Inhalt

LG Passau, Endurteil v. 16.11.2023 – 1 O 17/23
Titel:

Kein Schadensersatz wegen Verwendung eines Thermofensters

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei einer die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie dem Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Fahrzeughersteller, der sich unter Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten will, muss sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Nur ein auch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unvermeidbarer Verbotsirrtum kann entlastend wirken. Zu seiner Entlastung kann der Fahrzeughersteller neben weiteren Möglichkeiten darlegen und erforderlichenfalls nachweisen, seine Rechtsauffassung wäre bei entsprechender Nachfrage von der für die EG-Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden (hypothetische Genehmigung). Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung des einem Verbotsirrtum unterliegenden Schädigers dessen Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch dann aus, wenn der Schädiger eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat. (Rn. 67) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Opel Astra K, Differenzschaden, Thermofenster, unvermeidbarer Verbotsirrtum, Differenzhypothese
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 22.02.2024 – 3 U 4761/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 35166

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 12.531,89 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klägerin verlangt von der Beklagte die Rücknahme des PKW Opel Astra K gegen Zahlung des Kaufpreises abzüglich Nutzungswertersatzes, hilfsweise Zahlung eines Differenzschadens von 1.785 €.
2
Die Klägerin kaufte am 17.12.2018 beim Autohaus ... in ... den gebrauchten PKW Opel Astra K CDTi mit der Fahrgestellnummer ..., Kilometerstand 12.460, Erstzulassung am 24.11.2015, Motor-Code B16DTE opt. LWQ zum Kaufpreis von 11.900 € einschließlich MwSt. Die Beklagte (vorher Opel ... GmbH) hat das Fahrzeug und den Motor hergestellt.
3
Der Kilometerstand am Tag der mündlichen Verhandlung am 26.10.2023 beträgt 88.260 km.
4
Für das Fahrzeug gibt es eine Rückrufaktion des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) mit (noch nicht bestandskräftigen) Bescheid vom 02.12.2021, da die vorhandene Abschalteinrichtung als unzulässig bewertet wurde. Ein verpflichtendes Software-Update wurde angeordnet. Dagegen legte die Beklagte Rechtsmittel ein, über das noch nicht entschieden ist.
5
Daraufhin teilte die ... GmbH der Klägerin am 08.09.2022 schriftlich mit, dass eine verbesserte Motorsteuerungssoftware entwickelt worden sei, die vom KBA freigegeben worden sei. Ohne die Nachbearbeitung des Fahrzeugs könne das Fahrzeug eine Betriebsuntersagung erfolgen (vgl. Anlage AOG3).
6
Die Klägerin nahm die angebotene Nachbearbeitung nicht an.
7
Die Klägerin behauptet, dass die unzulässige Abschalteinrichtung erhöhte Abgasemissionen hervorrufe. Dies könne dazu führen, dass die Betriebserlaubnis für das Fahrzeug widerrufen werde. Der Klägerin sei der Schaden vorsätzlich und sittenwidrig zugefügt worden, da sich die Beklagte bewusst über die Vorschriften zur Abgasregelung hinweggesetzt habe. Der Beklagten sei es darum gegangen, günstiger zu produzieren und entsprechend höhere Unternehmensgewinne zu haben. Darüber sei die Klägerin arglistig getäuscht worden.
8
Der Vorstand der Beklagten sei in die Implementierung der unzulässigen Abschalteinrichtung eingebunden gewesen. Im Übrigen sei in der Organisation Sorge dafür zu tragen, dass er in wichtige Entscheidungen eingebunden ist.
9
Die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung sei der Beklagten gem. § 31 BGB zuzurechnen.
10
Das sog. Thermofenster sei europarechtlich unzulässig und verstoße gegen ein Schutzgesetz.
11
Die Beklagte sei der Klägerin gegenüber daher auch gem. § 823 Abs. 2 BGB, § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu Schadenersatz verpflichtet.
12
In der Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023, C-100/21 habe der Gerichtshof herausgearbeitet, dass insbesondere das individuelle Interesse des Käufers geschützt ist, kein Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu erwerben. Den Erwerbern stehe deshalb ein Schadenersatzanspruch gegen den Hersteller auch bei nur fahrlässigem Handeln zu.
13
Die Beklagte hätte erkennen können und müssen, dass das eingebaute Thermofenster bei den oft herrschenden Temperaturen dazu führt, dass die Wirksamkeit der Abgasreinigung reduziert wird und dies unzulässig ist.
14
Soweit sich der Hersteller auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufe, müsse der Hersteller die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Die Beklagte habe sich zumindest fahrlässig verhalten, wenn sie ihrer Prüfungspflicht nicht ausreichend nachkommt.
