hatte bereits am 21.10.2021 berichtet Mit Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30.03.2023 wurde dem Vater die alleinige elterliche Sorge für K. übertragen. Der Antrag der Mutter wurde zurückgewiesen.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 14.04.2023.
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Das Verfahren leide an wesentlichen Mängeln. Hierzu nimmt sie Bezug auf Sachvortrag in den Verfahren 261/23 und 337/23. Das Jugendamt sei die ganze Zeit anwesend gewesen beim Anhörungstermin vor dem Amtsgericht, nicht nur zur eigenen Stellungnahme. Es sei aber kein Beteiligter nach § 7 FamFG, daher liege ein Verstoß gegen die Nichtöffentlichkeit vor. Es gebe keine Rechtsgrundlage für die Anwesenheit des Jugendamtes in Verfahren nach § 1671 BGB.
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Sie sei durch die Entscheidung in ihrem Grundrecht nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. (Hierzu erfolgt eine abstrakte Abhandlung zu Ablehnung und gesetzlichem Richter, auf die verwiesen wird). Im Beschluss vom 30.03.2023 sei die Richterin davon ausgegangen, dass die Antragsgegnerin ihr Ablehnungsgesuch allein auf die willkürliche Anwendung des § 21 FamFG gestützt habe und willkürliche Kostenfestsetzung. Den 6 Befangenheitsgesuchen werde damit nicht Rechnung getragen.
21
Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt, da das Gericht das tatsächliche Vorbringen der Antragsgegnerin nicht zur Kenntnis genommen habe. Das Gericht habe ausdrückliches Bestreiten von Tatsachen durch die Antragsgegnerin übergangen. Weder vermutete Bindungsintoleranz gegenüber dem Vater noch gefährdendes Verhalten der Mutter habe nachgewiesen werden können. Der Vater habe keine Beweise eingebracht. Eine förmliche Beweisaufnahme sei nicht erfolgt. Die Nichtberücksichtigung der einschlägigen Norm § 30 Abs. 3 FamFG habe eine willkürliche, offensichtlich unhaltbare Entscheidung zur Folge. Damit liege ein Verstoß gegen das Willkürverbot vor.
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Das Amtsgericht I. habe fälschlicherweise angenommen, dass die Aussetzungsvoraussetzungen gem. § 21 FamFG nicht vorlägen. Die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung durch das Jugendamt sei gerichtlich vor dem Verwaltungsgericht zur Überprüfung gestellt worden. Der Ausgang dieses Verfahrens hätte abgewartet werden müssen.
23
Als gewichtiger Grund für eine Aussetzung komme auch in Betracht, wenn der umgangsberechtigte Elternteil seinen Unterstützungsanspruch vor dem Verwaltungsgericht einklagen müsse. Es sei unverhältnismäßig, den Umgang für ein Jahr auszuschließen.
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Das Rechtsverhältnis Gültigkeit der Datenschutzerklärung Art. 21 DSGVO für das Jugendamt habe das Familiengericht nicht geklärt. Dies hätte vor einer Entscheidung geklärt werde müssen. Damit läge ein Verstoß gegen das Willkürverbot vor.
25
Das Amtsgericht habe sich nicht auseinandergesetzt mit einer Verfügung des Aktenversandes nach München, obwohl bereits Akteneinsicht in Ingolstadt vereinbart gewesen sei.
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Die Richterin habe die Zustellung des Gutachtens Teil II vom 14.12.2023 nicht an sie verfügt.
27
Zur Bindungsintoleranz habe sie nicht Stellung nehmen können.
28
Es läge eine willkürliche Kostenverteilung vor.
29
Das Misstrauen gegenüber der Richterin wirke sich in allen Verfahren aus; eine Ablehnung ihrer Befangenheitsanträgen wegen Unzulässigkeit scheide aus Persönliche Daten der Antragsgegnerin erhoben durch die Verfahrensbeiständin Ilm seien zu schwärzen; diese dürfe nur nach Art. 6 lit.e) DSGVO Daten verarbeiten, sie habe Widerspruch eingelegt. Die Antragsgegnerin beantragt die Unrechtmäßigkeit der Datenverarbeitung durch JA und Verfahrensbeistand festzustellen Ihr Sachvortrag zu Datenschutzverletzungen und Beweisverwertungsverbot sei nicht beachtet worden. § 80 VwGO sei ignoriert worden.
30
Antragsgegnerin verlangt eine förmliche Beweisaufnahme nach § 30 FamFG für folgendes Bestreiten:
- JA habe keine Gefährdung des Kindes angezeigt am 19.03.2021 – Kind habe nie Auffälligkeiten im Kindergarten gezeigt; gab lediglich Stellungnahme zum Stand Beratungsprozess
- Gab kein Verfahren nach § 1666 BGB oder Anregung JA zur Einleitung;
- JA hatte nie Antrag auf Beteiligung am Verfahren gestellt und hatte nie Antragsrecht
- Gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge behindere oder gefährde nicht die Entwicklung des Kindes; keine Anhaltspunkte
- Lasse sich nicht an Kommunikation der Mutter ableiten
- Es sei kein wissenschaftlich detailreiches Gutachten erstellt worden, das die Frage der Bindungstoleranz beantwortet hätte
- Wird bestritten, dass Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl mehr entspreche; nur durch gemeinsame elterliche Sorge könne den Defiziten des Vaters entgegengewirkt werden
- Bestreitet, dass Vater besser in der Lage sei, Sorgerecht auszuüben (Umgangsboykott, gesundheitliche Vernachlässigung!)
