Inhalt

VerfGH München, Entscheidung v. 15.11.2023 – Vf. 33-VI-23
Titel:

Anforderungen an eine einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren

Normenketten:
VfGHG Art. 26 Abs. 1
BVerfGG § 32
Leitsätze:
Mangels substanziierter Darlegung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässiger Eilantrag im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen in einem Sorgerechtsverfahren. (Rn. 41)
1. Der Verfassungsgerichtshof kann in Verfassungsbeschwerdeverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist. Hierbei sind an die Voraussetzungen der einstweiligen Anordnung wegen der weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in der Regel auslöst, strenge Maßstäbe anzulegen. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einstweilige Anordnungen können zudem nur dazu dienen, eine vorläufige Regelung zu treffen. Sie dürfen die Hauptsacheentscheidung grundsätzlich nicht vorwegnehmen. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Rahmen der Prüfung, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten ist, hat der Verfassungsgerichtshof in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn die Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlerhaft waren oder deren Würdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtspositionen offensichtlich nicht trüge. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweilige Anordnung, Substantiierung, elterliche Sorge, substantiiert, Maßstäbe, Sorgerecht
Vorinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 28.06.2023 – 12 UF 433/23 e
AG Ingolstadt, Beschluss vom 30.03.2023 – 006 F 1266/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 35582

Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen.
2. Der Beschwerdeführerin wird eine Gebühr von 1.500 € auferlegt.

Entscheidungsgründe

I.
1
1. Die mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin richtet sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30. März 2023 Az. 006 F 1266/21, mit dem die alleinige elterliche Sorge für das Kind K. auf dessen Vater übertragen wurde, und den auf ihre Beschwerde hin ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 28. Juni 2023 Az. 12 UF 433/23 e, mit dem ihre Beschwerde zurückgewiesen wurde. Zugleich wurden Anträge der Beschwerdeführerin, soweit sie sich auf Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung bezogen, verworfen.
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a) Die Beschwerdeführerin ist die Mutter des im Jahr 2017 geborenen Kindes K. Sie und der Vater des Jungen waren nicht verheiratet und leben dauerhaft getrennt.
3
Am 19. März 2021 zeigte das Jugendamt (wiederholt) eine Gefährdung des K. an, der bis dahin seinen Aufenthalt bei der Beschwerdeführerin hatte. Der Vater, der zu diesem Zeitpunkt zusammen mit der Beschwerdeführerin die gemeinsame elterliche Sorge für K. innehatte, holte ihn auf Anregung des Jugendamts am selben Tag aus dem Kindergarten in München ab und nahm ihn mit nach Ingolstadt, wo K. seitdem bei seinem Vater und dessen Familie lebt. Mit Beschluss vom 22. April 2021 übertrug das Amtsgericht München im Wege der einstweiligen Anordnung u. a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für K. auf den Vater; die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde durch Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 28. Juni 2021 Az. 12 UF 548/21 zurückgewiesen.
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Zwischen dem Vater und der Beschwerdeführerin wurden bzw. werden seither mehrere familiengerichtliche Verfahren bezüglich der elterlichen Sorge und des Umgangs geführt. Weiter ist vor dem Verwaltungsgericht München u. a. unter dem Az. M 18 K 23.3031 eine Klage nebst Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz anhängig, mit der die Beschwerdeführerin diverse Datenschutzverstöße des zuständigen Jugendamts der Stadt ... festgestellt und dieses – unter anderem – „zur Erarbeitung und Publizierung einer gemeinsamen Datenschutzerklärung“ verurteilt haben will.
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b) Der Ablauf des Verfahrens betreffend die elterliche Sorge, soweit hier von Belang, stellt sich wie folgt dar:
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aa) Der Kindsvater beantragte am 13. September 2021 im Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht Ingolstadt, ihm die alleinige elterliche Sorge für K. zu übertragen. Die Beschwerdeführerin trat dem entgegen.
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Das Amtsgericht gab ein familienpsychologisches Gutachten in Auftrag zur Klärung der Frage, welcher Elternteil insbesondere unter Berücksichtigung der gefühlsmäßigen Bindungen des Kindes, der eigenen Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz sowie der jeweils angestrebten Perspektiven für das eigene Leben und das Leben des Kindes besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen. Die Beschwerdeführerin verweigerte sowohl eine Teilnahme an der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. S. als auch ein Gespräch mit der Verfahrensbeiständin des K., Rechtsanwältin I. Eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt lehnte die Beschwerdeführerin ab, solange dieses keine Erklärung zum Datenschutz und zur Datenverarbeitung unterzeichne. Der Sachverständige Dr. S. gab am 18. November 2022 eine vorläufige Einschätzung ab, in der er zu dem Ergebnis kam, dass einzig der Verbleib des K. im Haushalt des Vaters derzeit am Kindeswohl orientiert sei.
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Nach Anhörung der Beteiligten und des Kindes übertrug das Amtsgericht Ingolstadt mit dem angegriffenen Beschluss vom 30. März 2023 dem Kindsvater die alleinige elterliche Sorge für K.
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bb) Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdeführerin am 14. April 2023 Beschwerde ein. Weiteres Vorbringen erfolgte u. a. mit Schreiben vom 14. Juni 2023. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens wurde K. am 28. Juni 2023 durch den erkennenden Familiensenat im Beisein der Verfahrensbeiständin angehört. Im Anschluss führte der Familiensenat eine ausführliche gemeinsame mündliche Verhandlung in diesem Verfahren sowie in zwei weiteren Verfahren zwischen den Beteiligten durch, in dem insbesondere der Sachverständige Dr. S. mündlich angehört wurde.
