Titel:
Einstweiliger Rechtsschutz hinsichtlich lebenserhaltender Maßnahmen
Normenketten:
ZPO § 529, § 531 Abs. 2, § 940
BGB § 1004 Abs. 1
TPG § 3 Abs. 2 Nr. 2, § 16 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Die Einschränkungen der §§ 529, 531 ZPO finden bei einstweiliger Verfügung im Berufungsverfahren aufgrund der besonderen Natur des einstweiligen Rechtsschutzes keine Anwendung. (Rn. 7 – 9)
2. Ein juristischer Todesbegriff, welcher auf den endgültigen Stillstand von Atmung und Kreislauf abstellt, ist für Fälle der intensivmedizinischen Behandlung ungeeignet, in denen der Kreislauf mit maschinellen Hilfsmitteln künstlich aufrechterhalten wird; maßgeblich ist stattdessen der (Gesamt-)Hirntod. (Rn. 20 – 27)
3. Streiten die Parteien im einstweiligen Rechtsschutz über die Gültigkeit einer Hirntodfeststellung, ist ein Unterlassungsanspruch gegen die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen unter Berücksichtigung der irreversiblen Folgen der zu treffenden Entscheidung für das Leben des Patienten bereits dann glaubhaft gemacht, wenn der Patient Zweifel an der Hirntodfeststellung aufzeigt, die nicht ohne Zuziehung eines gerichtlich bestellten Sachverständigen beurteilt werden können. (Rn. 28)
4. Die Kammer braucht nicht zu entscheiden, ob ein Hirntodfeststellungsverfahren unter Zuziehung eines externen Arztes der Einwilligung des Patienten bzw. seines Vorsorgebevollmächtigten bedarf und diesem Behandlungsunterlagen nur bei entsprechender Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zugänglich gemacht werden dürfen. (Rn. 32)
Schlagworte:
Hirntod, Unterlassungsanspruch, Todesbegriff, einstweiliger Rechtsschutz, neue Tatsachen
Vorinstanz:
AG Weiden, Endurteil vom 13.10.2023 – 3 C 583/23
Fundstellen:
FDMedizinR 2024, 935247
BeckRS 2023, 35247
MedR 2024, 516
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten Kliniken N2. AG gegen das Urteil des Amtsgerichts Weiden i.d. OPf. vom 13.10.2023, Az. 3 C 583/23 (Az. 22 S 36/23), und die Berufung des Beklagten Dr. C1. gegen das Urteil des Amtsgerichts Weiden i.d. OPf. vom 13.10.2023, Az. 3 C 584/23 (Az. 22 S 37/23, hierher verbunden), werden zurückgewiesen.
II. Die Beklagten haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu je 1/2 zu tragen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 20.000,00 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Von der Darstellung des Tatbestands wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.
2
Die zulässige (§§ 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 517, 519 Abs. 1 u. 2, 520 Abs. 1 bis 3 ZPO) Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.
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Auf der Grundlage der im Berufungsverfahren zu Grunde zu legenden Tatsachen hat die Verfügungsklägerin einen Anspruch gegen die Beklagten gem. § 1004 Abs. 1 Satz 2 analog BGB auf Unterlassen der Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen bzw. auf Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen, der Beatmung und der Gabe von kreislaufunterstützenden Medikamenten sowie von hormonellen Medikamenten zur Behandlung des Wasser- und Salzhaushalts, der Schilddrüsenfunktion und der Funktion der Nebennieren. Es besteht außerdem ein Anspruch der Verfügungsklägerin gegen die Verfügungsbeklagten auf Wiederaufnahme und Fortsetzung der tumorspezifischen Therapie sowie die Gabe von Vitaminen und darmbeeinflussenden Medikamenten.
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1. Die Kammer hatte vorliegend aufgrund der besonderen Natur des einstweiligen Rechtsschutzes ihrer Entscheidung sämtliche neuen Tatsachen sowie neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel zugrunde zu legen.
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In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob sich für die Berücksichtigung neuer Tatsachen und Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz aus der Natur des einstweiligen Rechtsschutzes heraus Besonderheiten ergeben. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO in der Berufungsinstanz im einstweiligen Rechtsschutz Anwendung finden.
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Die Gerichte wenden § 531 Abs. 2 ZPO teilweise auch in Berufungsverfahren betreffend den einstweiligen Rechtsschutz an (Dötsch, MDR 2010, 1429, 1430 m.w.N.). Stimmen im Schrifttum, die dies befürworten, argumentieren damit, dass die Normen dem Eilcharakter des Verfahrens nicht entgegenstünden (Dötsch, MDR 2010, 1429, 1430 m.w.N.).
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Gewichtige Gegenstimmen in Rechtsprechung und Literatur verneinen indes die Anwendbarkeit des § 531 Abs. 2 ZPO wegen der Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes insgesamt (so etwa OLG Frankfurt, Urteil vom 22. März 2005 – 11 U 64/2004 –, Rn. 48, juris; OLG Hamm, Urteil vom 11. Mai 2007 – 9 U 37/07 –, Rn. 60, juris; MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 922 Rn. 25; Musielak/Voit/Huber, 20. Aufl. 2023, ZPO § 925 Rn. 10; Dötsch, MDR 2010, 1429, 1430).
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Die Kammer schließt sich der zweiten Auffassung an. Der Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren ist nämlich auch in der Berufungsinstanz grundsätzlich der Tatsachenstand zum Zeitpunkt der Beendigung der mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz zugrunde zu legen (MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 922 Rn. 25), sodass für die Anwendung von Verspätungsvorschriften kein Raum ist (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 22. März 2005 – 11 U 64/2004 –, Rn. 48, juris). Darüber hinaus kann im Eilverfahren z.B. auch die Präsentation eines von einer Partei gestellten Zeugen noch in der Berufungsverhandlung erfolgen, §§ 525 Satz 1, 294 ZPO. Dies spricht dafür, dass nichts anderes zu gelten hat, wenn materiellrechtlicher Vortrag erst schriftsätzlich in der zweiten Instanz oder erst im Termin erfolgt (in diesem Sinne auch OLG Hamm, Urteil vom 11. Mai 2007 – 9 U 37/07 –, Rn. 60, juris).