- Es gebe keinen nachhaltigen, tiefgreifenden Elternkonflikt
- Wird bestritten, dass keine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern, habe es vor 2021 gegeben und könne es wieder geben
- Bestreitet schwerwiegende und nachhaltige Störung auf Kommunikationsebene und Unfähigkeit zu gemeinsamen Entscheidungen sei in den letzten 2 Jahren in keine Entscheidung eingebunden worden; lediglich Kontaktabbruch durch Passivität des Amtsgerichts Ingolstadt; Vater habe lediglich Verlustängste und sei deshalb zum Lügen gezwungen
- Vater habe nicht mitgeteilt, wie Schulvoruntersuchung verlaufen sei; er erteile keine wahrheitsgemäßen Auskünfte zum Gesundheitszustand
- Sie lehne Hilfsangebote JA nicht ab, aber seit 2 Jahren keine Datenschutzerklärung vorgelegt
- Bestreitet, dass Vater Einblick in Sorgen und Nöte des Kindes habe, sei selbst emotional instabil, keine Empathie für andere, Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse im Vordergrund aufgrund seiner Infantilität; er halte Kind abhängig und manipuliere es; keine sichere Bindung Vater-Sohn
- Bestreitet, dass sie zahlreich angerufen habe; Vater angegeben, dass er sie blockiert habe; wird bestritten, dass angerufen; sie bietet Datenträger an zum Beweis, dass er Anrufe nicht angenommen hat
- Förderprinzip spreche nicht für den Vater; er habe keine Nachweise dafür erbracht
- Vater habe Kind vernachlässigt und Aufsichtspflicht verletzt; Beweis Audiodatei auf DVD
- Gab nie Inobhutnahme, sondern Vater nahm Kind vom Kindergarten mit und brachte es in ein anderes Land, um Kontinuität zu ertrotzen
- Antragsgegnerin zu begleitetem Umgang bereit, wenn JA Gültigkeit der DSGVO und Widerrufsrecht anerkennt
- Gab zu keiner Zeit Inobhutnahme des Kindes oder Anzeige durch JA nach § 8 a SGB VIII an Gericht
31
Die Antragsgegnerin beantragt,
dass der Sachverständige die Akte 051 F 123/22 einsieht und auf Auffälligkeiten des Vaters und Gewohnheitslügen prüft zur Überprüfung und Bestätigung einer These der Antragsgegnerin. Das Gutachten sei nicht aussagekräftig und unverwertbar, da die Antragsgegnerin nicht teilgenommen habe. Der Sachverständige tilge und leugne bewusst eine Persönlichkeitsstörung des Vaters.
32
Die Antragsgegnerin beantragte
die Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30.03.2023 und Antragsabweisung sowie Übertragung der elterlichen Sorge auf sich. Zudem stellte sie im Anhörungstermin zuletzt vor dem OLG folgende Anträge:
Die Feststellung, dass der Sachverständige keinen Nachweis zur rechtmäßigen Datenverarbeitung bringen konnte gem. Art. 5 und 35 DSGVO.
Feststellung, dass die Verfahrensbeiständin erstinstanzlich einen Schriftsatz vom 21.10.2021 aufgrund unrechtmäßiger Datenverarbeitung gelöscht habe, dies aber dem Gericht nicht nach Art. 19 DSGVO mitgeteilt hat.
33
Sie beantragt
die Verletzung von Rechten nach Art.6, 8 EMRK und Art. 7,8, 24 und 47 Grundrechtcharta festzustellen.
34
Der Antragsteller beantragte
die Zurückweisung der Beschwerde.
35
Das Jugendamt teilte am 15.05.2023 mit, dass es am Anhörungstermin nicht teilnehmen werde. Die Antragsgegnerin habe von Anfang an eine ablehnende Haltung eingenommen. Es hätten daher keine Gespräche stattgefunden.
36
K. wurde durch den Senat am 28.06.2023 angehört. Er gab an; dass er sich an seine Mutter nicht mehr erinnere und auch nicht an M. Er möchte seine Mutter sehen. Beim Vater geht es ihm gut. Er fühlt sich dort wohl und mag seinen Halbbruder A. und die Lebensgefährtin seines Vaters. Er ist gerne draußen und fährt gerne Skateboard.
37
Anschließend erfolgte ein Anhörungstermin mit den Eltern und der Verfahrensbeiständin. Der Sachverständige Dr. S. erstattete sein Gutachten und beantwortete ausführlich alle Fragen der Verfahrensbeteiligten.
II.
38
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt ist zulässig nach §§ 58 ff FamFG. In der Sache ist die Beschwerde unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für K. auf den Antragsteller nach § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegen unzweifelhaft vor.
1. Formale Verfahrensfehler
39
Formale Fehler, die erstinstanzlich nach Auffassung der Antragsgegnerin erfolgt sein sollen und zur Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses führen sollen und gegebenenfalls zur Zurückverweisung führen sollen, liegen nicht vor.