15
Die Beklagte habe die Typengenehmigungsbehörde getäuscht und unvollständige Angaben zur Art und zum Zusammenwirken der von ihr in das streitgegenständliche Fahrzeug verbauten Abschalteinrichtung gemacht. Sie habe in großem Umfang und mit erheblichen technischen Aufwand zentrale Zulassungsvorschriften ausgehebelt, die Typengenehmigungsbehörde und zugleich die Kunden getäuscht.
16
Für das Fahrzeug bestehe das Risiko der Nutzungsuntersagung. Der Eintritt eines Schadens wird aufgrund der damit einhergehenden Unsicherheit für die Möglichkeit, das Fahrzeug entsprechend zu nutzen, und der drohenden Betriebsuntersagung bejaht. Dies gelte auch dann, wenn es bisher noch zu keiner Einschränkung der Nutzbarkeit gekommen sei. Für die Schadensentstehung komme es auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses an, so dass späteren Maßnahmen des KBA keine Bedeutung zukomme.
17
Der Differenzschaden sei für den Hilfsantrag mit 10% der Erwerbskosten in Höhe von 11.900 € zu bemessen, da zum Zeitpunkt des Kaufs eine hohe Wahrscheinlichkeit bestanden habe, dass es zu behördlichen Sanktionen bis hin zur Stilllegung kommen könnte. Es sei kein Softwareupdate denkbar, das einen gesetzmäßigen Zustand herstellen könnte.
18
Ein Restwert sei nicht anzurechnen, da sich dieser nicht realisiert habe. Es sei von einer Gesamtlaufleistung von 382.983 km (Lebensdauer 19 Jahre x 20.157 km durchschnittliche Jahresfahrleistung) auszugehen.
19
Der Einbau eines Benzinmotors würde höhere Kosten als 15% des von der Klagepartei bezahlten Kaufpreises verursachen.
20
Die Klägerin beantragte mit Schriftsatz vom 10.08.2023 zuletzt:
I. Hauptanträge
1. die Beklagtenpartei zu verurteilen, an die Klagepartei 9.746,89 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf diesen Betrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen Zug-um-Zug gegen [hilfsweise: nach] Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs Opel Astra K mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... nebst Fahrzeugpapieren und Fahrzeugschlüsseln;
2. festzustellen, dass sich die Beklagtenpartei mit der Rücknahme des unter Ziffer 1 genannten Fahrzeugs nebst Fahrzeugschlüssel in Annahmeverzug befindet;
3. festzustellen, dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist, der Klagepartei die Schäden, die daraus resultieren, dass die Beklagtenpartei das unter Ziffer 1 genannte Fahrzeug dahingehend beeinflusst hat, dass dieses hinsichtlich der Abgasstoffmenge [hilfsweise: der Stickoxide] im Prüfstandbetrieb einen geringeren Ausstoß aufweist als im regulären Betrieb im Straßenverkehr, zu ersetzen.
II.
Hilfsantrag hilfsweise für den Fall der Unbegründetheit des Antrags auf den sogenannten großen Schadensersatz gemäß Antrag zu I. 1.:
die Beklagtenpartei zu verurteilen, an die Klagepartei 1.785,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
21
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
22
Ein Schädigungsvorsatz und eine Haftung wegen fahrlässigen Verhaltens werde bestritten. Im Zeitpunkt des behaupteten schädigenden Verhaltens könne sich die Beklagte auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen.
23
Die Abgasrückführung sei an eine zunehmende bzw. niedrigere Umgebungstemperatur anzupassen. Sie sei bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug in einem Temperaturband von minus 11 Grad Celsius bis 34 Grad Celsius aktiv und schütze den Motor vor Versottung und Verrußung. Damit sei der sichere Fahrbetrieb gewährleistet.
24
Die Abgasnachbehandlung erfolge ergänzend mit einem Speicherkatalysator (LNT) in einem Temperaturbereich von minus 11 Grad Celsius bis 33,5 Grad Celsius. Das AGR-System werden in Abhängigkeit der Motordrehzahl und des Umgebungsluftdrucks gesteuert. Dies funktioniere gleichermaßen auf dem Prüfstand als auch auf der Straße. Das Emissionskontrollsystem habe mit einer Prüfstands- oder Prüfzykluserkennung nichts gemein.
25
Mit Bescheid vom 02.12.2021 habe das Kraftfahrtbundesamt die Installation des Softwareupdates verpflichtend angeordnet und sei nunmehr der Ansicht, dass die ursprüngliche Paramentrierung der Abgasrückführung nicht vollumfänglich den gesetzlichen Anforderungen genüge. Der Bescheid sei allerdings rechtswidrig, jedenfalls nicht bestandskräftig.
