Titel:
Erfolgreiche Rechtsbeschwerde gegen Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer wegen Verletzung rechtlichen Gehörs
Normenketten:
GG Art. 19 Abs. 4, § 103 Abs. 1
EMRK Art. 6 Abs. 1
StVollzG § 116 Abs. 1, Abs. 2, § 118
BayStVollzG Art. 208
Leitsätze:
1. Teilt die Strafvollstreckungskammer vor ihrer Entscheidung eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt dem Strafgefangenen nicht mit, ist das rechtliche Gehör verletzt, ohne dass es einer darüber hinaus gehenden Prüfung bedarf, ob von der Möglichkeit auszugehen ist, dass eine etwaige Äußerung Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnt oder nicht. (Rn. 10)
2. Der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nämlich nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren. (Rn. 10)
3. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte misst für die Feststellung einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), das den Anspruch auf rechtliches Gehör einschließt, ausdrücklich der Beruhensfrage keine entscheidende Bedeutung zu, sofern der Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz berührt ist. (Rn. 10)
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Strafvollstreckungskammer, Stellungnahme Justizvollzugsanstalt, Strafgefangener, Verletzung rechtlichen Gehörs, fehlende Mitteilung, Subjektstellung
Vorinstanz:
LG Amberg, Beschluss vom 25.07.2023 – 2 StVK 308/23 Vollz
Fundstellen:
StV 2025, 36
NStZ 2024, 250
BeckRS 2023, 34988
LSK 2023, 34988
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen S. wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg vom 25.07.2023 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Der Geschäftswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 98,43 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Strafgefangene ist seit 20.10.2021 in der Justizvollzugsanstalt A. untergebracht. Am 02.06.2023 führte die Justizvollzugsanstalt A. aufgrund Aufrechnungserklärungen der Landesjustizkasse B. vom 13.01.2022, 17.01.2022 und 27.01.2022 insgesamt 98,43 € vom Hausgeldkonto des Strafgefangenen an die Landesjustizkasse B. ab.
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Hiergegen wandte sich der Strafgefangene mit Schreiben vom 03.06.2023, welches am 07.06.2023 beim Landgericht Amberg einging, mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er beantragte, festzustellen, dass die Abführung des Hausgelds vom 03.06.2023 rechtswidrig war, sowie die Justizvollzugsanstalt A. zu verpflichten, ihm den abgeführten Betrag wieder gutzuschreiben, und mit weiterem Schreiben vom 03.06.2023 gegen die Justizvollzugsanstalt ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000,00 € festzusetzen.
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Die Justizvollzugsanstalt A. beantragte mit Schreiben vom 23.06.2023, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen, weil es sich um eine rechtmäßige Abführung an die Landesjustizkasse B. im Rahmen von Aufrechnungen für Kosten in Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG gehandelt habe. Dem Schreiben vom 23.06.2023 lagen sowohl Kopien der Aufrechnungserklärungen vom 13.01.2022, 17.01.2022 und 27.01.2022 als auch Kopien der den jeweiligen Aufrechnungserklärungen zugrundeliegenden Kostenrechnungen bei.
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Mit Beschluss vom 25.07.2023 wies die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück.
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Gegen diesen ihm am 28.07.2023 zugestellten Beschluss legte der Strafgefangene zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Amberg am 10.08.2023 Rechtsbeschwerde ein und rügte die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Zur Begründung wies er darauf hin, dass ihm eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt A. zu seinem Antrag vom 03.06.2023 nie übersandt worden sei.
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Mit Schreiben vom 31.08.2023 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft München, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
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Die form- und fristgerecht (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. §§ 116 Abs. 1 und 2, 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der Verfahrensrüge einen vorläufigen Erfolg.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil mit der angefochtenen Entscheidung, wäre sie fehlerhaft, dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör versagt worden wäre. Ein solcher (möglicher) Verfahrensverstoß ist neben den in § 116 Abs. 1 StVollzG genannten ein weiterer Zulassungsgrund (KG, Beschluss vom 15.08.2013 – 2 Ws 389/13 Vollz –, juris Rn. 11).