40
Die Antragsgegnerin trägt vor, dass Jugendamt und Sachverständiger erstinstanzlich im Anhörungstermin zugelassen waren, auch nach deren bereits erfolgten Stellungnahme, so dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit vorliege. Die Beschwerdeinstanz stellt eine neue Tatsacheninstanz dar, in der dieser Grundsatz beachtet wurde, so dass dieser Umstand nicht zu einer Aufhebung und Zurückverweisung führt. Der Senat hat den Sachverhalt umfassend nochmals in eigener Zuständigkeit aufgeklärt. Das Jugendamt war nicht anwesend, da die Antragsgegnerin das Jugendamt wegen angeblicher Datenschutzverstöße verklagt hat, so dass das Jugendamt von einer Teilnahme am Anhörungstermin abgesehen hat. Die Verfahrensbeiständin vertritt die Interessen des Kindes und hat während des gesamten Anhörungstermins ein Anwesenheitsrecht. Entsprechend nahm sie am Anhörungstermin durchgehend teil. Der Sachverständige Dr. S. war nur zur Erstattung seines Gutachtens und zur Beantwortung weiterer Fragen anwesend und wurde im Anschluss entlassen.
41
Die Antragsgegnerin erhebt den Einwand, dass über ihre Beschwerde gegen die Ablehnung eines Befangenheitsantrag durch die erstinstanzlich zuständige Richterin erstinstanzlich vom 11.04.2023 bisher nicht entschieden worden sei. Eine Beschwerde ist beim OLG diesbezüglich bisher nicht eingegangen. Darüber wäre in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden. Dies hat jedoch keine Auswirkungen auf das Verfahren in der Beschwerdeinstanz. In der Beschwerdeinstanz erfolgt eine eigene Bewertung der Voraussetzungen für die Übertragung der elterlichen Sorge durch die in der Beschwerdeinstanz zuständigen Richter.
42
Soweit die Antragsgegnerin bemängelt, dass zu einzelnen Tatsachen keine förmliche Beweisaufnahme erfolgt sei, so sind die Tatsachen, über welche Beweis erhoben werden soll, im Zeitpunkt der Beschwerdeinstanz nicht mehr entscheidungsrelevant, da sie den Umgang des Vaters mit K. vor März 2021 betreffen. Hierzu wird unten näher ausgeführt. Zudem stellt die Einholung eines Sachverständigengutachtens eine förmliche Beweisaufnahme dar. Der Sachverständige Dr. S. hat sich bei Erstellung seines Gutachtens auf keinen der Umstände gestützt, über die die Antragsgegnerin förmlichen Beweis erheben möchte. Dies hat er nochmals im Anhörungstermin vom 28.06.2023 vor dem OLG ausdrücklich dargestellt, dass die subjektive Sicht der Antragsgegnerin zu Vorfällen während der Beziehung mit dem Antragsteller oder Angaben des Antragstellers zu Verhalten der Antragstellerin in der Vergangenheit keine Rolle bei der Erstellung seiner vorläufigen sachverständigen Einschätzung gespielt haben. Grundlage ist allein sein eigener Eindruck anlässlich eines ausführlichen Gesprächs mit dem Antragsteller in seiner Praxis von ca. 3 Stunden sowie eines Hausbesuchs in Anwesenheit aller Familienmitglieder von ca. 2,5 Stunden und seine Erkundigungen in Nachbarschaft und Kindergarten, also einzig und allein die aktuelle Situation, wie sie sich für K. darstellt.
43
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin war auch eine Aussetzung des familiengerichtlichen Verfahrens wegen vor dem Verwaltungsgericht eingeklagter Verstöße gegen die Datenschutzgrundverordnung durch Jugendamt und Fachstellen nicht erforderlich, da diese Frage nicht vorgreiflich für das Verfahren zu beantworten ist. Die früheren Berichte der Fachstellen und des Jugendamtes sind für das Verfahren nicht relevant. Zudem wurden die Berichte nicht explizit benannt, die vorgreiflich relevant sein sollen. Die früheren Jugendamtsberichte und Berichte der damaligen Umgangsbegleiter waren nicht Gegenstand der Erörterung im Anhörungstermin vom 28.06.2023 und sind nicht relevant für die Sorgerechtsentscheidung nach § 1671 BGB.
44
Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens hatte die Antragsgegnerin mehrfach Akteneinsicht, so dass sie auf alle Schriftstücke Zugriff hatte, die für das Verfahren relevant wurden. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt somit nicht vor, auch wenn möglicherweise erstinstanzlich Schriftstücke nicht übersandt wurden. Zudem hatte sie im Anhörungstermin vor dem OLG, der von ca. 13.30 bis ca. 20.30 h dauerte, ausreichend Gelegenheit ihren Standpunkt zu juristischen, medizinischen und psychologischen sowie psychiatrischen Fragen darzulegen. Sie hatte über Stunden Gelegenheit dem Sachverständigen Fragen zu stellen und ihre eigene Expertise hierzu vorzutragen.
45
Der Senat kann somit keine Verfahrensfehler erkennen, die nicht in der Beschwerdeinstanz zumindest geheilt worden wären, als neuer Tatsacheninstanz.
2. Materielle Voraussetzungen für die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge
46
Unter Berücksichtigung der eingereichten Schriftsätze, der gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. sowie der Stellungnahme der Verfahrensbeiständin Ihm sowie der Anhörung der Beteiligten, insbesondere auch des Kindes K., entspricht die Übertragung der alleinigen elterliche Sorge auf den Antragsteller im Zeitpunkt der Entscheidung im Beschwerdeverfahren dem Kindeswohl am besten, § 1671 Abs. 1 Nr. 2, 1697 a BGB. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass frühere Berichte zu Umgängen des Antragstellers mit K. bzw. frühere Jugendamtsberichte als Grundlage für die hier zu treffende Entscheidung nicht verwendet wurden und auch nicht maßgeblich sind.