26
Ein Schädigungsvorsatz werde bestritten. Der Rückruf habe keine Relevanz für die Beurteilung des Verhaltens der Beklagte ex ante.
27
Die Klagepartei führe im Wesentlichen zu der hier nicht relevanten Umschaltlogik der Volkswagenfälle aus.
28
Auch aus der neueren Rechtsprechung des EUGH und des BGH ergeben sich kein Anspruch der Klägerin.
29
Die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des europäischen Typgenehmigungsrechts habe der Auffassung von Mitarbeitern des Kraftfahrtbundesamtes sowie der Industrie insgesamt entsprochen. Zur Zulässigkeit von Thermofenstern habe es damals keine abweichende Rechtsauffassung gegeben.
30
Mit dem Softwareupdate befinde sich das Fahrzeug auf dem aktuellen emissionstechnischen Stand.
31
Unter Berücksichtung des Nutzungsersatzes für die bis 05.07.2023 gefahrenen Kilometer in Höhe von 3.646 € und dem Restwert des Fahrzeugs, der bei 8.900 € liege, sei der Klägerin außerdem kein Schaden entstanden.
32
Der Anspruch der Klägerin sei verjährt, da sie ihren Anspruch auf die Verwendung von Thermofenstern stütze, die seit 2016, insbesondere zum Zeitpunkt des Erwerbs des Gebrauchtwagens im Jahr 2018 bereits bekannt gewesen seien.
33
Die Klägerin erwidert, dass die Umgebungslufttemperaturmessungs-Abgasrückführungs-Abschalteinrichtung eine unzulässige Abschalteinrichtung sei, da sie die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringere. Sie sei zum Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall bzw. zum sicheren Fahrbetrieb nicht notwendig.
34
Dies gelte auch für die Drehzahlmessungs-Abgasrückführungs-Abschalteinrichtung und die Drehzahlmessungs-Regenerations-Abschalteinrichtung. Auch diese seien somit europarechtswidrig.
35
Die erheblich eingeschränkte Nutzbarkeit des Fahrzeugs nach einem Entfernen aller unzulässigen Abschalteinrichtungen führe zu einer Wertminderung von mindestens 90%.
36
Die zu erwartenden Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs belaufe sich auf 382.983 km.
37
Bestritten werde, dass die vorliegend verbauten Abschalteinrichtungen im Jahr 2018 allgemein bekannt gewesen seien.
38
Zur Ergänzung, Vervollständigung und Vertiefung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akte, insbesondere die vorgelegten Schriftsätze mit Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

39
Die zulässige Klage ist weder in den Hauptanträgen noch im Hilfsantrag begründet.
I.
40
Das Landgericht Passau ist gem. §§ 23, 71 Abs. 1 GVG sachlich und gem. § 32 ZPO örtlich zuständig.
II.
41
Die Klägerin hat gegen die Beklagte weder einen Anspruch auf Rückgabe des Fahrzeugs noch hilfsweise auf Zahlung des sog. Differenzschadens.
1. Hauptanträge:
Kein Anspruch der Klägerin wegen vorsätzlicher sittenwidrigen Schädigung gem. §§ 826, 31 BGB
42
1.1 Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, NJW 2017, 250).
43
Subjektiv ist ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit nicht erforderlich. Der Schädiger muss aber grundsätzlich die Tatumstände kennen, die sein Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen (BGH, Urt. v. 13.09.2004 – II ZR 276/02).
44
Für die Beurteilung, ob ein Verschulden vorliegt, ist die Sichtweise im Zeitpunkt des (behaupteten) schädigenden Verhaltens maßgeblich (vgl. BeckOK BGB/Lorenz, 67. Edition, Stand 01.08.2023, § 276 Rn. 28), insoweit kommt es in den Fällen der „Dieselthematik“ auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens der EG-Übereinstimmungsbescheinigung bzw. des Abschlusses des Kaufvertrags an (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 61 f.).
45
Sämtliche Umstände zur Begründung einer Haftung nach § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung liegen in der Darstellungslast der Klagepartei (vgl. OLG München, Beschluss v. 25.07.2017 – 13 U 566/17; OLG München, Beschluss v. 14.11.2019 – 8 U 2769/19; OLG Braunschweig, Urt. v. 19.02.2019 – 7 U 134/17).
46
Die Voraussetzungen für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.
47
1.2 Zwar kann in dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist, grundsätzlich eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung liegen, da dies dazu führen kann, dass der Widerruf der Typengenehmigung oder zumindest die Stilllegung des konkreten Fahrzeugs droht, sofern der Käufer nicht an der Rückrufaktion zur Beseitigung der Abschalteinrichtung teilnimmt.