9
Die Kammer hatte bei ihrer Entscheidung daher sämtlichen neuen Tatsachenvortrag der Parteien sowie sämtliche vorgebrachten Glaubhaftmachungsmittel zu berücksichtigen.
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Soweit es um die beklagtenseits vorgetragenen Tatsachen zu einer weiteren Hirntodfeststellung vom 21.10.2023 sowie die hierzu ergänzenden Glaubhaftmachungsmittel geht, ergibt sich eine Zulässigkeit des Vorbringens darüber hinaus bereits aus §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO, da die vorgetragenen Tatsachen sowie Glaubhaftmachungsmittel nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung entstanden sind. Sind Angriffs- und Verteidigungsmittel erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung in der Vorinstanz entstanden, konnte keine Partei sie im ersten Rechtszug einführen. Nachlässigkeit liegt damit von Hause aus nicht vor (MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 531 Rn. 26).
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2. Die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagten gem. § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 940 ZPO einen Anspruch auf Unterlassen der Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen bzw. auf Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen, der Beatmung und der Gabe von kreislaufunterstützenden Medikamenten sowie von hormonellen Medikamenten zur Behandlung des Wasser- und Salzhaushalts, der Schilddrüsenfunktion und der Funktion der Nebennieren.
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2.1. Der Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB schützt unmittelbar nur das Eigentum bzw. bestimmte dingliche Rechte. Jedoch werden, wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, entsprechend § 1004 BGB alle absoluten Rechte, wie auch das Leben, geschützt (Palandt/Herrler, § 1004, Rn. 4).
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Die Verfügungsklägerin muss darlegen und glaubhaft machen, dass durch das von den Beklagten angekündigte Abschalten der Beatmung eine ernsthaft drohende Beeinträchtigung ihres Lebens zu besorgen ist. Maßgeblich ist insoweit der Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung. Es gelten, wenn es um Glaubhaftmachung und Gegenglaubhaftmachung geht, die allgemeinen Regeln der Darlegungs- und Beweislast (OLG Dresden Beschluss vom 27.8.2018 – 22 UF 601/18, BeckRS 2018, 30713 Rn. 19, beck-online). Insoweit hat die Verfügungsklägerin die Glaubhaftmachungslast für ihr absolutes Recht und die bevorstehende Beeinträchtigung sowie für die Tatsachen, aus denen sich die Verantwortlichkeit der Beklagten ergibt (MüKoBGB/Raff, 9. Aufl. 2023, BGB § 1004 Rn. 321).
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Grundsätzlich müssen tatsächliche Behauptungen, auf die eine gerichtliche Entscheidung gestützt werden soll, in einem Beweisverfahren gem. §§ 355 ff. ZPO bewiesen werden, d.h. es muss die richterliche Überzeugung von der Wahrheit der streitigen Behauptung begründet werden. In den Fällen der Glaubhaftmachung tritt an die Stelle des Vollbeweises eine Wahrscheinlichkeitsfeststellung (BGH, Beschluss vom 11. 9. 2003 – IX ZB 37/03, NJW 2003, 3558) . Dabei ist es allein Sache der Partei, der die Last der Glaubhaftmachung obliegt, die Beweismittel beizubringen; sie müssen in der mündlichen Verhandlung präsent sein (BGH, Beschluss vom 11. 9. 2003 – IX ZB 37/03, NJW 2003, 3558).
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Wo Glaubhaftmachung zugelassen ist, gilt das auch für Gegenbehauptungen und Einwendungen des Gegners (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 294 ZPO, Rn. 2).
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Eine Glaubhaftmachung scheitert nicht schon dann, wenn nicht festgestellt werden kann, ob die Darstellung der einen Partei oder der anderen Partei zutrifft. Anders als in Konstellationen, in denen eine Partei den (vollen) Beweis für eine Behauptung zu erbringen hat, ist eine Glaubhaftmachung selbst bei Vorliegen vernünftiger Zweifel nicht ausgeschlossen. Die Behauptung ist schon dann glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. Diese Voraussetzung ist schon dann erfüllt, wenn bei der erforderlichen umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen Falls mehr für das Vorliegen der in Rede stehenden Behauptung spricht als dagegen. Diese Würdigung vorzunehmen, ist – ebenso wie die Beweiswürdigung nach § 286 ZPO – grundsätzlich Sache des Tatrichters (BGH, Beschluss vom 21. 10. 2010 – V ZB 210/09, NJW-RR 2011, 136, 137).
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Wie in der Literatur zu Recht kritisiert wird, ist die von der Rechtsprechung häufig verwendete Formel, es genüge eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“, unscharf (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 294 ZPO, Rn. 6). Denn welches Maß an Glaubhaftmachung erforderlich ist, kann nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Zielsetzung des einstweiligen Verfügungsverfahrens entschieden werden (MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 935 Rn. 14). Der Art der Gefährdung kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Es ist deshalb ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an Glaubhaftigkeit erforderlich, d.h. die Sicherheit der Feststellung muss von den Folgen der zu treffenden Entscheidung abhängig gemacht werden (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 294 ZPO, Rn. 6).
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2.2. Gemessen an diesem Maßstab hat die Verfügungsklägerin einen Unterlassungsanspruch gerichtet darauf, ihr Leben durch Abschalten der Geräte bzw. Beendigung der Therapie nicht zu beenden, glaubhaft gemacht.
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Die Parteien streiten darüber, ob bei der Verfügungsklägerin der Hirntod eingetreten ist. Die Feststellung des Hirntodes bedeutet, dass keine ärztliche Indikation für therapeutisch ausgerichtete Maßnahmen mehr besteht. In einem solchen Fall besteht auch keine Verpflichtung mehr, Atmung und Herz-Kreislauf-Funktionen aufrechtzuerhalten (Stellungnahme des Deutschen Ethikrates vom 24. Februar 2015, Hirntod und Entscheidung zur Organspende, S. 158; darauf Bezug nehmend Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, BÄO § 1 Rn. 26, beckonline).