47
Im hiesigen Beschwerdeverfahren ist nicht zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Verbringens von K. nach I. eine Kindeswohlgefährdung vorlag und ob die erfolgte einstweilige Anordnung rechtmäßig war. Maßgebend ist allein die Entscheidung über das Sorgerecht im jetzigen Zeitpunkt nach dem jetzigen Erkenntnis- und Sachstand ausgerichtet am Kindeswohl.
48
Soweit Tatsachen geschaffen wurden durch die einstweilige Anordnung in 2021 ist zwar zu berücksichtigen, dass durch eine gegebenenfalls unrechtmäßige Veränderung des Aufenthaltsortes eines Kindes keine Tatsachen geschaffen werden sollen hinsichtlich der Kontinuität des Aufenthalts eines Kindes. Letztlich muss jedoch auch im Falle einer gegebenenfalls unrechtmäßigen Veränderung des Aufenthaltsortes eines Kindes im Zeitpunkt der aktuell zu treffenden Entscheidung das Kindeswohl berücksichtigt werden. K. lebt nun seit 2 Jahren in I., so dass allein ein unrechtmäßiges Verbringen seine Zurückführung nach M. in den Haushalt der Mutter nicht rechtfertigen könnte.
49
Grundlage für eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge ist eine doppelte Kindeswohlprüfung. So muss die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl am besten entsprechen. Zudem muss auch die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf einen Elternteil dem Kindeswohl am besten entsprechen. Schließlich ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen.
50
2.1 Die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist vorliegend erforderlich, um die Belange des Kindes K. zu schützen.
51
Für den Fortbestand der gemeinsamen Sorge nach der Trennung der Eltern ist ein Mindestmaß an Übereinstimmung in Sorgeangelegenheiten von erheblicher Bedeutung erforderlich. Dabei führt nicht jedes Verständigungsproblem zur Auflösung der gemeinsamen Sorge, da ihr Fortbestand andernfalls allein vom Willen eines Elternteils abhinge. Erforderlich ist vielmehr eine konkrete und nachhaltige Einigungsunfähigkeit, die sich negativ auf Entwicklung und Wohl des Kindes auswirkt (BGH NJW 00, 203). Dies ist dann der Fall, wenn die gemeinsame elterliche Sorge praktisch nicht funktioniert, weil trotz der entsprechenden Verpflichtung keine Konsensmöglichkeit besteht (BGH NJW 08, 994). Wenn die Eltern sich nicht über Kindesbelange einigen können, kann das Leben des Kindes nicht sachgerecht gestaltet werde.
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Zwischen den beteiligten Eltern besteht keine tragfähige Beziehung, die sie zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung im wohlverstandenen Interesse des Kindes K. befähigen würde. Die Antragsgegnerin ist davon überzeugt, dass der Antragsteller ein notorischer Lügner ist, der das Kind manipuliere und ihm schade. Zudem geht sie davon aus, dass der Antragsteller an einer Borderline-Störung leidet. Sie hat während des laufenden Verfahrens die Kompetenz des Antragsgegners permanent in Frage gestellt und zweifelt die Richtigkeit seiner Berichte zu K. an, insbesondere im Bereich der Gesundheitsfürsorge. Sie bezweifelt, dass K. therapiert wird, dass die nötigen Untersuchungen erfolgen und zweifelt es an, wenn der Antragsteller berichtet, dass K. keine Defizite hat, die seiner Einschulung entgegenstehen könnten. Telefonate zwischen den Eltern waren nicht möglich, wobei es für die Frage der Kommunikationsfähigkeit nicht darauf ankommt, wer das maßgeblich zu vertreten hat. Die Antragsgegnerin gibt zwar an, in der Vergangenheit habe man ja die gemeinsame Sorge ausgeübt und da könne man wieder hin. Tatsächlich hat sie jedoch selbst im Verfahren angegeben, dass eine Kommunikation zwischen den Eltern nicht möglich ist. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sich an diesem Umstand etwas ändern könnte, da die Antragsgegnerin in der Vergangenheit Beratung durch Fachstellen nicht angenommen hat. Dies hat auch die Verfahrensbeiständin Ihm in ihrer Stellungnahme am 28.06.2023 im Anhörungstermin bestätigt. Die Antragsgegnerin war ihrem Bericht zufolge zu keinem Zeitpunkt zu einer Zusammenarbeit mit Fachstellen bereit, so dass eine Elternberatung nicht möglich war und auch aktuell nicht möglich ist. Letztlich sind sich die Beteiligten auch uneins darüber, wo K. leben soll. Die Antragsgegnerin möchte K. wieder mit nach München in ihre Obhut nehmen. Der Antragsteller hegt inzwischen ebenfalls ein Misstrauen gegenüber der Antragsgegnerin. Er vertraut nicht darauf, dass die Antragsgegnerin fähig ist, allein zum Wohle des Kindes Entscheidungen zu treffen. Ihm gegenüber habe sie geäußert, dass sie ein Komplott gegen sich vermute und einen Missbrauch ihrer Daten. Sie sei daher nicht mehr in der Lage, die Belange des Kindes zu erkennen. Die gemeinsame elterliche Sorge ist daher aufzuheben, um K. aus diesem massiven bereits lang anhaltenden elterlichen Konflikt heraushalten zu können.
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2.2 Die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für K. auf den Antragsteller dient dem Kindeswohl am besten, wenn dieser besser in der Lage ist, die Entwicklung und Erziehung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gewährleisten. Dabei sind verschiedene, von der Rechtsprechung näher konkretisierte Kriterien zu beachten, die zwar grundsätzlich den gleichen Stellenwert haben, aber jedes mehr oder weniger bedeutsam sein kann für die Beurteilung, was dem Kindeswohl im Einzelfall am besten entspricht. Maßgeblich sind Kontinuität für das Kind, Erziehungseignung der Eltern, Förderkompetenz, Bindungstoleranz und Bindungen des Kindes in einer umfassenden Abwägung zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist der Wille des Kindes zu berücksichtigen.