48
Mit der Inverkehrgabe des Fahrzeugs bringt der Hersteller jedenfalls konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden darf, das heißt über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei der Auslieferung des Fahrzeugs dem Hersteller bekannter, konstruktiver Eigenschaften gefährdet ist (BGH v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19; OLG Koblenz, Urt. v. 20.04.2020 – 12 U 1570/19). Dies setzt voraus, dass nicht nur die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren formal erfolgreich durchlaufen wurden, sondern auch, dass die für den Fahrzeugtyp erforderliche EG-Typengenehmigung nicht durch eine Täuschung des zuständigen Kraftfahrtbundesamtes erschlichen worden ist und das Fahrzeug den für deren Erhalt und Fortbestand einzuhaltenden Vorschriften tatsächlich entspricht (OLG Koblenz, a.a.O.).
49
1.3 Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020, VI ZR 252/19 kommt dann, wenn der Fahrzeughersteller oder der Hersteller von Fahrzeugbestandteilen die zuständigen Typengenehmigungsbehörden über die technischen Voraussetzungen, die für eine Typengenehmigung erforderlich sind, bewusst täuscht, außervertraglich eine Haftung aus § 826 BGB gegenüber arglosen Fahrzeugkäufern in Betracht, die im Vertrauen auf die Genehmigungsfähigkeit der technischen Einrichtungen Fahrzeuge erwerben und bei Aufdeckung des tatsächlichen Sachverhalts der Gefahr einer Fahrzeugstilllegung ausgesetzt sind. Der Schaden des arglosen Kraftfahrzeugkäufers liegt dann in dem Abschluss eines nicht gewollten Vertrages.
50
Haftungsauslösend sieht der Bundesgerichtshof dabei zu Recht an, dass das an sich erlaubte Ziel der Erhöhung des Gewinns auch im Verhältnis zu dem Käufer eines betroffenen Fahrzeugs dann verwerflich wird, wenn es auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typengenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde erreicht werden soll, dies mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen und Schäden, als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeigt, weil ein solches Vorgehen derart gegen die Mindestanforderung im Rechts- und Geschäftsverkehr auf dem betroffenen Markt für Kraftfahrzeuge verstößt, dass ein Ausgleich der bei den einzelnen Käufern verursachten Vermögensschäden geboten erscheint.
51
Zunächst ist allerdings festzustellen, dass es sich bei den Behauptungen der Klägerin,
- der Geschäftsleitung der Beklagten sowie den die Motorsteuerungssoftware programmierenden Mitarbeitern der Beklagten sei zum Zeitpunkt der Programmierung des „Thermofensters“ bekannt und bewusst gewesen, dass es sich hierbei jeweils um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelte, und sie hätten in dem Bewusstsein und mit dem Willen gehandelt, die Käufer und damit auch die Klagepartei zu schädigen, um insoweit die Gewinninteressen der Beklagten zu sichern,
- die Beklagte habe im Typengenehmigungsverfahren gegenüber dem KBA v.a. nicht offengelegt, wie genau die Motorsteuerung und die Abgasreinigung funktionieren und außerhalb welcher Temperaturen die Abgasreinigung nicht vollständig und ab welchen Temperaturen sie überhaupt nicht mehr funktioniert, mit der Folge, dass die Zulassungsbehörde bei Offenlegung der im vorliegenden klägerischen Fahrzeug verwendeten Temperatursteuerung unter korrekter Subsumtion unter die Regelung insbesondere des Art. 5 der RL 715/2007 zu dem Ergebnis gelangt wären, dass die verwendete Abgasreinigung als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren wäre,
- die Beklagte habe dem KBA im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens nicht vollständig und korrekt alle für den gegenständlichen Fahrzeug- und Motortyp konkret verwendeten Abschalteinrichtungen in allen für die Beurteilung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten erläutert, um prozessual unbeachtliche Behauptungen handelt mit der Folge, dass das Gericht nicht gehalten ist, der Frage in der Sache nachzugehen bzw. etwaige diesbezügliche Beweise zu erheben.
52
Stellt eine Partei tatsächliche Behauptungen willkürlich ohne greifbare Anhaltspunkte „aufs Geratewohl“ auf, so ist derartiger Parteivortrag unbeachtlich (vgl. RG JW 1936, 2228; BGH ZZP 71 (1958), 365; NJW 1962, 731; 1964, 1414; WM 1964, 1170; NJW 1986, 246; 1991, 2707; NJW-RR 1996, 1212; 2000, 208; 2003, 69; BGH BeckRS 2019, 7939).
53
Zwar ist die darlegungspflichtige Partei berechtigt, zu Vorgängen, die sich ihrer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, Behauptungen aufzustellen, die nur auf Vermutungen gestützt sind. Allerdings müssen auch dann Anhaltspunkte für die Richtigkeit des Vortrages gegeben sein (vgl. BGH BeckRS 2019, 7939 Rn. 13).