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2.2.1. Im Gegensatz zur Regelung des § 1 BGB für den Beginn der Rechtsfähigkeit gibt das BGB keine Kriterien dafür an, wann der Tod als eingetreten anzusehen ist. Daraus ist mit Recht gefolgert worden, dass die rechtliche Betrachtung sich hier an die in der medizinischen Wissenschaft herrschenden Auffassungen anschließen müsse (Staudinger/Fritzsche (2018) Vorbem zu § 1 VerschG, Rn. 3).
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Im Regelfall kann für die Definition des Todes auf den endgültigen (d.h. nicht rückgängig gemachten) Stillstand von Atmung und Kreislauf zurückgegriffen werden (MüKoBGB/Leipold, 9. Aufl. 2022, BGB § 1922 Rn. 12). Diese Definition ist jedoch für solche Fälle ungeeignet, in denen aufgrund der Fortschritte der Intensivmedizin der Kreislauf mit maschinellen Hilfsmitteln künstlich aufrechterhalten wird (MüKoBGB/Leipold, 9. Aufl. 2022, BGB § 1922 Rn. 13). Für diesen Fall stellt die heute weithin herrschende Auffassung in Übereinstimmung mit der medizinischen Wissenschaft auf den (Gesamt-)Hirntod ab (vgl. OLG Köln NJW-RR 1992, 1480, 1481; OLG Frankfurt NJW 1997, 3099, 3100; BayObLG NJW-RR 1999, 1309, 1311; Martinek/Heine in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 1 BGB (Stand: 15.05.2023), Rn. 12); BeckOK BGB/Poseck, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 1 Rn. 20; Grüneberg/Ellenberger Rn. 3).
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Ihr schließt sich die Kammer an. Denn ein juristischer Todesbegriff kann und muss nicht mehr leisten, als an den nach medizinischen Standards festgestellten Tod anzuknüpfen, um Rechtsfolgen auszulösen (Staudinger/Fritzsche (2018) Vorbem zu § 1 VerschG, Rn. 8; (BeckOGK/Behme, 1.5.2023, BGB § 1 Rn. 32).
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Abzulehnen ist der von Stimmen im Schrifttum gemachte Vorschlag, den Todesbegriff aufzuspalten (vgl. etwa MüKoBGB/Spickhoff, 9. Aufl. 2021, BGB § 1 Rn. 26; insgesamt hierzu Staudinger/Fritzsche (2018) Vorbem zu § 1 VerschG). Dies wäre systemwidrig, da die Beurteilung des Todeszeitpunkts nicht davon abhängen sollte, ob es um strafrechtliche, arztrechtliche oder erbrechtliche Folgen des Todes geht.
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Aus demselben Grund sind Auffassungen abzulehnen, welche das Konzept des Hirntodes generell ablehnen (so etwa Beckmann, JZ 2023, 947). Insbesondere in Fällen, in denen Atmung und Kreislauf durch Intensivtherapie künstlich aufrechterhalten werden, ist es notwendig, für die Beurteilung des zivilrechtlichen Todesbegriffs grundsätzlich den nach medizinischen Standards festgestellten Tod zugrunde zu legen (MüKoBGB/Leipold, 9. Aufl. 2022, BGB § 1922). Eine Auffassung, welche lediglich den Herz-Kreislauf-Tod anerkennt, würde zu nicht auflösbaren Wertungswidersprüchen führen, insbesondere wenn es um die Beurteilung der Zulässigkeit von Organentnahmen geht.
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Für die Definition des Hirntodes ist die Definition in § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG heranzuziehen. Dort wird der Hirntod dahingehend definiert, dass der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt sein muss.
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Der Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft wird gem. § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG in einer Richtlinie der Bundesärztekammer festgestellt. Nach deren aktueller Fassung (Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünfte Fortschreibung, nachfolgend: Richtlinie) erfordert die Diagnose des irreversiblen Ausfalls der Hirnfunktion zwingend
1. die Erfüllung der Voraussetzungen der Feststellung des irreversiblen Funktionsausfalls, d.h.
1.1. das Vorliegen einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung,
1.2. den Ausschluss reversibler Ursachen der klinischen Symptome des Hirnfunktionsausfalls,
2. das Vorliegen der klinischen Symptome des Hirnfunktionsausfalls,
3. den Nachweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallssymptome.
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Sofern also der Hirntod nach der Richtlinie festgestellt werden kann, besteht keine ärztliche Indikation mehr für therapeutisch ausgerichtete Maßnahmen und ist von dem Tod des Patienten auszugehen.
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2.2.2. Unter Berücksichtigung der irreversiblen Folgen der zu treffenden Entscheidung für ein überragend wichtiges Rechtsgut, nämlich das Leben der Verfügungsklägerin, ist nach Überzeugung der Kammer ein Unterlassungsanspruch der Verfügungsklägerin glaubhaft gemacht. Nachdem durch ein Abschalten der Maschinen das Leben der Verfügungsklägerin irreversibel erlöschen würde, genügt aufgrund der durchzuführenden Interessenabwägung für das Maß der Glaubhaftmachung, dass zumindest eine hinreichende Aussicht der Verfügungsklägerin besteht, der eine gleichermaßen hinreichende Aussicht auf der Seite der Verfügungsbeklagten gegenübersteht.
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2.2.2.1. Zwar wurde am Abend des 29.09.2023 von dem Beklagten zu 2) und Dr. A2. L1. jeweils ein Protokollbogen entsprechend der Anlagen 1 zur Richtlinie der Bundesärztekammer gem. § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünfte Fortschreibung nach erfolgtem EEG bei der Verfügungsklägerin ausgefüllt und unterzeichnet. Dabei diagnostizierte Dr. C2. einen hypoxischen Hirnschaden nach Einblutung, Dr. L1. einen hypoxischen Hirnschaden nach Hydrocepholus (vgl. Anlage K06).
