Inhalt

VG München, Urteil v. 15.11.2023 – M 31 K 23.32083
Titel:

Unbegründeter Asylantrag eines brasilianischen Staatsangehörigen

Normenketten:
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, §§ 3 ff.
GG Art. 16a Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Bei der befürchteten Bedrohung durch eine Drogenbande in Brasilien handelt es sich selbst bei Wahrunterstellung um kriminelles Unrecht, das kein Anknüpfung an die für die Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Merkmale des § 3 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 3b AsylG erkennen lässt. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Eine bestimmte soziale Gruppe muss als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen; maßgeblich kommt es darauf an, ob die Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine aufgrund bestimmter, diese gemeinsam prägender Eigenschaften wahrgenommen wird. Ein Asylbewerber als Familienangehöriger einer im Drogenhandel verstrickten Person weist keine ausreichend abgrenzbare soziale Gruppenidentität auf. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die zT in erheblicher Weise, vor allem in Favelas brasilianischer Großstädte präsenten kriminellen Banden, Gruppen und Milizen treten zwar bewaffnet auf und versuchen auf diese Art und Weise lokale und regionale Machtstrukturen aufzubauen, treten aber nicht im Sinne einer Bürgerkriegspartei gegen das staatliche Gewaltmonopol auf. Es handelt sich vielmehr um mafiös strukturierte Ausprägungen der Organisierten Kriminalität. (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Asylverfahren, Herkunftsland Brasilien, brasilianischer Staatsangehöriger, Asylantrag, subsidiärer Schutz, nationale Abschiebungsverbote, Verfolgungsfurcht, Drogenkriminalität, besondere soziale Gruppe, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
Fundstelle:
BeckRS 2023, 35255

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Der Kläger ist brasilianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 4. Februar 2022 gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 10. März 2022 einen Asylantrag.
2
Nach vorheriger persönlicher Anhörung am 9. Februar 2023 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 26. September 2023, dem Kläger zugestellt am 29. September 2023, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Brasilien oder in einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
3
Der Kläger hat am 4. Oktober 2023 zur Niederschrift des Urkundsbeamten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Beantragt wird sinngemäß,
4
den Bescheid der Beklagten vom 26. September 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, hilfsweise ihm die Flüchtlingseigenschaft oder weiter hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen, und noch weiter hilfsweise festzustellen, dass bei ihm Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Brasiliens vorliegen.
5
Die Beklagte übersandte die Behördenakten und beantragt
6
Klageabweisung.
7
Mit Beschluss vom 4. Oktober 2023 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
8
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