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cc) Mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 28. Juni 2023 wies das Oberlandesgericht München die Beschwerde zurück. Im Übrigen verwarf das Oberlandesgericht die Anträge der Beschwerdeführerin, soweit sie sich auf Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung bezogen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass formale Fehler, die nach Auffassung der Beschwerdeführerin zur Aufhebung des Endbeschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Ingolstadt führen sollten, nicht vorlägen. Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet habe, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit vorliege, da die Vertreterin des Jugendamts und der bestellte Sachverständige im erstinstanzlichen Anhörungstermin anwesend gewesen seien, sei dieser Grundsatz jedenfalls im Beschwerdeverfahren beachtet worden. Soweit die Beschwerdeführerin den Einwand erhebe, dass über ihre Beschwerde gegen die Ablehnung ihres Befangenheitsgesuchs gegen die Familienrichterin vom 11. April 2023 bisher nicht entschieden sei, sei hierüber in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden. Zudem habe diese Frage keine Auswirkungen auf das anhängige Beschwerdeverfahren. Soweit die Beschwerdeführerin bemängle, dass zu einzelnen Tatsachen keine förmliche Beweisaufnahme erfolgt sei, so seien diese Tatsachen zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr entscheidungsrelevant, da sie den Umgang des Vaters mit K. vor März 2021 beträfen. Zudem stelle die erfolgte Einholung eines Sachverständigengutachtens eine förmliche Beweisaufnahme dar. Der Sachverständige habe sich bei Erstellung des Gutachtens auf keinen der Umstände gestützt, über die nach Auffassung der Beschwerdeführerin förmlich Beweis hätte erhoben werden müssen. Eine Aussetzung des erstinstanzlichen Verfahrens wegen der von der Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht erhobenen Klagen gegen das Jugendamt und Fachstellen wegen Datenschutzverstößen sei nicht erforderlich gewesen, weil diese Fragen nicht vorgreiflich für das familiengerichtliche Verfahren seien.
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Schließlich sei der Beschwerdeführerin mehrfach Akteneinsicht gewährt worden, sodass der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei, auch wenn ihr möglicherweise einzelne Schriftstücke nicht übersandt worden seien. Mittlerweile habe die Beschwerdeführerin sämtliche Schriftstücke einsehen können.
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In der Sache sei die Beschwerde zurückzuweisen. Unter Berücksichtigung der eingereichten Schriftsätze, der gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen, der Stellungnahme der Verfahrensbeiständin und nach Anhörung der Beteiligten entspreche die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Kindsvater dem Kindeswohl am besten. Maßgebend hierfür sei allein der jetzige Erkenntnis- und Sachstand. Durch eine gegebenenfalls unrechtmäßige Veränderung des Aufenthaltsortes des K. im Jahr 2021 sollten zwar keine Tatsachen hinsichtlich der Kontinuität des Aufenthalts geschaffen werden. Letztlich sei aber auch in diesem Fall im Hinblick auf das Kindeswohl zu berücksichtigen, dass K. seit nunmehr zwei Jahren in Ingolstadt lebe, so dass allein ein gegebenenfalls unrechtmäßiges Verbringen seine Zurückführung in den Haushalt der Beschwerdeführerin nicht rechtfertigen könnte.
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Grundlage für die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge sei eine doppelte Kindeswohlprüfung. Sowohl die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge als auch die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf einen Elternteil müssten dem Kindeswohl am besten entsprechen. Schließlich sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen.
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Vorliegend sei die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge erforderlich, um die Belange des Kindes K. zu schützen. Zwischen den beteiligten Eltern bestehe keine tragfähige Beziehung, die sie zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung im wohlverstandenen Interesse des K. befähigen würde. Die Beschwerdeführerin sei davon überzeugt, dass der Kindsvater an einer Borderline-Störung leide und ein notorischer Lügner sei, der das Kind manipuliere und ihm schade. Während des laufenden Verfahrens habe sie dessen Kompetenz und dessen Berichte, insbesondere im Bereich der Gesundheitsfürsorge, ständig in Frage gestellt. Die Beschwerdeführerin habe selbst im Verfahren angegeben, dass eine Kommunikation zwischen den Eltern nicht möglich sei. Es sei nicht ersichtlich, dass sich an diesem Umstand etwas ändern könnte, da die Beschwerdeführerin zu keiner Zusammenarbeit mit den Fachstellen bereit sei, sodass eine Elternberatung nicht möglich gewesen und auch aktuell nicht möglich sei. Die Beteiligten seien sich zudem uneins darüber, wo K. leben solle. Der Kindsvater vertraue inzwischen nicht mehr darauf, dass die Beschwerdeführerin fähig sei, Entscheidungen allein zum Wohl des Kindes zu treffen. Die gemeinsame elterliche Sorge sei daher aufzuheben, um K. aus diesem massiven, bereits lang anhaltenden elterlichen Konflikt herauszuhalten.
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Die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Kindsvater diene dem Kindeswohl am besten, wenn dieser besser in der Lage sei, die Entwicklung und Erziehung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gewährleisten. Kontinuität für das Kind, Erziehungseignung der Eltern, Förderkompetenz, Bindungstoleranz und Bindungen des Kindes seien als maßgebliche Kriterien in einer umfassenden Abwägung zu prüfen. Darüber hinaus sei der Wille des Kindes zu berücksichtigen.