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Am 21.10.2023 wurde die Verfügungsklägerin von Prof. Dr. E. und Dr. S3., einer Ärztin der Beklagten zu 1), ohne Einverständnis des Vorsorgebevollmächtigten erneut klinisch untersucht. Dabei wurde auch die vorliegende Behandlungsdokumentation der Verfügungsklägerin sowie das am 29.09.2023 durchgeführte EEG eingesehen. Nach Untersuchung der klinischen Symptome des Hirnfunktionsausfalls bei der Verfügungsklägerin wurde von Prof. E. und Dr. S3. jeweils ein Protokollbogen entsprechend der Anlage 1 zur Richtlinie der Bundesärztekammer gem. § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünfte Fortschreibung ausgefüllt und unterzeichnet. Dabei wurde folgende Diagnose gestellt: Hirnschädigung durch Hirndruck, Hypoxie, Hydrocephalus, nach Hirnmetastasen bei Mamma-Karzinom (vgl. Neurologisches Fachgutachten Prof. E. vom 22.10.2023, BerKV Anlage 2, S. 27 ff.).
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Jedoch bestehen aufgrund der von der Verfügungsklägerin vorgelegten wissenschaftlichen Belege in Zusammenschau mit der neurologischen Einschätzung, welche durch Prof. E. als sachverständiger Berater der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erfolgte, nicht überwindbare Zweifel, ob bei der Verfügungsklägerin der Hirntod eingetreten ist.
32
Es kann daher offen bleiben, ob die Hirntodfeststellung vom 21.10.2023 angesichts der fehlenden Einwilligung und Schweigepflichtsentbindung durch den Vorsorgebevollmächtigten der Verfügungsklägerin rechtswidrig erfolgte.
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2.2.2.2. Der sachverständige Berater der Beklagten Prof. E. hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2023 ausgeführt, dass im vorliegenden Fall eine außergewöhnliche Dynamik bestehe, da ein Hirntod in perpetuierter Form vorhanden sei. In einem solchen Fall wandle sich das tote Gehirn, es werde gallertartig und schrumpfe. Dies bedeute, dass durch den Zerfall des Gehirns eine Druckentweichung vorliege. Jedoch seien nicht zwingend große Hirngefäße geschädigt. Es sei deshalb denkbar, dass im Rahmen einer Perfusionsuntersuchung, welche durch Ultraschall, eine computertomographische Angiographie (CTA) sowie eine Szintigrafie stattfinden könne, eine Durchblutung des Gehirns der Verfügungsklägerin darstellbar sei. Dieser Umstand besitze indes aus neurologischer Sicht und nach den Richtlinien keine hinreichend adäquate Aussagekraft. Es sei deshalb nach den Vorgaben der Richtlinie im vorliegenden Fall ein EEG durchzuführen. Dass in den Fällen, in denen der Hirndruck abnehme, eine Perfusionsuntersuchung in ihrer Aussagekraft stark eingeschränkt sei, ergebe sich auch aus den Richtlinien der Bundesärztekammer. Diese führten unter Ziffer 3.2.3 aus, dass trotz irreversibel erloschener Gesamtfunktion des Gehirns eine Blutzirkulation teilweise erhalten sein könne, wenn der intrakranielle Druck nicht über den arteriellen Mitteldruck ansteigen kann, z. B. bei großen offenen Schädel-Hirn-Verletzungen, nach Dekompressions-Kraniektomien, als Folge einer Hypoxie oder bei offenen Fontanellen. In diesen Fällen seien nach der Richtlinie Verfahren, die auf den Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstandes beruhen, in ihrer Sensitivität eingeschränkt. Dies werde auch durch die Anmerkung 9 der Richtlinie klar, welche für die soeben geschilderten Fälle bei einer noch vorhandenen Zirkulation verlange, dass die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls entweder durch klinische Verlaufsuntersuchungen nach den normierten Wartezeiten oder durch neurophysiologische Befunde nachzuweisen sei. Zwar stehe im vorliegenden Fall keine äußere Verletzung des Schädels in Rede, durch die der Druck im Gehirn entweiche. Jedoch bestehe möglicherweise eine vergleichbare Lage bei einem länger andauernden Hirntod. Im vorliegenden Fall sei festzustellen, dass, je länger man sich vom Zeitpunkt der Hirntod-Feststellung wegbewege, man sich wissenschaftlich auf umso unsichereren Terrain bewege. Aufgrund der Unsicherheiten, die mit einer Perfusionsuntersuchung einhergingen, sei es deshalb vorzugswürdig, stattdessen ein EEG durchführen. Eine fehlende Durchblutung der großen Gefäße beweise zwar den Hirntod, jedoch schließe eine Durchblutung der großen Gefäße den Hirntod nicht aus.
34
Zu dem am 29.09.2023 durchgeführten EEG könne er feststellen, dass dieses eine sehr hohe Sensibilität aufweise. Ein normales EEG zeige Alphawellen, bei der Verfügungsklägerin seien jedoch nur Deltawellen in einem langsamen Rhythmus von drei bis vier zu erkennen. Der durchführende Arzt Dr. L1. habe darüber hinaus Schmerzreize gesetzt, jedoch auch daraufhin keine geregelte hirneigene Aktivität erkennen können. Das EEG vom 29.09.2023 zeige eine Nulllinie. Nach Durchsicht des gesamten EEG-Befundes vom 29.09.2023 habe er keinerlei Hinweise auf eine hirneigene Aktivität bei der Verfügungsklägerin erkennen können.