54
Daran gemessen stellen sich die dargestellten Behauptungen der Kläger, als unbeachtlicher, ins Blaue hinein erfolgter Vortrag dar. Der Kläger stützt seine diesbezüglichen Behauptungen nicht auf in irgendeiner Weise greifbare Anhaltspunkte, sondern lediglich auf vage, allgemein gehaltene, Vermutungen. Anhaltspunkte insbesondere dafür, dass die Typengenehmigung durch Täuschung des KBA bzw. durch Vorlage unvollständiger Unterlagen erschlichen worden ist, liegen nicht vor.
55
Im vorliegenden Fall liegt zwar inzwischen die Einschätzung des KBA vom 02.12.2021 vor, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung in das Fahrzeug verbaut wurde. Diese ist aber noch nicht bestandskräftig und wird derzeit überprüft.
56
Aus dieser Einschätzung lässt sich nichts weiter ableiten. Sie bedeutet nicht, dass die Antragsunterlagen unvollständig waren oder eine bewusste Manipulation beabsichtigt war.
57
Unabhängig von der Frage, ob die – von der Beklagten dem Grunde nach nicht bestrittene – Implementierung eines Thermofensters oder anderer Maßnahmen zur Abgasreduzierung oder -nachbehandlung in tatsächlicher Hinsicht mit den (unions-)rechtlichen Vorschriften vereinbar sind oder nicht und damit, ob es sich bei der Verwendung von Thermofenstern oder anderen durch die Klagepartei monierten Maßnahmen zur Abgasreduzierung und -nachbehandlung tatsächlich – wie von der Klagepartei behauptet – um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, stellt sich das Inverkehrbringen eines solchermaßen konzipierten Fahrzeugs subjektiv jedenfalls nicht als sittenwidrige Handlung der Beklagten im Sinne des § 826 BGB dar.
58
Denn dass das Verhalten gegen vertragliche Pflichten oder das Gesetzt verstößt, unbillig erscheint oder einen Schaden hervorruft, genügt nicht (OLG Koblenz, Urt. V. 21.10.2019 – 12 U 246/19). Insbesondere die Verfolgung eigener Interessen bei der Ausübung von Rechten ist im Grundsatz auch dann legitim, wenn damit eine Schädigung Dritter verbunden ist (BGH, Urt. v. 19.10.1987 – II ZR 9/87). Hinzutreten muss eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage tretenden Gesinnung oder den eintretenden Folgen ergeben kann (BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19).
59
Legt man diese Maßstäbe zu Grunde, ist das Verhalten der Beklagten, ein mit einem sogenannten Thermofenster oder anderen Maßnahmen zur Abgasreduzierung und -nachbehandlung ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, vorliegend nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob diese Maßnahmen objektiv unzulässige Abschalteinrichtungen darstellen oder nicht. Zwar mag sich bei einer sogenannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW Dieselmotor des Typs EA189 verwendet worden war, die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus dem Einsatz dieser Umschaltlogik, die – auf den Betriebszustand des Fahrzeugs abstellend – allein danach unterscheidet, ob sich dieses auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet, ergeben (BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19). Eine solche Abschalteinrichtung mag eindeutig unzulässig sein.
60
Bei einer anderen, die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie z.B. dem Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (OLG Koblenz, Urt. v. 20.04.2020 – 12 U 1570/19; OLG München, Beschluss v. 10.02.2020 – 3 U 7524/19). Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn – einmal unterstellt – hinsichtlich des hier in Rede stehenden Thermofensters oder anderer durch die Klagepartei monierter Maßnahmen zur Abgasreduzierung und -nachbehandlung von objektiv unzulässigen Abschalteinrichtungen ausgegangen werden sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden (OLG Koblenz, a.a.O., OLG München, a.a.O; OLG Köln, Beschluss v. 04.07.2019 – 3 U 148/18).
61
Eine Sittenwidrigkeit käme daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Stuttgart, Urt. v. 30.07.2019 – 10 U 134/19; OLG Koblenz, a.a.O; OLG München, a.a.O.). Diese sind jedoch nicht ersichtlich.
2. Hilfsantrag:
Kein Anspruch auf Differenzschaden gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV .
2.1 Kein Verschulden der Beklagten wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums
62
Die nachfolgenden Ausführungen gelten unabhängig davon, ob Vorrichtungen eingesetzt wurden, die als unzulässige Abschalteinrichtungen zu bewerten sind.