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Ein familienpsychologisches Gutachten im klassischen Sinne liege hierzu nicht vor, schon weil die Beschwerdeführerin ihre Mitwirkung verweigert habe. Hierzu sei sie berechtigt und dies dürfe nicht zu ihrem Nachteil ausgelegt werden. In der Konsequenz könnten jedoch die für eine Sorgerechtsübertragung maßgeblichen Kriterien in Bezug auf die Beschwerdeführerin mangels Erkenntnissen nicht beurteilt werden. Ob die Antragsgegnerin gegenwärtig erziehungsfähig sei, lasse sich nicht beurteilen. Der Sachverständige habe nur die Situation des K. beim Vater beurteilen können. Anhaltspunkte für eine emotional-instabile Störung beim Vater hätten sich dabei nicht ergeben. Damit seien auch keine weiteren Untersuchungen zum Vater, namentlich keine Einholung eines psychiatrischen Gutachtens, veranlasst gewesen. Der Sachverständige habe berichtet, dass K. ein altersgerecht entwickeltes, kluges, emotional ausgeglichenes Kind sei, das in die familiäre Gemeinschaft von Vater, Stiefmutter und Halbbruder völlig integriert und dort sicher gebunden sei. Es gebe, so der Sachverständige, keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kindsvater aktuell nicht erziehungsfähig sei und K. nicht ausreichend fördere. Die gute familiäre Einbindung des K. werde durch den aktuellen Eindruck der Verfahrensbeiständin bestätigt, die das Kind seit dem 21. Oktober 2021 fünfmal gesehen, es zuletzt kurz vor dem Anhörungstermin aufgesucht habe. Ihrer Auffassung nach wäre es kindeswohlunverträglich, K. aus der jetzigen Familie herauszunehmen.
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K. selbst habe mittlerweile keine konkrete Erinnerung mehr an das Leben mit seiner Mutter und das dortige Umfeld. Soweit die Beschwerdeführerin dem Vater anlaste, dass sie seit März 2021 keinen Kontakt mit K. mehr habe, lasse sich die Ursache für das Ausbleiben von Telefonaten nicht abschließend klären. Der Sachverständige habe zum Vortrag der Beschwerdeführerin ausgeführt, dass er allein auf der Grundlage von deren subjektiven Wahrnehmungen keinen Rückschluss auf eine mangelnde Erziehungsfähigkeit des Vaters ziehen könne. Maßgebend seien für ihn das objektiv festzustellende Befinden des K. und dessen erkennbar stabile Beziehung zum Vater. Der Senat habe angesichts des Verlaufs des Verfahrens in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen den Eindruck, dass der Sachvortrag zu K. selbst in den Hintergrund getreten sei. Der Kindsvater sei bisher zu einem Umgang bereit gewesen und sehe auch die Wichtigkeit der Beschwerdeführerin als Bezugsperson, bestehe aber zu Recht darauf, dass die Umgänge zunächst begleitet würden. Aus dem Verhalten des Kindsvaters könne daher nicht auf eine grundsätzliche Bindungsintoleranz geschlossen werden. Mit ihrer Ablehnung eines fachlich begleiteten Umgangs zeige die Beschwerdeführerin ein fehlendes Einfühlungsvermögen in die Situation ihres Kindes, welches einen Umgang mit seiner Mutter wünsche. Der Sachverständige habe ferner nachvollziehbar ausgeführt, dass aufgrund des Zeitablaufs davon auszugehen sei, dass die leibliche Mutter keine vertraute Bezugs- oder gar Bindungsperson für K. mehr darstelle. Beim Besuch habe K. nur abstrakte Erinnerungen wiedergegeben, sich aber nicht auf konkrete Ereignisse bezogen.
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Der Sachverständige sei daher zum Schluss gekommen, dass einzig ein Verbleib im Haushalt des Vaters derzeit am Kindeswohl orientiert sei. Ein Wechsel zur Mutter – unter der Annahme, dass diese alle maßgeblichen Kriterien für die Ausübung der elterlichen Sorge bestens erfülle – wäre sehr belastend für K., auch wenn „es natürlich immer irgendwie machbar wäre“. Es müsste zunächst eine Bindung zur Mutter aufgebaut werden, was Zeit brauche. K. müsste nicht nur seinen Vater, sondern sein gesamtes derzeitiges Familiensystem verlassen und würde auch die Bezüge zu seinem sonstigen Umfeld verlieren. Für K. sei es zwar auch belastend gewesen, nach Ingolstadt zu wechseln, zu diesem Zeitpunkt habe er jedoch eine intakte Verbindung zum Vater gehabt. Dafür, dass K. dadurch ein Trauma erlitten habe, gebe es keinerlei Anzeichen.
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Es gebe auch keinerlei Anzeichen dafür, dass K. von seinem Vater schlecht behandelt werde. Die Beschwerdeführerin habe in diesem Zusammenhang darauf bestanden, dem Sachverständigen eine von ihr gefertigte Audiodatei vorzuspielen, die Aufzeichnungen von Gesprächen mit K. vor März 2021 enthalte. Der Sachverständige habe nach Abspielen der Aufzeichnungen den Eindruck des Senats bestätigt, dass es sich um eine suggestive Befragung des Kindes gehandelt habe, die völlig unverwertbar sei. So habe die Beschwerdeführerin etwa Begriffe wie „böse“, „Angst“, und „streng“ vorgegeben, die K. von sich aus nicht verwendet habe.
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Zu den mit Schreiben vom 14. Juni 2023 gestellten Fragen der Beschwerdeführerin habe der Sachverständige im Termin vom 28. Juni 2023 ausführlich Stellung genommen, soweit dies für die Entscheidung relevant gewesen sei und es sich um Fragen gehandelt habe, die von einem Sachverständigen zu beantworten seien. Soweit die Beschwerdeführerin eine abstrakte These zum Aufwachsen eines Kindes bei einer Person mit Borderline-Persönlichkeit aufgestellt habe, diene ein Sorgerechtsverfahren nicht dazu, abstrakte familienpsychologische Fragen zu klären. Aus dem einseitigen Vortrag der Beschwerdeführerin zu ihrer Beziehung zum Kindsvater in der Vergangenheit sowie zu ihrer Behauptung, der Kindsvater sei ein notorischer Lügner, könne der Gutachter keine sachverständigen Schlussfolgerungen ziehen. Insoweit sei der Beschwerdeführerin, die über Stunden Gelegenheit gehabt habe, den Sachverständigen zu befragen, und dies ausgiebig genutzt habe, keine weitere Frist zur Stellungnahme zu gewähren gewesen.