35
Nach den weiteren Ausführungen des Prof. E. habe die der Verfügungsklägerin jedenfalls noch am 29.09.2023, nicht mehr aber am 21.10.2023, verabreichte Valproinsäure keinen Einfluss auf die durchgeführten EEG-Untersuchungen. Valproinsäure stelle ein Medikament dar, welches primär zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt werde. Man könne feststellen, dass selbst bei einem hohen Spiegel, ein normaler Wert liege bei ca. 100, die kognitive Tätigkeit eines Patienten unbeeinträchtigt gegeben sei. Im vorliegenden Fall wurde einen Tag vor der Hirntodfeststellung am 29.09.2023 ein Wert unter 12 gemessen. Darüber hinaus sei festzustellen, dass laut den Richtlinien der Bundesärztekammer selbst hohe Dosen von Narkotika unschädlich seien. Ihm sei auch kein Fall bekannt, in dem sich Valproinsäure auf das EEG derart ausgewirkt hätte. Es sei ausgeschlossen, dass eine Nulllinie unter der Gabe von Valproinsäure vorliege. Auch das Ergebnis der klinischen Untersuchung könne durch die Gabe der Valproinsäure im vorliegenden Fall nicht beeinträchtigt werden.
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Bei einem gesunden Menschen – so Prof. E. – stelle das Gehirn eine Art geregeltes softwaregesteuertes Organ dar, während das Rückenmark als Leitungsbahn fungiere. Das Rückenmark sei jedoch auch in der Lage, Reflexe ohne Steuerung durch das Gehirn zu verarbeiten. Bewegungen, welche ohne Steuerung im Gehirn stattfinden, seien im Rahmen eines Hirntodes nicht ungewöhnlich, sondern diesem vielmehr immanent. Sie könnten ausgelöst werden selbst durch minimale Reize oder träten spontan auf. Bewegungen entstünden im Falle des Hirntods durch ein Aktivwerden des Rückenmarks. Wissenschaftliche Vermutungen ließen es sogar wahrscheinlich erscheinen, dass derartige Bewegungen für den Hirntod typisch seien. Sie seien nämlich nur in Fällen des Hirntodes zu beobachten, nicht dagegen bei üblichen komatösen Patienten. Im Rahmen seiner Befundung am 21.10.2023 habe er noch Bewegungen bei der Verfügungsklägerin feststellen können.
37
Derartige spinale Reflexe seien jedoch auf den Rückenmarksbereich beschränkt. Im Rahmen seiner Untersuchung am 21.10.2023 habe er nach Schmerzreizen im Gesicht (welche durch Hirnnerven prozessiert werden) keine Bewegung feststellen können. Die spinalen Reflexe reichten bis zur Kinnunterkante. Es sei deshalb möglich, dass auch eine Kopfdrehung sich noch als spinaler Reflex darstelle. Eine Kopfbewegung könne aber auch gehirngesteuert erfolgen. Hierfür müsse jedoch der musculus sternocleidomastoideus aktiv gewesen sein. Dies habe er für die im Rahmen seiner Untersuchung festgestellten Seitwärtsdrehungen des Kopfes indes durch Betasten der Muskulatur während der Kopfbewegung ausschließen können.
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Zum Zeitrahmen, im Rahmen dessen derartige Bewegungen auftreten können, sei eine wissenschaftliche Aussage schwierig, da nur in sehr seltenen Fällen eine derart lange Beatmungs- und Behandlungsdauer nach Hirntod-Feststellung vorliege.
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2.2.2.3. Dies zugrunde gelegt, steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das am 29.09.2023 durchgeführte EEG bei der Verfügungsklägerin eine Nulllinie gezeigt hat. Ohne dass dies entscheidungserheblich wäre, vgl. Ziff. 2.2.2.4., erscheint es der Kammer ausgeschlossen, dass die Gabe von Valproinsäure, welche nachgewiesenermaßen nach dem am 28.09.2023 erhobenen Laborbefund im Spiegel unter 12, und damit – wie vom Beklagten zu 2) und dem sachverständige Berater Prof. E. nachvollziehbar erläutert – in einem irrelevant niedrigen Spiegel nachgewiesen wurde, eine Nulllinie im EEG verursachen kann.
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Die Kammer hat keinen Zweifel an der Richtigkeit der Ausführungen des Prof. E. und macht sich diese im Rahmen der Beweiswürdigung zu eigen. Die Ausführungen sind schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Prof. E., der als Facharzt für Neurologie 21 Jahre lang als Klinikleiter einer der größten neurologischen Kliniken Deutschlands am Klinikum Nürnberg (Paracelsus Medizinische Universität) tätig war, verfügt ohne Zweifel über eine sehr breite praktische Erfahrung. Seit 1990 hat er regelmäßig in seinen jeweiligen Funktionen HirntodFeststellungen nach den jeweils gültigen Richtlinien der Bundesärztekammer durchgeführt, insgesamt etwa 100. Er ist Mitglied der Kommission „Irreversibler Funktionsausfall“ der wissenschaftlichen Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Neurologie, DGN“. Zum Thema „Irreversibler Hirnfunktionsausfall“ hat er vielfach wissenschaftlich publiziert unter anderem auch zur wissenschaftlichen Grundlage von Reflexbewegungen bei Hirntoten.