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Die Verfahrensrüge ist auch zulässig erhoben, da die vom Strafgefangenen vorgebrachte Begründung den Verfahrensverstoß ausreichend bezeichnet. Es wird deutlich, dass er von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer überrascht wurde, weil ihm der Inhalt der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt nach seinem Vortrag, der nicht widerlegt werden kann, vorher nicht bekanntgemacht wurde. Die Anforderungen an den Vortrag dürfen insoweit nicht zu streng gehandhabt werden, weil es um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes geht. Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen. Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (BVerfG, Beschluss vom 18.03.2015 – 2 BvR 1111/13 –, juris Rn. 49).
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2. Die Strafvollstreckungskammer hat vorliegend das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers in nicht zu widerlegender Weise verletzt, indem sie dem Strafgefangenen die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 23.06.2023 zu seinem Antrag nicht vor ihrer Entscheidung – zumindest nicht nachweislich – mitgeteilt hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist regelmäßig verletzt, wenn das Gericht einem Verfahrensbeteiligten, bevor es eine für ihn ungünstige Entscheidung trifft, keine Gelegenheit gibt, sich zu einer im Verfahren abgegebenen Stellungnahme der Gegenseite zu äußern (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08, juris Rn. 3, und Nichtannahmebeschluss vom 04.03.2016 – 2 BvR 550/15, juris Rn. 3). Dies gilt – auch wenn der Gehörsverstoß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung der ergangenen Entscheidung nur unter der Voraussetzung führt, dass sie auf dem Verstoß beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.02.1994 – 1 BvR 765/89 –, juris) – grundsätzlich unabhängig davon, ob unter den gegebenen Umständen von der Möglichkeit auszugehen ist, dass eine etwaige Äußerung Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnt oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08, juris Rn. 3 m.w.N., und vom 04.03.2016 – 2 BvR 550/15, juris Rn. 4). Angesichts einer verbreiteten Praxis der Gerichte, Strafgefangenen die Stellungnahme der Gegenseite wegen deren rein rechtsbezogenen Inhalts oder wegen aus sonstigen Gründen unterstellter mangelnder Entscheidungserheblichkeit möglicher Erwiderungen regelmäßig nicht zur Kenntnis zu geben, hat das Bundesverfassungsgericht hierauf mehrfach hingewiesen (vgl. die Nachweise bei BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08, juris Rn. 3). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte misst für die Feststellung einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), das den Anspruch auf rechtliches Gehör einschließt, ausdrücklich der Beruhensfrage keine entscheidende Bedeutung zu, sofern der Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz berührt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 21.02.2002, Ziegler v. Switzerland – 33499/96, Rn. 38; Urteil vom 12.02.2004, Steck-Risch et al. v. Liechtenstein – 63151/00, Rn. 57; vgl. auch EGMR, Urteil vom 03.07.2008, Vokoun c. République Tchèque – 20728/05, Rn. 25 ff., und EGMR, Urteil vom 18.10.2007, Asnar c. France – 12316/04, Rn. 24 ff.).
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3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass nach den von der Justizvollzugsanstalt vorgelegten, den Aufrechnungserklärungen vom 13.01.2022, 17.01.2022 und 27.01.2022 zu Grunde liegenden Kostenrechnungen, es sich bei diesen jeweils um solche für ein Verfahren nach den §§ 109 ff. StVollzG gehandelt hat, mit denen eine Aufrechung nach § 121 Abs. 5 StVollzG in zulässiger Weise erfolgen konnte.
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Soweit der Strafgefangene beantragt hat, gegen die Justizvollzugsanstalt A. ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000,00 € anzuordnen, ist zu beachten, dass Voraussetzung einer Zwangsgeldanordnung oder auch einer Zwangsgeldandrohung (insoweit ist der Antrag des Strafgefangenen nicht eindeutig) nach § 120 Abs. 1 Satz 1 StVollzG i.V.m. § 172 VwGO jeweils eine gerichtlich angeordnete Verpflichtung gegenüber der Vollzugsbehörde (Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 120 Rn. 1a) ist. Eine solche vorangegangene gerichtliche Anordnung gegenüber der Justizvollzugsanstalt zum Tätigwerden ist vom Strafgefangenen bislang nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich.
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1. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 24. Ed. 1.8.2023, StVollzG § 121 Rn. 1).
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2. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG. Es besteht keine Veranlassung, den von der Strafvollstreckungskammer zutreffend festgesetzten Geschäftswert für die erste Instanz nach § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG abzuändern.