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Die Schwierigkeit besteht vorliegend darin, dass ein familienpsychologisches Gutachten im klassischen Sinne dem Senat nicht vorliegt, schon deshalb nicht, weil die Antragsgegnerin ihre Mitwirkung an einer Begutachtung verweigert hat. Dazu ist sie berechtigt und das darf nicht zu ihrem Nachteil ausgelegt werden. In Konsequenz liegen jedoch keinerlei Erkenntnisse vor, die geeignet wären für die Antragsgegnerin aktuell die für die Sorgerechtsübertragung maßgeblichen Kriterien zu beurteilen. Der Sachverständige hat keinerlei persönliche Daten der Antragsgegnerin erhoben, insofern war er auch nicht gehalten ihr gegenüber die Einhaltung des Datenschutzes zu belegen. Er hat keine negativen Schlussfolgerungen aus ihrer Verweigerungshaltung gezogen, auch nicht im Anhörungstermin vor dem Senat. Er erläuterte auf Frage der Antragsgegnerin, dass er keine Testverfahren mit dem Antragsteller durchgeführt habe, da diese letztlich dazu dienen würden, zu vergleichen, welcher Elternteil besser geeignet sei, K. zu erziehen. Da jedoch eine Mitwirkung der Antragsgegnerin nicht erfolgt sei, habe er nur die Situation für K. beim Vater beurteilen können, alles andere hätte keinen Sinn gehabt. Anhaltspunkte für eine emotionale Störung beim Vater haben sich hierbei nicht ergeben. Damit waren auch keine weiteren Untersuchungen zum Vater veranlasst. Ob die Antragsgegnerin gegenwärtig erziehungsfähig ist, lässt sich nicht beurteilen. Richtig ist zwar, dass K. in der Obhut der Mutter grundsätzlich gut erzogen wurde. Es wurden auch ältere Stellungnahmen von Bekannten der Antragsgegnerin vorgelegt, wonach die Antragsgegnerin liebevoll mit K. umgegangen sei und viel mit ihm unternommen habe. Dies soll auch nicht in Abrede gestellt werden. Dennoch ist völlig offen, wie sich die Situation aktuell darstellen würde. Die Umstände, wie sie vor 2 Jahren waren, können nicht Grundlage für eine aktuell zu treffende Entscheidung zum Sorgerecht sein.
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Hingegen konnte der Sachverständige Dr. S. aktuell Einblick in den väterlichen Haushalt und in die dortigen Familienstrukturen bekommen. Er berichtete, dass K. ein altersgerecht entwickeltes, kluges, emotional ausgeglichenes Kind ist, das in familiärer Gemeinschaft von Vater, Stiefmutter und Halbbruder völlig integriert ist. Er stellt für seinen Halbbruder eine wichtige Bezugsperson dar und hat zu allen Familienmitgliedern eine starke Bindung. K. ist dort sicher gebunden. Es gibt daher keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller aktuell nicht erziehungsfähig wäre und K. nicht ausreichend fördern könnte und würde. K. Schuluntersuchung hat ergeben, dass er uneingeschränkt für den Besuch der Grundschule geeignet ist.
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Bestätigt wird die gute familiäre Einbindung K. auch durch den aktuellen Eindruck der Verfahrensbeiständin Rechtsanwältin I.. Sie hat K. kurz vor dem Anhörungstermin vor dem OLG aufgesucht und konnte über seine positive Entwicklung seit dem 21.10.2021, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat, berichten. Sie hat ihn seit ihrer Bestellung fünfmal gesehen und er war durchweg in seiner jetzigen Familie gut integriert. Es gab zu keinem Zeitpunkt Anlass anzunehmen, dass es K. beim Vater schlecht gehe oder er gefährdet oder im irgendeiner Form beeinträchtigt wäre. Er ist im Familiensystem gut angekommen. Sie ist der Auffassung, dass es kindeswohlunverträglich wäre, K. aus der jetzigen Familie herauszunehmen.