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Selbst die von der Verfügungsklageseite vorgelegten wissenschaftlichen Publikationen zur Wirkung von Valproinsäure enthalten keine Aussage dahingehend, dass diese eine EEG-Nulllinie verursachen könnte. Die Verfügungsklägerin trägt insoweit vor, eine Studie zu „EEGVeränderungen unter Valproinsäure“ habe ergeben, dass sich bei einem begleitenden diffusen Hirnödem durch die Gabe von Valproinsäure im EEG eine „generalisierte Amplitudendepression“ entwickle (Besser, R. (2002), EEG-Veränderungen unter Valproinsäure. In G. Krämer & J. Walden (Eds.), Valproinsäure (pp. 121- 129), Springer, https://doi.org/10.1007/978-3-642-56329-4_10). Weitere Studien hätten EEGdämpfende Wirkung von Valproinsäure gezeigt. Clemens et al. seien zu dem Ergebnis gekommen, dass Valproin die Breitbandleistung reduziere (im englischen Original: „VA and LA did not decrease AMF (LA even increased it), but reduced broad-band power.“; Clemens, B. et al. (2006). Quantitative EEG effects of carbamazepine, oxcarbazepine, valproate, lamotrigine, and possible clinical relevance of the findings. Epilepsy Research, 70(2), 190 -199; https://doi.org/10.1016/j.eplepsyres.2006.05.003). Die Untersuchungen von Zöllner et al. deuteten darauf hin, dass die Behandlung mit VPA die APF [Alpha-Spitzenfrequenz] verlangsame. Die Studie zeige eine VPAbedingte Verlangsamung der Alpha-Spitzenfrequenz auch bei Patienten ohne elektroenzephalografische oder offene klinische Anzeichen einer Enzephalopathie (im englischen Original: “Conclusions: Our results suggest that VPA treatment slows the APF [alpha peak frequency]. This APF reduction correlates with the daily dose of VPA and is not present in LEV treatment. Significance: Our study identifies a VPArelated slowing of the APF even in patients without electroencephalographic or overt clinical signs of encephalopathy.”; Zöllner, J. P. et al. (2021). Valproate but not levetiracetam slows the EEG alpha peak frequency – A pharmaco-EEG study. Clinical Neurophysiology, 132(6), 1203-1208; https://doi.org/10.1016/j.clinph.2021.02.392). Damit ist Valproinsäure selbst nach dem eigenen Sachvortrag der Verfügungsklagepartei nicht geeignet, eine EEG-Nulllinie zu verursachen. Das EEG vom 29.09.2023 zeigt unstreitig keine Alphawellen, welche bei einem gesunden Menschen zu messen wären und auf welche sich Valproinsäure ggf. im Sinne einer Verlangsamung der Spitzenfrequenz auswirken könnte. Den von der Klägerin zitierten Artikeln lässt sich allenfalls eine durch Valproinsäure verursachte Verlangsamung der Frequenz entnehmen, nicht aber eine EEG- Nulllinie.
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2.2.2.4. Die mögliche Auswirkung einer Valproingabe auf das EEG der Verfügungsklägerin kann jedoch offen bleiben, da jedenfalls die von der Verfügungsklägerin zur Begründung des Verfügungsanspruchs vorgelegten wissenschaftlichen Belege in Zusammenschau mit den Ausführungen des Prof. E. zu den bei der Verfügungsklägerin durch den Zeugen J. F. beobachteten Gesichtsbewegungen ernst zu nehmende Zweifel am Ausfall des Hirnstamms begründen. Aufgrund des langen Zeitraums, in dem Bewegungen bei der Verfügungsklägerin zu beobachten sind und waren sowie aufgrund eines vom Zeugen J. F. beobachteten Zusammenkneifens der Augen hat die Kammer Zweifel, ob die Bewegungen der Verfügungsklägerin mit einem Hirnstammfunktionsausfall kompatibel sind.
43
Unstreitig waren bei der Verfügungsklägerin zum Zeitpunkt der beiden Hirntodfeststellungen am 29.09.2023 und 21.10.2023 Bewegungen feststellbar, welche auch noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 21.11.2023 vorlagen. Die Verfügungsklagepartei behauptet unter Verweis auf wissenschaftliche Belege, dass die Bewegungen der Verfügungsklägerin nicht als Spinalreflexe zu erklären seien. Denn zeitlich gesehen ließen sich spinal motorische Rückenmarksreflexe bei Hirntoten laut einer argentinischen Studie vor allem in den ersten 24 Stunden nach der Hirntoddiagnose feststellen. Nach 72 Stunden sei in der genannten Studie nur noch Regungslosigkeit festgestellt worden (Saposnik, G., Bueri, J. A., Maurino, J., Saizar, R., & Garretto, N. S. (2000). Spontaneous and reflex movements in brain death. Neurology, 54(1), 221-221; https://doi.org/10.1212/WNL.54.1.221; Spektrum.de. (2020) Rückenmark verantwortlich für Reflexbewegungen nach dem Hirntod, https://www.spektrum.de/news/rueckenmarkverantwortlich-fuer-reflexbewegungen-nach-dem-hirntod/343593, vgl. Anlage K12).
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Der sachverständige Berater Prof. E. hat zur zeitlichen Dauer von Spinalreflexen ausgeführt, dass eine wissenschaftliche Aussage hierzu schwierig sei, da es nur seltene Fälle gebe, in denen eine derart lange Beatmungs- und Behandlungsdauer nach Hirntod-Feststellung vorliege.
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Dies zugrunde gelegt, bestehen bereits aufgrund der langen Dauer der bei der Verfügungsklägerin beobachteten Körperbewegungen Zweifel, ob es sich dabei um vom Rückenmark gesteuerte spinale Reflexe handelt, welche dem Hirntod immanent sind, oder (noch) um vom Gehirn gesteuerte Vorgänge. Diese medizinische Fragestellung lässt sich mit den Mitteln des einstweiligen Rechtsschutzes, insbesondere ohne gerichtlich bestellten Sachverständigen, nicht valide beurteilen.
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Darüber hinaus hat der im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2023 einvernommene Zeuge J. F. auf Frage des Vorsitzenden nach Bewegungen im Kopfbereich, welche er nach 29.09.2023 beobachtet habe, geschildert, dass die Verfügungsklägerin auf ein Streicheln des Bauches hin ihre geschlossenen Augen zusammengekniffen habe. Dies habe für ihn wie ein Ausdruck eines Schmerzempfindens gewirkt. Auch habe er verschiedene Kopfwendebewegungen sehen können. Eine weitere Bewegung habe er feststellen können, nachdem der Bauch berührt worden sei. Dies sei vor etwa einer Woche gewesen. In diesem Fall sei der Mund auf und zu gegangen. Auch eine Bewegung der Lippen habe er gesehen. Die Ausführungen des Zeugen, welcher als Sohn der Verfügungsklägerin ein erhebliches eigenes Interesse am Verfahrensausgang hat, waren zur Überzeugung der Kammer glaubhaft. Der Zeuge hat sehr detailliert und differenziert die Bewegungen der Verfügungsklägerin wiedergegeben. Er hat dabei auch angesprochen, dass die Bewegungen geringer und sanfter werden. Der Zeuge hat auch deutlich gemacht, wenn er sich nicht sicher war oder sich an etwas nicht mehr erinnern konnte. Insbesondere das Zusammenkneifen der Augen hat er dabei selbst vorgemacht.