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Trotz der sachverständigen Ausführungen habe die Beschwerdeführerin aufgrund eigener Recherche auf ihrer Ansicht beharrt, dass beim Kindsvater eine Borderline-Störung vorliege und bei K. ein behandlungsbedürftiges Poland-Syndrom, welches der Vater nicht behandeln lasse. Erzieherische Defizite ließen sich daraus jedoch nicht ableiten, da der Vater K. einem Kinderorthopäden vorgestellt habe, der keinen Behandlungsbedarf erkannt habe. Entsprechendes gelte für den Entwicklungsbericht des Kindergartens, der nach Auffassung des Sachverständigen völlig normal sei. Der Umstand, dass der Kindsvater K. nach dem Wechsel nach Ingolstadt therapeutisch habe begleiten lassen, belege, dass er verantwortungsbewusst im Interesse des Kindes gehandelt habe, um etwaigen Störungen vorzubeugen.
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Der persönliche Eindruck des Senats aus der Kindesanhörung sei, dass K. ein völlig normal entwickeltes Kind sei, das sich in seinem Zuhause wohl fühle.
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Nach Abwägung des Elternrechts der Beschwerdeführerin (Art. 6 GG) mit den Interessen des Kindes sei dessen Interesse an einem stabilen, verlässlichen Umfeld der Vorrang zu geben vor einem Wechsel in eine unsichere, nicht kalkulierbare Situation mit prognostisch negativen Folgen für seine Entwicklung, da es derzeit sichere Bindungen wieder verlieren würde. Es sei nicht absehbar, ob er zur Beschwerdeführerin ebenfalls wieder eine entsprechend stabile Bindung aufbauen könne, wie er sie aktuell in seiner Familie habe. Die Kontinuität spreche mittlerweile für den Verbleib des K. beim Vater, bei dem er seit zwei Jahren lebe, während die Erinnerung an die vier Jahre, die er bei seiner Mutter verbracht habe, verblasse. Letztlich habe auch K. geäußert, dass er seine Mutter zwar gerne sehen, aber nicht zu ihr nach München wechseln möchte.
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Im Rahmen der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei davon auszugehen, dass eine Kommunikation und Kooperation der Beschwerdeführerin mit dem Vater, die zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung führen könnte, nicht zu erwarten sei. Eine Übertragung lediglich einzelner streitiger Sorgerechtsbereiche komme daher nicht in Betracht. Der von der Beschwerdeführerin gestellte Antrag auf Gewährung einer Schriftsatzfrist, um zu überlegen, ob sie möglicherweise einer Vollmachtslösung zustimme, sei abzulehnen gewesen. Das Verfahren sei entscheidungsreif und der andere Elternteil und das Kind hätten ein Anrecht auf eine zügige Sachentscheidung.
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Etwaige Datenschutzverstöße des Jugendamts oder des Sachverständigen müsse die Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht klären. Der Senat sei hierfür nicht zuständig.
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dd) Mit Schreiben vom 5. Juli 2023 stellte die Beschwerdeführerin ein Befangenheitsgesuch; zugleich legte sie unter der Überschrift „Vortrag Rüge Gehörsverletzungen Teil I“ Anhörungsrüge gegen den Beschluss vom 28. Juni 2023 ein. Das Oberlandesgericht München verwarf mit Beschluss vom 11. Juli 2023 den Ablehnungsantrag und die Gehörsrüge als unzulässig. Mit Beschluss vom 20. Juli 2023 entschied das Oberlandesgericht, dass es auch unter Berücksichtigung der im Schreiben der Beschwerdeführerin vom 12. Juli 2023 nachgeschobenen Gründe bei der Entscheidung über die Gehörsrüge vom 11. Juli 2023 verbleibe, verwarf eine Gegenvorstellung, mehrere Befangenheitsgesuche sowie einen Protokollberichtigungsantrag der Beschwerdeführerin als unzulässig und lehnte einen Antrag auf Löschung etwaiger durch den Sachverständigen Dr. S. erhobener personenbezogener Daten ab.
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2. Mit ihrer am 25. Juli 2023 eingegangenen und mit weiteren Schreiben ergänzend begründeten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 86 Abs. 1 BV), ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV), des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 118 Abs. 1 BV), des verfassungsrechtlichen Schutzes von Familie und Kindern (Art. 124, 125 BV), des Erziehungsrechts der Eltern (Art. 126 Abs. 1 BV) sowie Verstöße gegen Art. 84 BV (insoweit i. V. m. Art. 6 und Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie Art. 7, 8, 24 und 27 EU-Grundrechte-Charta), Art. 98 BV, Art. 19 GG und Art. 20 Abs. 3 und 4 GG.
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a) Die Beschwerdeführerin macht zusammengefasst geltend, die Entscheidungen enthielten keine Ausführungen dazu, welche negativen Auswirkungen die konkrete Sorgerechtsregelung unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls habe; diese entspräche dem Wohl des Kindes daher gerade nicht. Maßgeblich für die Entscheidung über den hauptsächlichen Aufenthaltsort des Kindes wäre gewesen, bei welchem Elternteil der Umgang und Kontakt zum anderen Elternteil zuverlässiger gewährleistet seien. Es erscheine erwiesen, dass es der Beschwerdeführerin deutlich besser gelingen würde, feste Umgangsregeln konsequent einzuhalten. Der Vermutung des Oberlandesgerichts, die Übertragung der Sorge auf die Mutter werde der Situation des Kindes nicht gerecht, fehle eine nachvollziehbare Begründung, die nicht lediglich auf Verdacht, auch des Sachverständigen, und unwahren, unbewiesenen oder ausdrücklich bestrittenen Behauptungen des Vaters beruhe. Die erheblichen bestehenden Defizite im Hinblick auf die Bindungstoleranz beim Vater dürften nicht übergangen werden.