9
Die zulässige Klage ist sowohl im Hauptantrag als auch in den Hilfsanträgen unbegründet.
10
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Asylberechtigung oder der hilfsweise begehrten Flüchtlingseigenschaft oder des weiter hilfsweise angestrebten subsidiären Schutzes. Gleiches gilt für die noch weiter hilfsweise beantragte Feststellung, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Brasilien besteht. Vielmehr erweist sich der streitbefangene Bescheid des Bundesamts vom 26. September 2023 als rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
11
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG oder des internationalen Schutzes nach § 1 Abs. 1 Nr. 2, §§ 3 ff. AsylG.
12
Der Vortrag des Klägers ist nicht geeignet, seine Verfolgung oder das Drohen eines ernsthaften Schadens in Brasilien i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG oder §§ 3 ff. AsylG ausreichend zu belegen.
13
1.1 Weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG noch der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG liegen beim Kläger vor.
14
Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Asylberechtigter oder Flüchtling rechtfertigen würde, ist aus dem Vortrag des Klägers nicht ableitbar.
15
Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
16
Die Furcht vor Verfolgung (Art. 16a Abs. 1 GG, § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d der RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – BVerwGE 89, 162).
17
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe seiner Verfolgung und Bedrohung in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. §§ 15, 25 AsylG). Dabei hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmige Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei dessen Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung oder Bedrohung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in das Herkunftsland zurückzukehren.
18
Gemessen daran kann dem Vortrag des Klägers zur Überzeugung des Gerichts nicht entnommen werden, dass er von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren (vgl. § 3c AsylG) vor seiner Ausreise aus Brasilien aus asylrelevanten Gründen verfolgt wurde bzw. bei einer Rückkehr nach Brasilien mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit von diesen verfolgt werden würde. Das Gericht geht davon aus, dass für den Kläger im Falle der Rückkehr keine Verfolgungsgefahr besteht.
19
Dem Vortrag des Klägers zu den angeblich maßgeblich fluchtauslösenden Umständen ist bereits keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung zu entnehmen. Er gibt vor dem Bundesamt selbst ausdrücklich an, es sei ihm in Brasilien nichts passiert. Zudem ist es zur Überzeugung des Gerichts gänzlich lebensfremd, dass eine Drogenbande der Familie eines inhaftierten Mitglieds – hier des ehemaligen Schwagers des Klägers – zur Unterstützung Geld aufdrängt. Warum sich daraus sodann in weiterer Folge nach dem Tod des früheren, die Familie unterstützenden Bandenchefs durch einen neuen Bandenchef nunmehr eine Bedrohungslage für die Familie – und damit auch den Kläger – ergeben soll, erschließt sich dem Gericht ebenfalls nicht. Die Angaben des Klägers hierzu, soweit überhaupt der Sache nach nachvollziehbar, sind jedenfalls unschlüssig.
20
Unabhängig davon handelte es sich bei der vorgebrachten Bedrohung durch die Drogenbande, deren Nachstellung er mit Blick auf die angebliche Verstrickungen seines ehemaligen Schwagers in Drogengeschäfte für sich und seine Familie fürchtet, selbst bei Wahrunterstellung um kriminelles Unrecht, das keine Anknüpfung an die für die Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Merkmale des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG erkennen lässt und damit keine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe belegen kann. Insbesondere wird der Kläger nicht dadurch Mitglied einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn er aufgrund von Verstrickungen von Familienangehörigen mit dem Drogenmilieu Nachstellungen von Kriminellen gegen sich und seine Familie fürchtet. Eine bestimmte soziale Gruppe muss als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen. Es kommt danach darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe aufgrund bestimmter, diese gemeinsam prägenden Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen wahrgenommen wird (vgl. aktuell z.B. VG Göttingen, U.v. 5.10.2021 – 3 A 83/20 – juris). Der Kläger weist als Familienangehöriger einer mit dem Drogenhandel verstrickten Person keine solche ausreichend abgrenzbare soziale Gruppenidentität auf.
21
Wiederum unabhängig vom vorstehend Ausgeführten selbstständig die vorliegende Entscheidung tragend, ist zudem festzustellen, dass es zur Überzeugung des Gerichts auch lebensfremd wäre, dass der Kläger – seinen Vortrag an dieser Stelle erneut als wahr unterstellt – im Falle einer Rückkehr nach einem nunmehr fast zweijährigen Auslandsaufenthalt in Brasilien landesweit und ohne jede Ausweichmöglichkeit, insbesondere in den Großstädten, von solchen Kriminellen, deren Nachstellung er letztlich fürchtet, aufgespürt und erneut bedroht werden könnte. Dies umso mehr deshalb, weil der Kläger selbst angibt, dass weitere Personen aus seiner Familie (drei Brüder der Mutter) unverändert und offenbar auch ohne Probleme durch Nachstellungen von krimineller Seite in Brasilien leben und arbeiten. Selbst im Falle einer unterstellten Verfolgungslage bestünde für ihn somit in Brasilien eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG (vgl. dazu VG München, U.v. 8.12.2021 – M 31 K 19.30364 – juris Rn. 32 ff. m.w.N.).
22
Eine weitere Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 VwGO) war nicht geboten, da der Kläger es unter Verstoß gegen seine Mitwirkungslast unterlassen hat, von sich aus einen ausreichend schlüssigen und widerspruchsfreien Sachverhalt zu schildern (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 86 Rn. 47). Nach Auffassung des Gerichts hat sich der Kläger im Frühjahr 2022 aus ungeklärten, indes nicht verfolgungsrelevanten Gründen zu einem Verlassen Brasiliens entschlossen; eine schutzrelevante Bedrohung in seiner Heimat ist nicht gegeben. Bei einer Gesamtschau des klägerischen Vortrags erweist sich dieser als unglaubhaft. Es drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass der Kläger zur angeblichen Bedrohung im Wesentlichen nicht ein von ihm selbst erlebtes, sondern ein in weiten Teilen erfundenes Geschehen schildert. Selbst im Falle einer Wahrunterstellung würde es sich zudem um keine asyl- oder flüchtlingsrelevante Verfolgung handeln. Auch könnte der Kläger einer etwaigen Bedrohung innerhalb Brasiliens örtlich ausweichen.