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Der Privatgutachter Prof. E. hat hierzu ausgeführt, dass einige der geschilderten Bewegungen völlig zwanglos Bewegungen spinalen Ursprungs darstellten, wie die Kopfwendebewegung. Anders stelle sich dies dar, sofern es um das Zukneifen der Augen gehe, welches beschrieben worden sei. Ein Zukneifen der Augen, wie es vorliegend geschildert wurde, spreche klar gegen das Vorliegen eines Hirntods. Allerdings sei festzustellen, dass der sogenannte Kornealreflex, also ein Reflex, der bei Streichen über die Hornhaut ausgelöst werde, im Rahmen der Hirntod-Feststellung überprüft werden müsse und als ausgefallen dokumentiert werden müsse. Sowohl bei der Hirntod-Feststellung am 29.09.2023 als auch bei der durch ihn und die weitere Untersucherin am 21.10.2023 durchgeführten Untersuchung sei dieser Reflex nicht auszulösen gewesen. Man könne dies wissenschaftlich nicht gut erklären. Jedenfalls sei ein solches Zukneifen der Augen nicht kompatibel mit einem Hirnstammfunktionsausfall.
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Sofern es um die geschilderten Lippenbewegungen gehe, dürften im Falle eines Hirntodes eigentlich eigenständige Bewegungen der Lippen nicht stattfinden. Man müsse aber die intensivmedizinische Situation beachten, bei der im Mund ein Tubus sowie in der Nase eine Magensonde liege. Bestimmte Würgevorgänge, die auch bei der Verfügungsklägerin aufträten, könnten zu den geschilderten Bewegungen im Mundbereich führen. Eine solche Lippenbewegung könne also auch ohne Hirnstammaktivität vorhanden sein.
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Jedenfalls aufgrund des vom Zeugen J. F. glaubhaft geschilderten Zukneifens der Augen, welches nach den Ausführungen des Prof. E. klar gegen das Vorliegen eines Hirntods spricht, bestehen aus Sicht der Kammer jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinreichend gewichtige Zweifel gegen das Vorliegen eines Hirntodes bei der Verfügungsklägerin. Der Verfügungsklägerin droht im Falle eines Abschaltens der Beatmung das Versterben. Es besteht mithin die Gefahr eines irreversiblen Schadens für ein überragend wichtiges Rechtsgut. Aufgrund der vorliegenden gewichtigen Zweifel gegen das Vorliegen eines Hirntodes hat die Verfügungsklägerin zur Überzeugung der Kammer glaubhaft gemacht, dass durch das Abschalten der Beatmung und die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen eine Beeinträchtigung ihres Lebens durch die Beklagten droht.
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3. Es besteht außerdem ein Anspruch der Verfügungsklägerin gegen die Beklagten auf Wiederaufnahme und Fortsetzung der tumorspezifischen Therapie sowie die Gabe von Vitaminen und darmbeeinflussenden Medikamenten aufgrund vertraglicher Verpflichtung, § 630a Abs. 1 BGB.
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3.1. Der Verfügungsbeklagte zu 2) ist entgegen der Berufung auch im Hinblick auf die Verpflichtung zur Tumortherapie passivlegitimiert, weil er in die Tumortherapie eingebunden war und letztlich darüber zu entscheiden hat, ob und wann der Verfügungsklägerin Krebsmedikamente verabreicht werden. Unstreitig ist der Beklagte zu 2) als Intensivmediziner für die intensivmedizinische Therapie zuständig und nicht befugt, über die Art und Weise der Tumortherapie zu entscheiden, da dies im Zuständigkeitsbereich der Onkologen liegt. Indes ist eine Tumortherapie nur möglich, wenn die Laborparameter dies zulassen. Eine Medikation erfolgte deshalb unstreitig immer in Rücksprache mit Dr. L2. und dem Beklagten zu 2). Je nach Befund der Laborwerte wurde von Tag zu Tag neu über die Medikamentengabe entschieden. Insofern war eine Freigabe der Intensivstation nötig. Vor diesem Hintergrund war der Beklagte zu 2) regelmäßig in die Medikation der Verfügungsklägerin involviert. Er ist mithin auch passivlegitimiert, soweit es um die Fortsetzung der tumorspezifischen Therapie der Verfügungsklägerin geht.
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3.2. Der Anspruch ist auch nicht dadurch entfallen, dass die medizinische Indikation – wie die Beklagtenseite vorträgt – seit August 2023 wegen infauster Prognose entfallen wäre.
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Grundsätzlich befindet sich der ärztliche Heileingriff im Einklang mit dem Recht, wenn er angezeigtermaßen (also aufgrund einer medizinischen Indikation) erfolgt, wenn er weiter gedeckt ist durch eine auf ausreichender Aufklärung beruhende Einwilligung des Patienten (informed consent) und wenn er außerdem nach den Regeln des Faches (lege artis) geschieht (Laufs/Kern/Rehborn ArztR-HdB, § 131 Die medizinische Forschung Rn. 63, beck-online). Dabei ist die Frage, ob eine Behandlung medizinisch indiziert ist, justiziabel und unterliegt gerichtlicher Kontrolle (vgl. beispielhaft BGH, Urteil vom 15. 7. 2003 – VI ZR 203/02NJW 2003, 3411, 3412).