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Überdies habe das Oberlandesgericht die Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 GG verkannt, da es nicht unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geprüft habe, ob anstatt der Übertragung der elterlichen Sorge auf den Kindsvater als milderes Mittel der Beschwerdeführerin eine Schriftsatzfrist zur Annahme einer Vollmachtsregelung hätte gewährt werden können. Dies stelle sowohl eine Gehörsverletzung als auch einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Willkürverbot dar. Im Beschluss des Oberlandesgerichts werde bewusst falsch behauptet, dass das Kind keinen Wechsel zur Mutter möchte. Die unwahren Schilderungen des Vaters, der in einer völlig verzerrten Realität lebe und dissoziativen Zuständen unterliege, seien ausdrücklich bestritten worden. Die Unterstellung des Senats, dass sich das Kind an seine Mutter nicht erinnere, sei willkürlich boshaft und unwahr.
31
Die doppelte Kindeswohlprüfung sei mangelhaft erfolgt. Die Aufhebung der gemeinsamen Sorge entspreche nicht dem Kindeswohl, da sich die Mutter andernfalls nicht um die Gesundheitssorge kümmern könne. Der Vater kümmere sich nicht, da dies seinem Bedürfnis nach ungebundener Freizeitgestaltung entgegenstehe. Das Oberlandesgericht leugne dessen offensichtliche Bindungsintoleranz und vorherigen Umgangsboykott. Soweit es davon ausgehe, dass eine Kommunikation zwischen den Eltern unmöglich sei, sei dies völlig absurd. Dies wäre mit einer gerichtlichen Anordnung lösbar gewesen. Die Angaben des Kindes in der Anhörung vom 28. Juni 2023 zeigten deutlich, dass noch eine tiefere sichere Bindung „und positive Verknüpfung vom Kind zur Mutter“ bestehe. Eine Kindeswohlgefährdung durch die Beschwerdeführerin, die sich stets normal und liebevoll gegenüber ihrem Kind verhalten habe und jederzeit offen für Hilfsgespräche gewesen sei, liege nicht vor.
32
Die Beschwerdeführerin sei zudem durch die Verarbeitung unrechtmäßig erhobener Daten und Wiedergabe ausdrücklich bestrittener Behauptungen in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, ihrer Menschenwürde, ihrem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie ihrem Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt. Die Abweisung der Datenschutzanträge sei ohne sachliche Begründung und damit willkürlich erfolgt. Das Jugendamt dürfe nur zulässig erhobene Daten übermitteln. Den Verfahrensbeiständen oder Jugendämtern sei zu keinem Zeitpunkt mündlich oder schriftlich eine Einwilligung zur Datenverarbeitung erteilt worden. Es bestehe ein absolutes Verwertungsverbot.
33
Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei auch dadurch verletzt, dass Schriftsätze der Beschwerdeführerin nicht an den Sachverständigen übermittelt worden seien. In diesem Fall hätte der Sachverständige aufgrund erheblicher Anhaltspunkte für eine Erziehungsunfähigkeit des Vaters die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen „beantragen“ können. Ausführungen der Beschwerdeführerin hierzu seien vom Senat unterbunden worden. Sämtliche kritische Aussagen des Sachverständigen bezogen auf den Vater seien nicht zu Protokoll genommen worden.
34
Der Vater habe zudem gegenüber der Beschwerdeführerin am 28. Juni 2023 den Vorwurf erhoben, deren Großvater habe sie missbraucht. Der Senat lasse sich durch diese Verleumdungen als Helfer in das Täter-Opfer-Dreieck hineinziehen und habe nachweislich geholfen, sämtliche Beweise und Sachvortrag gegen den Vater zu unterbinden. Im Übrigen seien sämtliche Einschätzungen des Sachverständigen unverwertbar, da dieser Charakter und Verhalten der Mutter ausgewertet habe. Eine Audiodatei mit Angaben des Kindes sei entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin nicht bis zum Schluss angehört worden. Es sei nicht über die Ablehnungsgesuche vom 11. und 20. Mai 2023 entschieden worden, sodass die Entscheidung des Oberlandesgerichts unter Mitwirkung der abgelehnten Richterin A. ergangen sei, was den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletze.
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b) Mit gesondertem Schreiben vom 25. Juli 2023 beantragt die Beschwerdeführerin, einstweilig insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter rückzuübertragen. Dem Kind entstünden schwerwiegende Nachteile in Form eines Schulwechsels nach München, erginge die einstweilige Anordnung nicht unverzüglich vor der Einschulung nach Ingolstadt oder zeitnah danach. Das Kind befinde sich seit zwei Jahren in der Obhut eines durch eine nicht diagnostizierte Persönlichkeitsstörung nicht erziehungsfähigen Vaters, der jeglichen Kontakt zur Mutter verhindere und diese mit unwahren Missbrauchsvorwürfen verleumde. Der Vater sei nicht in der Lage zu erkennen, dass mit seiner Diffamierung der mütterlichen Familie auch die mütterlich vererbten Anteile des Sohnes schlechtgeredet würden, was mithin eine tiefe Beleidigung des Sohnes darstelle. Auch die damit verbundene Parentifizierung habe erhebliche negative Folgen. Aushilfsweise werde als milderes Mittel beantragt, das gemeinsame Sorgerecht unter einer vollumfänglichen Vollmachtregelung zu installieren.