63
Eine deliktische Ersatzpflicht tritt nur im Falle des Verschuldens ein, selbst wenn nach dem Inhalt des Schutzgesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich ist (vgl. § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB). Der Schadensersatzanspruch ergibt sich im vorliegenden Fall – trotz europarechtlicher Prägung oder Überlagerung (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022, Rs. C-100/21, BeckRS 2022, 12232 Rn. 54) – allein aus dem nationalen Recht (vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2023, C-100/21, NJW 2023, 1111 (1116) Rn. 92), so dass für diesen nach deutschem Recht allein eine verschuldensabhängige Rechtsgrundlage in Betracht kommt. Für eine vom Verschulden des Fahrzeugherstellers unabhängige Schadensersatzhaftung ist hingegen auch bei unionsrechtskonformer Auslegung kein Raum (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 36 f.).
64
Hinsichtlich des Verschuldens trifft grundsätzlich den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast. Jedoch muss derjenige, der objektiv ein Schutzgesetz verletzt hat, Umstände darlegen und erforderlichenfalls beweisen, die geeignet sind, die daraus folgende Annahme seines Verschuldens in Form einer Fahrlässigkeit auszuräumen. Insofern besteht eine von der objektiven Schutzgesetzverletzung ausgehende Verschuldensvermutung (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 59 m.w.N.).
65
Die Beklagte befand sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum (hierzu auch OLG Bamberg, Beschluss vom 06.07.2023, 3 U 279/22, Anlage B 7). Beim Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums scheidet Verschulden aus (vgl. Grüneberg/Sprau, BGB, 82. Auflage, § 823 BGB Rn. 61).
66
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Verbotsirrtum unvermeidbar, wenn der Handelnde trotz der ihm nach den Umständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebens- und Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige nicht zu gewinnen vermochte. Im Zweifel trifft ihn eine Erkundigungspflicht, wobei Auskunftsperson und erteilte Auskunft verlässlich sein müssen. Geht es um die Frage nach dem Bestehen einer Erlaubnispflicht, hat er sich vorzugsweise an die zuständige Erlaubnisbehörde zu wenden. Auf deren Auskunft darf er sich grundsätzlich verlassen. Hat sich der Handelnde zwar nicht hinreichend um kompetente Beratung bemüht, steht aber fest, dass die – unterbliebene – Erkundigung seine Fehlvorstellung bestätigt hätte, so scheitert seine Haftung ebenfalls am Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (vgl. BGH, Urteil vom 27.06.2017, VI ZR 424/16, NJW-RR 2017, 1004 (1005 f.) Rn. 16; Urteil vom 10.07.2018, VI ZR 263/17, NJW-RR 2018, 1250 (1253) Rn. 28, 32).
67
Der Fahrzeughersteller, der sich unter Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten will, muss sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Nur ein auch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unvermeidbarer Verbotsirrtum kann entlastend wirken (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 63). Zu seiner Entlastung kann der Fahrzeughersteller neben weiteren Möglichkeiten darlegen und erforderlichenfalls nachweisen, seine Rechtsauffassung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 wäre bei entsprechender Nachfrage von der für die EG-Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden (hypothetische Genehmigung). Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung des einem Verbotsirrtum unterliegenden Schädigers dessen Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch dann aus, wenn der Schädiger eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 65 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 27.06.2017, VI ZR 424/16, NJW-RR 2017, 1004 (1005 f.) Rn. 16; s.a. BGH, Urteil vom 10.07.2018, VI ZR 263/17, NJW-RR 2018, 1250 (1253) Rn. 28, 32). Hierzu muss der Fahrzeughersteller für jede verwendete Abschalteinrichtung konkret vortragen, dass die Behörde diese genehmigt hätte. Dem genügt der Fahrzeughersteller mit Rücksicht auf ihren Sinn und Zweck dann, wenn er eine hypothetische Genehmigung bezogen auf den konkreten Motor einer bestimmten Baureihe nachweist. Außerdem kann neben anderen Indizien aus der konkreten Verwaltungspraxis gemäß § 286 Abs. 1 ZPO auf eine hypothetische Genehmigung geschlossen werden (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 66 f.).
68
Nach diesen – in der Rechtsprechung des BGH nun weiter gefestigten – Grundsätzen hätte sich die Beklagte zwar grundsätzlich beim KBA als zuständiger Genehmigungsbehörde über die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung erkundigen müssen, sofern sie im Zweifel über deren rechtliche Zulässigkeit war. Dies ist nicht geschehen. Hätte die Beklagte jedoch eine entsprechende Anfrage gestellt, hätte sie nach der Überzeugung des Gerichts die Antwort erhalten, dass die im Fahrzeug eingesetzten und von der Klagepartei beanstandeten Vorrichtungen nicht als unzulässige Abschalteinrichtungen einzustufen sind und gegen die Verwendung dieser Funktion keine rechtlichen Bedenken bestehen.