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Diese Kernstücke ärztlicher Legitimation gelten grundsätzlich auch für individuelle Heilversuche, wie sie vorliegend unstreitig zwischen der Verfügungsklägerin und der Beklagten zu 1) vereinbart wurden. Zwar kann der Heilversuch nicht als im Sinne eines eingeführten, schulmäßigen Standards indiziert gelten. Doch verlangt er eine Vertretbarkeit jedenfalls in der Weise, dass der Arzt sich im Hinblick auf gewisse Anhaltspunkte oder Erfahrungen auch mit Vorversuchen und nach Abwägung des Für und Wider mit Fug Hoffnung auf eine Hilfe durch die neue Methode machen kann. Je aussichtsloser sich die Lage des mit herkömmlichen Mitteln behandelten Patienten darstellt, umso eher darf der Arzt einen Heilversuch auch mit nicht hoher Chance in Betracht ziehen (Laufs/Kern/Rehborn ArztR-HdB, § 131 Die medizinische Forschung Rn. 63, beck-online).
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Unstreitig haben sich die Verfügungsklägerin, der Vorsorgebevollmächtigte und die Beklagte zu 1) im August 2023 ungeachtet der infausten Prognose auf eine weitere Tumortherapie im Rahmen eines individuellen Heilversuchs geeinigt. Die Einleitung der Therapien erfolgte jeweils nach entsprechender Aufklärung über die Therapie als lediglich individueller Heilversuch.
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Die Kammer geht dabei – in Übereinstimmung mit den Angaben der behandelnden Gynäkologin Dr. L2. (vgl. eidesstattliche Versicherung vom 24.10.2023, BerKV Anlage 3) – davon aus, dass sich die Verfügungsklägerin und die Beklagte zu 1) auf einen derartigen individuellen Heilversuch geeinigt hatten zu einem Zeitpunkt, als aus medizinischer Sicht der Beklagten, auch nach Rücksprache mit weiteren Kollegen im Rahmen eines mulekularen Tumorboards im Universitätsklinikum Regensburg, die medizinische Indikation für die Fortsetzung der Tumortherapie entfallen war und stattdessen eine palliative Situation gegeben war, und zwar dergestalt, dass nicht nur keine Heilung zu erwarten war (und ist), sondern auch nicht von einer deutlichen Verbesserung des Allgemeinzustandes der Patientin auszugehen war (und ist). Obwohl aus Sicht der Beklagten die medizinische Indikation für die Tumortherapie eindeutig entfallen war, kamen die Beklagten dem Wunsch der Verfügungsklägerin und des Vorsorgebevollmächtigten nach einer weiteren Tumortherapie nach und vereinbarten, dass die Therapie als individueller Heilversuch fortgesetzt wird.
57
Nachdem sich die Verfügungsbeklagten zu einem Zeitpunkt, zu dem aus ihrer Sicht bereits eindeutig die medizinische Indikation für die Tumortherapie entfallen war, mit der Verfügungsklägerin und dem Vorsorgebevollmächtigten auf eine Aufrechterhaltung der Tumortherapie geeinigt hatte, besteht auch zum Entscheidungszeitpunkt der Kammer ein solcher Anspruch weiterhin fort. Der Anspruch ist vorliegend auch nicht durch die Hirntodfeststellungen entfallen, nachdem insoweit Zweifel bestehen, ob bei der Verfügungsklägerin der Hirntod tatsächlich eingetreten ist (vgl. Ziff. 2.2.2.4.).
58
4. Die Verfügungsklägerin hat auch einen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht.
59
Ein Verfügungsgrund liegt vor, wenn die objektiv begründete Gefahr besteht, dass durch Veränderung des status quo die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels des im Hauptsacheprozess erlangten Urteils einschließlich dessen Vollstreckung vereitelt oder erschwert werden könnte (MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 935 Rn. 15).
60
So liegt es hier. Die Verfügungsbeklagtenseite hat vorgetragen, dass die Verfügungsklägerin hirntot sei und hat die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen angekündigt. Die tumorspezifische Therapie sowie die weitere Medikation war bereits eingestellt worden. Es liegen daher Umstände vor, die befürchten lassen, dass das Leben der Verfügungsklägerin als elementares Rechtsgut durch die Schaffung vollendeter Tatsachen irreversibel beendet wird.
61
Da die Untersagung einer Handlung regelmäßig für den Zeitraum ihrer Gültigkeit endgültige Verhältnisse schafft (MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 938 Rn. 31), kann das Gericht zu einer inhaltlich dem Hauptanspruch entsprechenden Unterlassungsverfügung im Rahmen des § 938 ZPO nur dann gelangen, wenn aufgrund von Art und Ausmaß der Gefahr, sowie aufgrund des eindeutig im Vordergrund stehenden Interesses des Verfügungsklägers eine andere Maßnahme nicht ausreichend erscheint und die Versagung der Unterlassungsverfügung zu einem unzumutbaren, irreparablen Schaden auf Seiten des Verfügungsklägers führen würde, demgegenüber die Schädigung des Verfügungsbeklagten bei Erlass der Maßnahme und späterer Aufhebung infolge des Urteils im Hauptprozess geringer wiegt oder allenfalls gleichsteht (MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 938 Rn. 34).
62
Ein solcher besonderer Ausnahmefall ist vorliegend gegeben. Denn zum einen ist keine Sicherung der Verfügungsklägerin denkbar, welche auf andere Art und Weise als durch eine Befriedigung des Unterlassungsanspruchs erfolgen könnte. Zum anderen würde die Versagung der Unterlassungsverfügung zu einer irreparablen Beendigung des Lebens der Verfügungsklägerin führen. Es müssen daher die für die Beklagten drohenden Nachteile bei Erlass der Maßnahme und späterer Aufhebung infolge des Urteils im Hauptsacheprozess, wie mögliche Engpässe bei der Versorgung von Intensivpatienten oder finanzielle Schäden, vorliegend hinter dem Interesse der Verfügungsklägerin zurückstehen. Die Berufung war damit wie tenoriert zurückzuweisen.
63
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO.
64
Die Revision ist gem. § 540 Abs. 2 ZPO nicht statthaft, sodass das Urteil mit Verkündung sofort rechtskräftig und damit vollstreckbar wird.
65
Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 47 Abs. 1 u. 2 GKG.