36
Mit Schreiben vom 4. August 2023 bekräftigt die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen und macht ergänzend geltend, dass der Vater und seine Lebensgefährtin Anfragen der Beschwerdeführerin betreffend einen Umgangskontakt trotz mehrfacher Erinnerung unbeantwortet gelassen hätten. Als Tatsache dürfe nunmehr angenommen werden, dass es sich bei dem Vater um einen Gewohnheitslügner handle. Es liege eine nicht mehr zu leugnende Kindeswohlgefährdung seelischer Art durch die absolute und nachgewiesene Tatsache der Bindungsintoleranz vor. Die Lebensgefährtin des Vaters scheine abhängig und servil, was die ungeeigneten Erziehungsmaßnahmen des Vaters angehe. Die einzige Möglichkeit, eine stabile Zukunft mit beiden Elternteilen zu gestalten, sei, einen Umgang anzubahnen, der schleunigst auf ganze Tage und das Wochenende auszudehnen sei; sollte das Kind bis dahin nicht überfordert sein, solle zur Einschulung ein Wechsel nach München erfolgen. In I...gingen keinerlei Kindergartenfreunde zur Schule.
37
Mit Schreiben vom 25. August 2023 wiederholt und vertieft die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen weiter, insbesondere zu der von ihr behaupteten Borderline-Störung des Vaters.
38
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz erachtet in seiner Stellungnahme vom 16. Oktober 2023 die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht für gegeben. Zum einen dürfte die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig sein, sodass eine einstweilige Anordnung von vornherein nicht in Betracht komme. Zum anderen lägen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch den Verfassungsgerichtshof nach Maßgabe der hierfür geltenden strengen Maßstäbe nicht vor.
II.
39
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Er ist unzulässig.
40
1. Der Verfassungsgerichtshof kann in Verfassungsbeschwerdeverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist (Art. 26 Abs. 1 VfGHG). Wegen der weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in der Regel auslöst, ist an die Voraussetzungen, unter denen sie erlassen werden kann, ein strenger Maßstab anzulegen (ständige Rechtsprechung; vgl. nur VerfGH vom 8.4.1992 VerfGHE 45, 49/52; vom 19.7.1995 VerfGHE 48, 83/85; vom 29.1.1998 VerfGHE 51, 27/30). Das Eilverfahren nach Art. 26 Abs. 1 VfGHG ist – ebenso wie das nach § 32 BVerfGG – nicht darauf angelegt, möglichst lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz vor dem Eintritt auch endgültiger Folgen zu bieten (VerfGH vom 20.6.2023 – Vf. 15-IVa-23 – juris Rn. 39 m. w. N.; vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 14.5.1996 BVerfGE 94, 166/ 216 f.; vom 7.7.2021 NVwZ 2021, 1368 Rn. 23).
41
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch den Verfassungsgerichtshof kommt danach nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen in Betracht als die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte. Insbesondere sind, wenn eine einstweilige Anordnung zur Abwendung eines geltend gemachten schweren Nachteils erstrebt wird, erheblich strengere Anforderungen an die Schwere des Nachteils zu stellen (vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 23.7.2013 - 2 BvR 1573/13 – juris Rn. 2; vom 9.12.2013 – 2 BvR 2541/13 – juris Rn. 5; vom 9.2.2022 – 2 BvR 167/22 – juris Rn. 3, vom 8.6.2023 – 2 BvQ 60/23 – juris Rn. 6).
Einstweilige Anordnungen können zudem nur dazu dienen, eine vorläufige Regelung zu treffen; sie dürfen die Hauptsacheentscheidung grundsätzlich nicht vorwegnehmen (vgl. VerfGH vom 19.7.1982 VerfGHE 35, 82/87; vom 6.5.2021 - Vf. 37-IVa-21- juris Rn. 16; vom 30.3.2022 – Vf. 13-IVa-22 – juris Rn. 14; vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 26.6.2014 – 2 BvR 1170/14 – juris Rn. 11; vom 6.7.2022 – 2 BvR 1139/22 – juris Rn. 4). Ein zulässiger Antrag nach Art. 26 Abs. 1 VfGHG erfordert zu allen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichend substanziierte Darlegungen (vgl. VerfGH vom 20.6.2023 – Vf. 15-IVa-23 – juris Rn. 39 m. w. N.; vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 28.9.2020 - 1 BvQ 106/20 – juris Rn. 3; vom 22.10.2020 NVwZ 2020, 1749 Rn. 4; vom 24.2.2022 – 1 BvQ 12/22 – juris Rn. 3).
42
2. Diesen Anforderungen wird der Antrag in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
43
a) Soweit die Beschwerdeführerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung „insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter rückzuübertragen“, würde dies in grundsätzlich unzulässiger Weise zumindest teilweise der Entscheidung in der Hauptsache vorgreifen. Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest vergleichbar sind, wenn also die stattgebende einstweilige Anordnung mit dem Zeitpunkt ihres Erlasses einen Zustand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verwirklichen erlaubt, der erst durch die zeitlich spätere Entscheidung in der Hauptsache hergestellt werden soll (vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 26.6.2014 – 2 BvR 1170/14 – juris Rn. 10; vom 10.10.2017 BVerfGE 147, 39 Rn. 12; vom 8.5.2019 NJW 2019, 2077 Rn. 4).