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K. hat selbst mittlerweile keine konkrete Erinnerung mehr an das Leben mit seiner Mutter und an sein dortiges Umfeld. Er hat seit März 2021 keinerlei Kontakt zur Mutter und auch nicht zu seinem damaligen Umfeld. Die Antragsgegnerin sieht hierfür die Schuld beim Vater, da dieser auf ihre Telefonanrufe nicht reagiert habe und keinen Umgang gewährt habe. Damit sei er bindungsintolerant. Der Antragsteller berichtete, dass es bei den Anrufen nicht um K. gegangen sei, sondern um die Verfahren, die Datenschutzverstöße und ein zielführende Gespräch mit der Antragsgegnerin sei nicht möglich gewesen. Letztlich lässt sich die Ursache für das Ausbleiben der Telefonate nicht abschließend klären. Der Sachverständige wurde zum möglicherweise abwehrenden Verhalten des Vaters befragt. Er führte hierzu aus, dass das an seiner Einschätzung, dass K. beim Vater gut angekommen sei und eine feste Bindung zu allen Familienmitgliedern habe, nichts ändern würde. Auf der Grundlage subjektiver Wahrnehmungen der Mutter könne er keine Rückschlüsse auf die mangelnde Erziehungsfähigkeit des Vaters ziehen. Maßgebend sei das objektiv festzustellende Befinden K. und dessen erkennbare stabile Beziehung zum Vater. Auch ergebe sich keine Konsequenz aus der Behauptung der Antragsgegnerin, der Vater habe im Anhörungstermin vor dem Amtsgericht I. gesagt, er akzeptiere keine Telefonate, da er Angst habe, K. könne sagen, dass er seine Mutter vermisse. Sofern eine solche Aussage tatsächlich getroffen worden sei, habe das seiner Auffassung nach keinerlei Konsequenzen. Der Kontext fehle und jegliche Interpretation hierzu sei reine Spekulation. Der Sachverständige versuchte der Antragsgegnerin begreiflich zu machen, dass es nunmehr darauf ankäme, Kontakt zu K. herzustellen und dass alles andere unwichtig wäre, wenn es ihr um K. ginge. Sie würde ihr Kind sonst vermutlich verlieren. Darauf konnte sich die Antragsgegnerin nicht einlassen. Sie ist zu einem Umgang nur unter ihren Bedingungen bereit, so dass derzeit letztlich ein Umgang nicht geregelt werden kann (s. hierzu das Umgangsverfahren 12 UF 261/23). Der Sachverständige hat aufgrund des Verhaltens der Mutter nicht mehr erkennen können, dass die Mutter tatsächlich ein Interesse an K. hat. Die Antragsgegnerin gab hierzu an, dass es natürlich auch darum gehe, sich zu rehabilitieren.
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Den Eindruck des Sachverständigen spiegelt der Verfauf des Verfahren wider. Die Antragsgegnerin hat sich während des laufenden Verfahrens auf Fehler der Verfahrensbeteiligten konzentriert, auf Datenschutzverstöße, Lügen der Verfahrensbeteiligten und zahlreiche Befangenheitsanträge. Der Sachvortrag zu K. selbst ist dabei in den Hintergrund getreten. Dieses Verhalten der Antragsgegnerin ist äußerst ungewöhnlich in einem Verfahren wegen elterlicher Sorge. Der Antragsteller war bisher zu einem Umgang bereit und er sieht auch die Wichtigkeit der Antragsgegnerin als Bezugsperson, besteht aber zu Recht darauf, dass die Umgänge zunächst begleitet werden, schon allein deshalb, da K. seine Mutter so lange nicht mehr gesehen hat. Das hat die Antragsgegnerin bisher nicht eingesehen. Sie verlangte, dass die Lebensgefährtin oder der Antragsteller die Umgänge begleiten. Aus dem Verhalten des Antragstellers kann deshalb nicht auf eine grundsätzliche Bindungsintoleranz gegenüber der Antragsgegnerin geschlossen werden. Der Antragsteller hat an die Antragsgegnerin appelliert, sie möge einen zunächst fachlich begleiteten Umgang wahrnehmen. Mit ihrer ablehnenden Haltung zeigt die Antragsgegnerin ein fehlendes Einfühlungsvermögen in die Situation ihres Kindes, das sich einen Umgang mit der Mutter wünscht.
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Der Sachverständige Dr. S. führte nachvollziehbar aus, dass aufgrund des Zeitablaufs seit dem Zusammenleben K. mit der Mutter davon auszugehen ist, dass die leibliche Mutter für K. keine vertraute Bezugs- oder gar Bindungsperson mehr darstellt. Er kommt zu dem Schluss, dass einzig ein Verbleib K. im Haushalt des Vaters derzeit am Kindeswohl orientiert ist. Eine Trennung von seinen zentralen Bezugspersonen würde für das Kind eine enorme psychische Belastung darstellen. Die Erinnerung an Bezugspersonen verblasse bei Kindern im Alter von K. sehr schnell, insbesondere, wenn die Erinnerung nicht mehr zwischendurch aufgefrischt werde. Eine Bindung aufrechtzuerhalten setze voraus, dass man Zeit miteinander verbringt. Sonst verschwinde die Bezugsperson. Beim Besuch bei K. habe das Kind nur abstrakte Erinnerungen wiedergegeben, sich aber nicht auf konkrete Ereignisse bezogen.
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Der Sachverständige wurde gebeten, dazu Stellung zu nehmen, wie ein Wechsel zur Mutter unter der Annahme zu beurteilen wäre, dass die Antragsgegnerin alle für die Ausübung der elterlichen Sorge maßgeblichen Kriterien bestens erfüllen würde. Der Sachverständige führte hierzu aus, dass es natürlich immer irgendwie machbar wäre. Es wäre jedoch sehr belastend für K. Es müsste zunächst eine Bindung zur Mutter aufgebaut werden, was Zeit brauche. K. müsste nicht nur seinen Vater verlassen, sondern sein gesamtes derzeitiges Familiensystem, was sehr schwierig für K. wäre. Auch die Bezüge zu seinem sonstigen Umfeld würde er verlieren, so habe er einen Nachbarn mit Werkstatt um die Ecke, wo er gerne hingehe. Es sei richtig, dass es für K. auch belastend gewesen sei, als er nach I. zum Vater gewechselt habe. Zu diesem Zeitpunkt habe er jedoch eine intakte Bindung zum Vater gehabt. Er habe dadurch sicher kein Trauma erlitten. Dafür gebe es keinerlei Anzeichen.