69
Hinsichtlich des „Thermofensters“ ist zu würdigen, dass eine temperaturgesteuerte Abgasrückführung bei Dieselmotoren zur Vermeidung von Stickoxiden seit Jahrzehnten üblich und in Fachkreisen allgemein bekannt ist (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.02.2022, 8 U 143/21, BeckRS 2022, 4570 Rn. 10). Zumindest ab 2008 war der allgemeine Einsatz von „Thermofenstern“ auch dem EU-Normgeber (vgl. Mitteilung der EU-Kommission – 2008/C 182/08 – über die Anwendung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen, dort unter Nr. 8) bekannt (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 25.01.2022, 16a U 138/19, BeckRS 2022, 2910 Rn. 36). Den Typgenehmigungsbehörden war die Verwendung von „Thermofenstern“ bei allen Herstellern und die in diesem Zusammenhang geführte rechtliche Diskussion um den Motorschutz ebenfalls bekannt. Es war deshalb zu einer Überprüfung des Emissionsverhaltens der Fahrzeuge – gegebenenfalls nach weiteren Rückfragen beim Hersteller – ohne weiteres in der Lage (vgl. BGH, Urteil vom 13.01.2022, III ZR 205/20, BeckRS 2022, 3677 Rn. 25 zum KBA).
70
Dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 (s. Anlage K 14) ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum „Thermofenster“ von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines „Thermofensters“ angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des „Thermofensters“ dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. Anlage K 14, S. 123). Daneben zeigt auch der in der Literatur (vgl. Führ, NVwZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben ist (vgl. BGH Urteil vom 24.03.2022, III ZR 263/20, Rn. 22; OLG Koblenz, Urteil vom 14.09.2020, 12 U 1464/19, BeckRS 2020, 24358 Rn. 23).
71
Das KBA hat jedoch bis in die jüngste Zeit die Auffassung vertreten, dass das „Thermofenster“ grundsätzlich zulässig sei.
72
Da es auf die Sachlage beim Erwerb des Fahrzeuges im Jahr 2018 ankommt, spielen spätere Änderungen oder abweichende Auffassungen keine Rolle (s. hierzu u.a. auch OLG Bamberg, Beschluss vom 06.07.2023, 3 U 279/22).
73
Selbst wenn angesichts der in jüngerer Zeit ergangenen Rechtsprechung des EuGH das KBA mittlerweile eine anderweitige Auskunft erteilen würde oder die Beklagte in Kenntnis dieser Rechtsprechung einer gleichbleibenden Auskunft nicht mehr eine hinreichend entlastende Bedeutung zumessen dürfte, ändert dies nichts an der (hypothetischen) Auskunft, welche die Beklagte zum maßgeblichen Zeitpunkt erhalten hätte, und deren Bedeutung für eine Meinungsbildung bei der Beklagten. Ob diese rechtliche Bewertung in Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben steht oder – wie von der Klagepartei zu den im einzelnen vorgetragenen Abschalteinrichtungen vertreten – Vorschriften des Unionsrechts verletzt, kann hier dahinstehen und muss hier nicht entschieden werden. Jedenfalls können an den Fahrzeug- oder Motorenhersteller in Bezug auf die rechtliche Bewertung eines komplexen technischen Sachverhalts wie bei einem Emissionskontrollsystem keine höheren Anforderungen als an die staatliche Fachbehörde eines EU-Mitgliedsstaats gestellt werden (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 28.07.2022, 7 U 204/22 BeckRS 2022, 20409 Rn. 62 f.).
74
Es handelt sich bei der Beklagten insoweit um einen unvermeidbaren Verbotsirrtum. Hierauf kann sich die Beklagte angesichts der vorgenannten Umstände im vorliegenden Fall zu Recht berufen.
2.2. Kein Anspruch auf den Differenzschaden in Höhe des verminderten Kaufpreises
Der Klägerin ist kein Schaden entstanden.
75
Die nach der neueren Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 26.06.2023, VI a ZR 335/21) in Betracht kommende Haftung nach § 823 II BGB i.V.m. § 6 I, § 27 I EG-FGV trägt den Klageantrag nicht, weil der Schutzzweck der EG-FGV nicht darin liegt, einen Käufer vor Abschluss eines nicht gewollten Vertrages zu schützen (aaO Rz 32).
76
Erfasst ist jedoch der Schutz des Käufers, keine Vermögenseinbuße i.S.d. Differenzhypothese zu erleiden (BGH a.a.O., Rz. 32).
77
Bei der Ermittlung dieses Differenzschadens in Anwendung des § 287 I ZPO (a.a.O., Rz. 71) ist Bezugsgröße der Kaufpreis, wobei das Schätzungsermessen des Gerichts in einer Bandbreite zwischen 5% und 15% (BGH, a.a.O., Rz. 73) liegt.