44
So liegt es hier. Denn das Aufenthaltsbestimmungsrechts ist ein wesentlicher Teil der elterlichen (Personen-)Sorge (§ 1631 Abs. 1 BGB). Der Antrag der Beschwerdeführerin auf nicht nur vorläufige Rückübertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist daher insoweit deckungsgleich mit ihrem in der Hauptsache verfolgten Rechtsschutzziel. Erst recht gilt dies, wenn man den Antrag dahin auslegen wollte, dass die elterliche Sorge komplett übertragen werden soll („insbesondere“). Der Beschwerdeführerin geht es im Ergebnis ersichtlich um eine zumindest teilweise eilige – positive – Entscheidung über ihr Begehren in der Hauptsache. Durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung soll aber lediglich ein Zustand vorläufig geregelt und nicht die Hauptsache präjudiziert werden (vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfGE 147, 39 Rn. 11; BVerfG vom 6.7.2022 – 2 BvR 1139/22 – juris Rn. 4). Umstände, die dafür sprechen könnten, dass die Vorwegnahme der Hauptsache hier ausnahmsweise zulässig wäre, etwa weil sonst ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Schaden entstünde (vgl. BVerfGE 147, 39 Rn. 16), sind weder nachvollziehbar dargelegt noch sonst ersichtlich. Insbesondere sind die Ausführungen der Beschwerdeführerin zu der behaupteten Kindeswohlgefährdung nicht hinreichend substanziiert.
45
b) Die Beschwerdeführerin legt nicht nachvollziehbar dar, dass die beantragte einstweilige Anordnung dringend geboten wäre, um schwere Nachteile im Sinn des Art. 26 Abs. 1 VfGHG abzuwehren.
46
aa) Im Rahmen der Prüfung, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten ist, hat der Verfassungsgerichtshof in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen (vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 4.2.2011 – 1 BvR 303/11 – juris Rn. 14; vom 12.12.2018 – 2 BvR 2588/18 – juris Rn. 20; vom 7.12.2020 NVwZ 2021, 143 Rn. 7; Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 32 Rn. 57 m. w. N.). Etwas anderes käme nur dann in Betracht, wenn die Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlerhaft wären oder deren Würdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtspositionen offensichtlich nicht trüge (vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 29.8.2015 NVwZ 2016, 244 Rn. 1; vom 31.5.2020 – 1 BvQ 63/20 – juris Rn. 8; vom 7.12.2020 NVwZ 2021, 143 Rn. 7; Lenz/Hansel, a. a. O., Rn. 58, jeweils m. w. N.).
47
bb) Daran gemessen ist weder substanziiert vorgetragen noch ersichtlich, dass mit der Übertragung des Sorgerechts auf den Kindsvater ein schwerer Nachteil in Form einer Kindeswohlgefährdung verbunden wäre.
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Das Oberlandesgericht kam in seiner angegriffenen Entscheidung nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten, des Kindes und des beauftragten Sachverständigen mit ausführlicher und ohne Weiteres nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis, dass sowohl die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge als auch die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl am besten entsprächen und auch verhältnismäßig seien. Das Oberlandesgericht befasste sich dabei ausdrücklich u. a. mit dem Vortrag der Beschwerdeführerin, der Vater leide an einer Borderline-Störung, und kam dabei sachverständig beraten zum Ergebnis, dass hierfür keine Anhaltspunkte vorlägen. Weiter legte das Oberlandesgericht seiner Entscheidung die Ausführungen des Sachverständigen zugrunde, wonach keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Kindsvater aktuell nicht erziehungsfähig sei, K. nicht ausreichend fördere oder ihn schlecht behandle. Dabei hat es auch den Vortrag der Beschwerdeführerin zum früheren Verhalten des Kindsvaters einschließlich des Inhalts der abgespielten Audiodatei berücksichtigt und gewürdigt (vgl. im Einzelnen die zusammenfassende Darstellung der Entscheidungsgründe oben unter I. 1. b) cc)).
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Dass die vom Oberlandesgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlerhaft wären oder die Tatsachenwürdigungen offensichtlich nicht trügen, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf. Ihr diesbezüglicher Vortrag erschöpft sich im Wesentlichen darin, ihre eigenen Behauptungen, Mutmaßungen und Wertungen den Gründen des Beschlusses des Oberlandesgerichts München gegenüberzustellen. Die bloße stetige Wiederholung von Vorwürfen gegen den Kindsvater, insbesondere dass dieser ein Gewohnheitslügner sei, in einer völlig verzerrten Realität lebe, bindungsintolerant sei und sich nicht um die Gesundheit des Kindes kümmere, vermag für sich eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit ebenso wenig aufzuzeigen wie die pauschale Behauptung, sämtliche kritischen Aussagen des Sachverständigen bezogen auf den Vater seien nicht zu Protokoll genommen worden. Die Würdigung des Inhalts der Audiodatei durch den Sachverständigen erscheint, auch mit Blick auf das vorgelegte Gesprächsprotokoll, ebenfalls nicht als offensichtlich fehlerhaft. Ferner fehlt substanziierter Vortrag dazu, welche weiteren tatsächlichen Anhaltspunkte noch vorlägen und vorgetragen worden wären, die auf das tatsächliche Vorliegen einer Borderline-Störung beim Kindsvater hindeuten könnten und dem Sachverständigen bei seiner mündlichen Anhörung nicht bekannt gewesen wären. Bloße subjektive Wertungen der Beschwerdeführerin oder abstrakte Darlegungen zu den Auswirkungen einer solchen Störung auf die Eltern-Kind-Beziehung genügen auch in diesem Zusammenhang nicht.