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Der Sachverständige ergänzte auf Frage des Senats, dass es auf die von der Antragsgegnerin behaupteten körperlichen Übergriffe des Antragsgegners gegenüber K. vor März 2021, ein etwaiges Alleinlassen oder ein Wegwerfen eines geliebten Kuscheltieres heute nicht mehr ankäme. K. habe eine gefestigte stabile Beziehung zu seinem Vater und es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass er beim Vater schlecht behandelt würde. K. sei offen und eingebunden in ein offenes Familiensystem und sei therapeutisch angebunden im Kindergarten und dort ebenfalls integriert, so dass es aufgefallen wäre, wenn irgendetwas im Familiensystem nicht funktioniere. K. habe zahlreiche Möglichkeiten, sich hierzu zu öffnen.
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Die Antragsgegnerin bestand darauf, die von ihr gefertigte Audiodatei dem Sachverständigen vorzuspielen. Die Antragsgegnerin hat angegeben, dass K. ihr gegenüber geäußert habe, der Vater habe ihn gehauen und seine Giraffe zur Strafe in den Müll geworfen. Der Vater habe K. in Ingolstadt alleine gelassen mit 4 Jahren und sei an die Donau gegangen. Eine förmliche Beweisaufnahme hierzu habe nicht stattgefunden. Bei der Audiodatei handelt es sich um Aufzeichnungen der Antragsgegnerin zu Gesprächen mit K. vor März 2021. In dieser Zeit befragte sie K. Der Sachverständige Dr. S. bestätige nach Abspielen der Aufzeichnungen den Eindruck des Senats, dass es sich um eine völlig suggestive Befragung des Kindes handelte, die völlig unverwertbar ist. Es sei offensichtlich, dass K. kein Begriff für Zahlen hatte und dass die Mutter ihm alles vorgegeben hatte. Zudem zeigte die Mutter in der Aufnahme deutlich ihre eigenen Emotionen gegenüber dem Kind und K. entsprach nur ihren Erwartungen. Sie gab Begriffe wie „böse, Angst, streng“ vor, die K. von sich aus nicht verwendet hat. Auch seine Aussage, dass er allein gewesen sei, müsse sich nicht auf ein tatsächliches alleine Zurücklassen in der Wohnung beziehen. Die Aufnahmen seien völlig unverwertbar.
63
Der Sachverständige Dr. S. hat zu der Annahme der Antragsgegnerin, der Antragsteller leide an einer Borderline-Störung ergänzend am 14.12.2023 mitgeteilt, dass es beim Vater keine Hinweise auf eine emotional instabile Persönlichkeit gebe. Es bestehe daher auch kein Anlass, ein psychiatrisches Gutachten zu erholen. Die Antragstellerin hat mit Schreiben vom 14.06.2023 Fragen an den Sachverständigen gestellt. Unklar ist, ob der Sachverständige sich mit diesen Fragen beschäftigt hat. Übersandt wurde ihm das Schreiben der Antragsgegnerin. Zu den im Schreiben vom 14.06.2023 aufgeworfenen Fragen hat der Sachverständige in aller Ausführlichkeit im Termin vom 28.06.2023 Stellung genommen, soweit dies für die Entscheidung des Senats relevant ist und soweit es sich um Fragen handelt, die von einem Sachverständigen zu beantworten sind. Die Antragsgegnerin stellte eine abstrakte These auf zu den Folgen für ein Kind bei Kontaktabbruch und dem Aufwachsen eines Kindes bei einer Person mit BorderlinePersönlichkeit. Hierzu sollte sich der Sachverständige äußern. Ein konkretes Sorgerechtsverfahren dient jedoch nicht dazu, abstrakte familienpsychologische Fragen zu klären. Hierfür ist der Sachverständige nicht beauftragt. Dies ist auch nicht Sinn eines Sachverständigengutachtens. Zudem kann der Sachverständige aus dem einseitigen Sachvortrag der Antragsgegnerin keine sachverständigen Schlussfolgerungen treffen zur Behauptung der Antragsgegnerin, der Antragsteller sei ein notorischer Lügner sowie zu ihren Ausführungen, wie sich die Beziehung von ihr zum Antragsteller in der Vergangenheit gestaltete. Das hat mit der aktuellen Situation K. nichts zu tun und ist ohne Relevanz für die Entscheidung nach § 1671 BGB. Insoweit war auch keine weitere Frist zur Stellungnahme zu den Ausführungen des Sachverständigen zu gewähren, wie von der Antragsgegnerin zuletzt beantragt. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt darin nicht. Die Antragsgegnerin hatte über Stunden Gelegenheit, Fragen an den Sachverständigen zu stellen und hat diese Gelegenheit ausgiebig genutzt.
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Trotz aller sachverständiger Ausführungen beharrte die Antragsgegnerin aufgrund eigener Recherchen und Lesen von Fachberichten auf ihrer Ansicht, dass beim Antragsgegner eine Borderline-Persönlichkeit vorliege, dass bei K. eine traumatische Belastungsstörung nicht ausgeschlossen werden könne und dass das Poland-Syndrom bei K. zu behandeln sei. Da der Vater sich darum nicht kümmere, sei er ungeeignet K. zu betreuen. Der Antragsteller hat jedoch K. einem Kinderorthopäden vorgestellt, der derzeit keinen Behandlungsbedarf erkennen kann. Erzieherische Defizite des Antragstellers lassen sich daraus nicht ableiten.