23
Eine Verfolgung in Brasilien durch staatliche oder insbesondere nichtstaatliche Akteure steht somit zur Überzeugung des Gerichts für den Kläger nicht zu befürchten.
24
1.2 Der Vortrag des Klägers ist auch nicht geeignet, das Drohen eines ernsthaften Schadens in Brasilien i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG ausreichend zu belegen.
25
Subsidiär schutzberechtigt ist, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe (Satz 2 Nr. 1), der Folter o-der unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Satz 2 Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts (Satz 2 Nr. 3). Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass einer dieser Tatbestände einschlägig wäre. Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Brasilien ein ernsthafter Schaden in Gestalt der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts drohen könnte.
26
Allenfalls käme hier eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt durch kriminelle Banden, Gruppen und Milizen in Betracht. Auch in der hier allein zu erwägenden Variante des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bedarf es dazu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Streitkräften, die sich von der bloßen willkürlichen Gewaltanwendung des Staates oder einzelner Gruppen gegen Zivilpersonen unterscheidet. Notwendig dafür ist ein Aufeinandertreffen entweder der regulären Streitkräfte mit bewaffneten Gruppen oder zwischen zwei oder mehreren bewaffneten Gruppen (vgl. EuGH, U.v. 30.1.2014 – C 285/12 – juris). In Brasilien fehlt es an einem solchen bewaffneten Konflikt, da sich keine Streitkräfte im vorgenannten Sinne gegenüberstehen. Die teilweise in erheblicher Weise, vor allem in Favelas verschiedener Großstädte präsenten kriminellen Banden, Gruppen und Milizen treten zwar bewaffnet auf und versuchen auf diese Art und Weise, lokale und regionale Machtstrukturen aufzubauen und durchzusetzen, treten aber nicht im Sinne einer Bürgerkriegspartei gegen das staatliche Gewaltmonopol auf. Es handelt sich vielmehr um mafiös strukturierte Ausprägungen der Organisierten Kriminalität, deren erhebliches Gewaltpotenzial sich gegen deren kriminellen Zielen widerstreitende Interessen verfolgende Bürger Brasiliens im Allgemeinen richtet (vgl. aktuell z.B. Home Office UK, Country Information Note Brazil: Background information inclu-ding internal relocation, November 2020, passim).
27
Wie vorstehend unter 1.1 ausgeführt, ist der individuelle Vortrag des Klägers zu einer Bedrohung durch eine kriminelle Bande bereits nicht glaubhaft, sodass auch keine weiteren Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Dem Kläger droht zur Überzeugung des Gerichts weder aufgrund der Sicherheitslage noch seiner persönlichen Situation als Auslandsheimkehrer ein ernsthafter Schaden. Zudem bestünde, wie ebenfalls bereits ausgeführt, für ihn eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG.
28
2. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheiden unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation in Brasilien und der individuellen Umstände des Klägers ebenfalls aus.
29
Im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass die Lage des Betroffenen und seine Lebensumstände im Fall einer Aufenthaltsbeendigung erheblich beeinträchtigt würden, allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, U.v. 27.5.2008 – 26565/05 – NVwZ 2008, 1334; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris; B.v. 25.10.2012 – 10 B 16/12 – juris). Unabhängig davon, in welchen Fällen existenzbedrohende Armut im Sinne von Art. 3 EMRK relevant sein kann, liegen Anhaltspunkte hierfür nicht vor.
30
Der Kläger ist volljährig und arbeitsfähig; die normative Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG ist nicht widerlegt. Hinweise darauf, dass der Kläger nach seiner Rückkehr – allein oder gegebenenfalls mit familiärer Unterstützung, namentlich durch die im Heimatland lebende Familie, insbesondere seine Onkel – nicht in der Lage sein wird, das Existenzminimum für sich zu sichern, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Es ist nichts dafür erkennbar, dass der Kläger, der in seiner Heimat aufgewachsen und sozialisiert ist, dort bereits gearbeitet hat und zudem über Auslandserfahrung verfügt, nicht in der Lage wäre, im Falle der Rückkehr seinen Lebensunterhalt zumindest „mit seiner Hände Arbeit“, wenn gegebenenfalls auch auf eher niedrigem Niveau, so doch noch ausreichend zu bestreiten. Bessere wirtschaftliche oder soziale Perspektiven in Deutschland begründen im Übrigen kein Abschiebungsverbot.
31
Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Danach soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn im Zielstaat für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
32
Bei den in Brasilien vorherrschenden Lebensbedingungen handelt es sich um eine Situation, der die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, weshalb Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt wird. Eine extreme Gefährdungslage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise dann nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris), wenn ein Einzelner gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, liegt nicht vor. Dies hat das Bundesamt im streitbefangenen Bescheid unter Nr. 4 der Begründung (vgl. S. 6 bis 8) aktuell zutreffend festgestellt; hierauf wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG).
33
3. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie gegen die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG bestehen schließlich ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Auf die Feststellungen in Nr. 5 und 6 (S. 8 bis 11) der Begründung des streitbefangenen Bescheids wird gemäß § 77 Abs. 3 AsylG Bezug genommen.
34
Sonach war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
35
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.