50
Schließlich lässt sich den Beschlussgründen in ihrer Gesamtheit nicht entnehmen, dass das Oberlandesgericht die Aussage des Kindes in seiner Anhörung falsch wiedergegeben hätte. Nach dem vorgelegten Vermerk über die Anhörung wollte das Kind auf die Frage, ob es sich an seine Mutter erinnere, nichts sagen und gab weiter an, sich nicht mehr an München zu erinnern und aus München nichts zu vermissen. Die maßgebliche Würdigung des Oberlandesgerichts in den Entscheidungsgründen, dass K. keine konkrete Erinnerung mehr an das Leben mit seiner Mutter und an sein dortiges Umfeld habe (S. 16), ist danach – unter zusätzlicher Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen – nachvollziehbar und jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft. Ungeachtet des Umstands, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin im Verfahren von Gesetzes wegen der Würdigung durch das Gericht unterliegt (§ 37 Abs. 1 i. V. m. § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG), ist auch nicht erkennbar, dass der Sachverständige und ihm folgend das Oberlandesgericht dieses oder ihren Charakter in offensichtlich fehlerhafter Weise zu ihrem Nachteil „ausgewertet“ hätten. In diesem Punkt wie auch im Übrigen werden nachvollziehbare Gründe, die für eine offensichtliche Unrichtigkeit der Feststellungen sprächen und zudem abweichend von diesen eine Kindeswohlgefährdung belegten, nicht dargetan.
51
Das weitere Vorbringen zu einem Schulwechsel für den Fall, dass das Sorgerecht oder zumindest das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Zukunft auf die Beschwerdeführerin übertragen werden sollte, zeigt schon im Ansatz keine schwerwiegenden Nachteile auf, die zum Erlass einer einstweiligen Anordnung führen könnten. Die vom Kindsvater tatsächlich oder vermeintlich erhobenen Missbrauchsvorwürfe gegen den Großvater der Beschwerdeführerin waren nicht Gegenstand der angegriffenen Entscheidungen. In Kindschaftssachen ist zudem zu berücksichtigen, dass die Entscheidung nicht an einer Sanktion des etwaigen Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG vom 4.2.2011 – 1 BvR 303/11 – juris Rn. 14 m. w. N.). Eine Kindeswohlgefährdung ergibt sich aus den von der Beschwerdeführerin behaupteten Äußerungen für sich nicht.
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Der von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang vorgenommene Verweis auf den Sachvortrag in anderen anhängigen Verfahren führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Denn es ist – auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung – nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, aus vorgelegten Anlagen den verfassungsrechtlich relevanten Sachverhalt und die daraus hergeleitete Verletzungsrüge selbst zu ermitteln (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 7.2.2017 – Vf. 84-VI-15 – juris Rn. 19; vom 20.9.2022 – Vf. 1-VI-22 – juris Rn. 29). Erst recht ist es nicht seine Aufgabe, diese Anlagen aus anderen anhängigen Verfahren zutage zu fördern, um eine ausreichende Grundlage für die verfassungsrechtliche Beurteilung zu schaffen (vgl. zur Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht BVerfG vom 21.2.2018 – 2 BvR 349/14 – juris Rn. 17; vom 8.9.2020 – 1 BvR 1038/20 – juris Rn. 2; Lenz/Hansel, BVerfGG, § 92 Rn. 35 m. w. N.).
53
c) Soweit die Beschwerdeführerin hilfsweise beantragt, eine „Vollmachtsregelung“ unter Beteiligung des Kindsvaters als Vollmachtnehmer in Kraft zu setzen, bestehen überdies deswegen Zulässigkeitsbedenken, weil der Verfassungsgerichtshof eine solche Rechtsfolge im Hauptsacheverfahren grundsätzlich nicht bewirken könnte (vgl. VerfGH vom 13.1.2022 – Vf. 88-IVa-21 – juris Rn. 18; vom 30.3.2022 - Vf. 13-IVa-22 – juris Rn. 14, jeweils m. w. N.; vgl. zu § 32 BVerfGG BVerfG vom 3.9.1957 BVerfGE 7, 99/105 f.; vom 4.7.1962 BVerfGE 14, 192/193; vom 13.2.2003 – 2 BvQ 3/03 – juris Rn. 20; Barzcak in Barzcak, BVerfGG, 2018, § 32 Rn. 7, jeweils m. w. N.). Entsprechendes gilt für die von ihr beantragte Umgangsregelung, die für den Fall, dass es nicht zu einem Aufenthaltswechsel des K. nach München käme, ersichtlich nicht nur vorläufig gemeint ist. Das Umgangsrecht besteht unabhängig vom Sorgerecht und stellt einen anderen Verfahrensgegenstand dar. Insoweit wird unter dem Aktenzeichen Vf. 28-VI-23 eine weiteres Verfassungsbeschwerdeverfahren der Beschwerdeführerin geführt, in dem sie sich u. a. gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 28. Juni 2023 Az. 12 UF 261/23 e zum Umgang wendet. Diese Bedenken können aber letztlich dahinstehen, da der Antrag wie dargelegt nicht den gesetzlichen Begründungserfordernissen genügt und daher jedenfalls aus diesem Grund unzulässig ist.
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3. Da der Antrag schon den Darlegungserfordernissen zu den besonderen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht genügt, kann ferner dahinstehen, ob eine einstweilige Anordnung auch deshalb ausscheidet, weil die Verfassungsbeschwerde aus prozessualen oder sachlichen Gründen bei vorläufiger Bewertung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.
III.
55
Es ist angemessen, der Beschwerdeführerin gemäß Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG eine Gebühr in Höhe von 1.500 € aufzuerlegen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist nicht auf das Hauptsacheverfahren beschränkt (vgl. VerfGH vom 28.7.1989 – Vf. 76-VI-89 – S. 8; vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris Rn. 23; vom 12.4.2021 – Vf. 21-VII-21 – juris Rn. 28; vom 28.6.2021 – Vf. 73-VII-20 – juris Rn. 29).