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Den Entwicklungsbericht des Kindergartens wertete sie dahingehend, dass K. Defizite habe, die der Antragsteller zu vertreten habe. Der Sachverständige führte hierzu aus, dass es sich um einen für heutige Verhältnisse, wo die Kinder intensiv beobachtet werden, völlig normalen Entwicklungsbericht handle. Auch die Anbindung an die Praxis P. bedeute nicht, dass der Vater seiner Aufgabe nicht gewachsen sei. Nach dem Wechsel nach I. hat der Antragsgegner K. therapeutisch begleiten lasse, um zu vermeiden, dass er mit dem Wechsel nicht zurechtkommt. Insofern handelte er verantwortungsbewusst im Interesse des Kindes, um etwaigen Störungen vorzubeugen.
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Der Senat ist übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass der Antragsteller nach den Erkenntnissen aus den völlig überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen und der Verfahrensbeiständin und dem eigenen Eindruck aus der Anhörung erziehungsgeeignet ist, K. ausreichend fördert und unterstützt und es besteht eine stabile Bindung K. zum Vater und den übrigen Familienmitgliedern. Der persönliche Eindruck des Senats aus der Kindesanhörung ist, dass K. ein völlig normal entwickeltes Kind ist, da sich in seinem Zuhause wohl fühlt.
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Zwar hat die Antragsgegnerin ein grundgesetzlich geschütztes Recht nach Art. 6 GG auf Wahrnehmung ihres Elternrechts, aber auch die Interessen des Kindes sind zu berücksichtigen und es hat eine Abwägung der sich möglicherweise widersprechenden Interessen zu erfolgen. Hier ist dem Interesse des Kindes K. an einem stabilen, verlässlichen Umfeld, das er zweifelsohne hat, der Vorrang zu geben vor einem Wechsel in eine unsichere, nicht kalkulierbare Situation mit prognostisch negativen Folgen für K. Entwicklung, da er derzeit sichere Bindungen verlieren würde. Es ist nicht absehbar, ob er zu seiner leiblichen Mutter ebenfalls wieder eine entsprechend stabile Bindung aufbauen kann, wie er sie aktuell in seiner Familie hat.
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Die Kontinuität.spricht mittlerweile für einen Verbleib K. beim Antragsteller. Er lebt seit 2 Jahren beim Vater und hat dort seine Familie und seine Freunde. Zwar hat er die ersten 4 Jahre seines Lebens bei der Mutter verbracht. Seine Erinnerung hieran ist jedoch verblasst und daher kommt aktuell der Kontinuität der letzten beiden Jahre wesentlich mehr Bedeutung zu.
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Letztlich hat auch K. klar geäußert, dass er nicht zur Mutter nach München zurück möchte. Es geht ihm gut beim Vater und er versteht sich gut mit dessen Lebensgefährtin und seinem Halbbruder. Er würde seine Mutter gerne sehen, aber einen Wechsel zu ihr möchte er nicht.
2.3 Verhältnismäßigkeit
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Zu beachten ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, d.h. es ist zu fragen, ob die gesamte elterliche Sorge auf den Vater zu übertragen ist oder nur Teilbereiche. Aufgrund des bisherigen konflikthaften Verhaltens der Mutter ist jedoch davon auszugehen, dass sie nicht nur in puncto Aufenthaltsbestimmungsrecht und Gesundheitsfürsorge die Kompetenz des Vaters in Zweifel ziehen wird, sondern in allen Bereichen. Eine Kommunikation und Kooperation, die zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung führen könnte, ist nicht zu erwarten. Nach den Ausführungen des Antragstellers bestreitet die Antragsgegnerin jegliche Berichte, Äußerungen, zu K. Befinden, seinen Entwicklungen, Artberichten usw, so dass eine Übertragung lediglich streitiger Sorgerechtsbereiche nicht in Betracht kommt.
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Soweit die Antragsgegnerin eine Schriftsatzfrist beantragt hat, um zu überlegen, ob sie möglicherweise einer Vollmachtslösung zustimmen könnte, war dieser Antrag abzulehnen. Soweit ein Verfahren wegen elterlicher Sorge entscheidungsreif ist, muss eine Entscheidung auch getroffen werden. Die Antragsgegnerin hatte ausreichend Zeit, sich mit den Möglichkeiten einer Verfahrensbeendigung auseinanderzusetzen. Der andere Elternteil und das Kind haben ein Anrecht auf eine zügige Entscheidung in der Sache.
72
Verstöße gegen Art. 6 und 8 EMRK sowie Art. 7, 8, 24 und 47 der Grundrechtscharta liegen nicht vor. Die Entscheidung orientiert sich an den innerstaatlichen Gesetzen sowie der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung.
73
Etwaige Datenschutzverstöße von Jugendamt oder vom Sachverständigen muss die Antragsgegnerin vor dem Verwaltungsgericht klären. Der Senat ist hierfür nicht zuständig, zumal persönliche Daten der Antragsgegnerin im Verfahren nicht verwendet werden für die hier zu treffende Sorgerechtsentscheidung. Es besteht auch kein Anlass den Bericht der Verfahrensbeiständin vom 21.10.2021 aus den Akten zu löschen. Der Bericht wurde rechtmäßig erstellt und darf Bestandteil der Akten sein. Es bedurfte daher keiner Mitteilung an das Gericht.
74
Letztlich ist auch das eine Frage, die nicht der Senat zu klären hat.
III.
75
Die Kostenentscheidung folgt auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 40, 45 Abs. 1 Nr. 2 FamGKG.
76
Gründe, die Rechtsbeschwerde nach § 70 FamFG zuzulassen, liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung, die unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil getroffen wurde.
Erlass des Beschlusses (§ 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG):
Übergabe an die Geschäftsstelle am 30.06.2023.