78
Im vorliegenden Fall zieht das Gericht die Mindestgrenze von 10% wie beantragt heran, da es sich bei dem Fahrzeug, das die Klägerin gekauft hat, um ein gebrauchtes Fahrzeug handelte. Zum Zeitpunkt des Erwerbs hatte es im Alter von ca. 3 Jahren nur eine Laufleistung von 12.460 km. Am 26.10.2023 waren es nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin 88.260 km. Die Klägerin fährt durchschnittlich etwa 14.500 km pro Jahr.
79
Geht man davon aus, dass die von dem Kläger behaupteten, von der Beklagten bestrittenen unzulässigen Abschalteinrichtungen tatsächlich vorlagen, und unterstellt man, dass der Einwand des unvermeidbaren Verbotsirrtums durch die Beklagte im Lichte der BGH-Rechtsprechung (BGH, a.a.O., Rz. 64 ff.) nicht greift, so kommt somit maximal ein Schadensersatzanspruch des Klägers von 1.190 € Euro (10% aus 11.900 € Euro) in Betracht.
80
Nach der Rechtsprechung des BGH muss sich die Klägerin auf diesen Schadensersatzanspruch den gezogenen Vorteil anrechnen lassen (BGH, a.a.O., Rz. 80).
81
Dieser ist nach der linearen Berechnungsmethode zu schätzen (BGH, Urteil vom 24.07.2023, Az.: Via ZR 752/22 unter Verweis auf das Endurteil des OLG München vom 21.05.2023, Az.: 17 U 1476/20).
82
Das Gericht geht in ständiger Rechtsprechung von einer zu erwartenden Gesamtfahrleistung eines mit einem Dieselmotor ausgestatteten Fahrzeugs der unteren Mittelklasse von 250.000 km aus (vgl. OLG München, 3 U 2527/22, Urteil vom 3.7.23: „Der Senat schätzt in diesem Zusammenhang die Laufleistung eines Diesel-Pkw … auf 250.000 km. Eine darüber hinausgehende Laufleistung resultiert bei wirtschaftlicher Betrachtung regelmäßig nicht aus dem ursprünglichen Kauf, sondern aus späteren Investitionen in das Fahrzeug insbesondere in Form von Reparaturen und Instandhaltungen.“).
83
Damit ergibt sich eine für den PKW der Klägerin zu erwartenden Restlaufzeit von 237.540 km (Gesamtlaufleistung 250.000 km ./. Km-Stand bei Kauf 12.460 km).
84
Die Klägerin ist mit dem Fahrzeug 75.800 km gefahren (88.260 km am 26.10.2023 ./. Km-Stand bei Kauf 12.460 km).
85
Der Nutzungsvorteil errechnet sich im vorliegenden Fall wie folgt:
Kaufpreis 11.900 € x 75.800 gefahrene km = 3.797,34 €
237.540 km
86
Dazu kommt der Restwert des Fahrzeugs, der nicht nur dann zu berücksichtigen ist, wenn er tatsächlich realisiert wurde. Er stellt einen wertbildenden Faktor dar, der nicht unberücksichtigt bleiben kann, da er der Klägerin tatsächlich einen Wert schon während des Besitzes des PKW verschafft.
87
Die Beklagte hat den Restwert mit 8.900 € angegeben unter Berufung auf das Fahrzeugbewertungsportal DAT vom 05.07.2023 für ein vergleichbares Fahrzeug.
88
Die DAT-Bewertung für vergleichbare Fahrzeuge stellt eine geeignete Schätzhilfe dar (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 22.08.2023 – 8 U 271/21, Rn. 85). Diese Auskunft legt das Gericht für die Schätzung des Restwerts nach weiterer eigener Recherche mit demselben Ergebnis gem. § 287 ZPO zugrunde.
89
Nutzungsvorteile und Restwert ergeben zusammen 12.697,34 €. Die Differenz zum tatsächlichen Wert des Fahrzeugs 10.710 € (11.900 ./. 10% €) beträgt 1.987,34 € und liegt somit höher als der Minderwert in Höhe von 1.190 €. Ein Schaden ist damit nicht entstanden.
90
Die Frage der Verjährung braucht mangels Schadens nicht geprüft werden.
91
Die Klage ist daher unbegründet und war abzuweisen.
III.
Kosten: § 91 ZPO
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 709 ZPO.
IV.
Streitwert:
92
Der Streitwert wird gem. §§ 48, 45 Abs. 1 GKG, 3 ZPO auf 12.531,89 € festgesetzt:
Klageantrag 1: 9.746,89
Klageantrag 2: 500,00 €
Klageantrag 3: 500,00 €
Hilfsantrag: 1.785,00 €
Gesamt: 12.531,89 €