Titel:
Einstandspflicht der Kfz-Haftpflichtversicherung für Vermischungsschaden beim Entladen eines Silofahrzeugs
Normenketten:
VVG § 78 Abs. 2 S. 1
AKB 2015 A.1.1.1
StVG § 7 Abs. 1
Leitsätze:
Der Entladevorgang gehört, soweit er nicht mehr dem „Betrieb“ des Kraftfahrzeugs zuzurechnen ist, zu dessen „Gebrauch“, solange das Kraftfahrzeug oder seine an oder auf ihm befindlichen Vorrichtungen daran beteiligt sind. Der Schaden, der beim Hantieren mit Ladegut eintritt, ist dann durch „den Gebrauch des Kfz“ entstanden, wenn es für die schadensstiftende Verrichtung aktuell, unmittelbar, zeitlich und örtlich nahe eingesetzt gewesen ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Begriff des Gebrauches iSv A.1.1.1 AKB 2015 schließt den Betrieb des Kraftfahrzeuges im Sinne des § 7 StVG ein, geht aber auch darüber hinaus. Gebraucht wird ein Kraftfahrzeug auch dann, wenn es nur als Arbeitsmaschine eingesetzt wird (ebenso BGHZ 75, 45 = NJW 1979, 2408 (2409)). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch der Entladevorgang, soweit er nicht mehr dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zuzurechnen ist, gehört zu seinem Gebrauch, solange das Kraftfahrzeug oder seine an und auf ihm befindlichen Vorrichtungen dabei beteiligt sind. Der Schaden, der beim Hantieren mit Ladegut eintritt, ist dann durch den Gebrauch des Kraftfahrzeugs entstanden, das heißt diesem Gebrauch noch zuzurechnen, wenn es für die schadensstiftende Verrichtung aktuell, unmittelbar, zeitlich und örtlich nahe eingesetzt gewesen ist (ebenso BGHZ 75, 45 = NJW 1979, 2408 (2409)). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Entladen von Weißfeinkalk aus einem Silofahrzeug mittels einer auf ihm befindlichen Pumpe gehört zum Gebrauch des Fahrzeugs iSv A.1.1.1 AKB 2015 (vgl. BGH BeckRS 2016, 3381 zum Entladen von Öl aus einem Tanklastwagen). (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
5. Durch den Gebrauch des Fahrzeugs iSv A.1.1.1 AKB 2015 verursacht werden auch sogenannte Vermischungsschäden durch falsches Be- oder Entladen, etwa beim Einfüllen des Transportguts in einen „falschen“ Behälter oder bei Vermischung von Transportstoffen als Folge ungenügender Reinigung oder Leerung des Transportbehältnisses (vgl. OLG Nürnberg BeckRS 2008, 18767; Abgrenzung zu OLG München BeckRS 2016, 5195 Rn. 25 f.). (Rn. 11 und 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kraftfahrhaftpflichtversicherung, Betriebshaftpflichtversicherung, Ausgleichsanspruch, Arbeitsmaschine, Silofahrzeug, Entladen, fahrzeugspezifische Einrichtung, Gebrauch des Fahrzeugs, Betrieb eines Kraftfahrzeugs, Vermischungsschaden
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 27.04.2021 – 12 O 16385/20
Fundstellen:
LSK 2023, 3492
r+s 2023, 391
BeckRS 2023, 3492
ZfS 2023, 450
NJW-RR 2023, 680
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 27.04.2021, Az. 12 O 16385/20, abgeändert. Das Versäumnisurteil des Landgerichts vom 01.02.2021 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten ihrer Säumnis im ersten Rechtszug. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 16.800,00 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Die Klägerin ist Kraftfahrthaftpflichtversicherer des Speditionsunternehmers M. L. (fortan: Versicherungsnehmer), die Beklagte dessen Betriebshaftpflichtversicherer. Der Versicherungsnehmer war beauftragt, am 10. November 2017 mit einem Silofahrzeug eine Ladung Weißfeinkalk auszuliefern. Aufgrund eines Fehlers des Fahrers, der die falsche Lieferanschrift anfuhr, befüllte dieser ein Streusalzsilo mit 27,14 t Weißfeinkalk, wodurch die darin befindlichen 78,21 t Streusalz unbrauchbar wurden. Auf die Schadensersatzforderung der Geschädigten verauslagte die Klägerin für den Versicherungsnehmer 16.800 €.
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Die Klägerin hat von der Beklagten die Zahlung dieses Betrags verlangt. Das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen Bezug genommen wird, hat der Klage durch aufrechterhaltenes Versäumnisurteil stattgegeben. Mit der Berufung erstrebt die Beklagte die Aufhebung des Versäumnisurteils und die Abweisung der Klage. Der Senat hat mit Beschluss vom 20. Dezember 2022 auf seine Rechtsauffassung hingewiesen.
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Die zulässige Berufung der Beklagten führt zur Abänderung des angefochtenen Endurteils und zur Abweisung der Klage unter Aufhebung des Versäumnisurteils (§ 343 Satz 2, § 538 Abs. 1 ZPO). Der Klägerin steht kein Ausgleichsanspruch zu, weil sie selbst einstandspflichtig ist.
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1. Das Landgericht hat ausgeführt, die Klägerin sei aktivlegitimiert. Der Erstattungsanspruch des gemeinsamen Versicherungsnehmers sei gemäß § 86 VVG auf sie übergegangen. §§ 77, 78 VVG seien nicht anwendbar, weil der Versicherungsnehmer nur gegen einen der Versicherer einen Anspruch habe.
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Einstandspflichtig sei die Beklagte. Diese könne sich nicht auf A.1.1.1 Satz 2 AKB berufen. Bei der gebotenen wertenden Betrachtung sei der Unfall nicht „bei dem Betrieb“ des Kraftfahrzeugs entstanden. Der Unfall beruhe nicht auf einem Fehler bei der Bedienung des Kfz, sondern auf der fehlerhaften Entscheidung des Fahrers, die falsche Adresse anzufahren, die mit einem Betriebsvorgang des Kfz nichts zu tun habe. Der eigentliche Entladevorgang sei lediglich die Folge dieser Fehleinschätzung gewesen.
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2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Begründung des Landgerichts stellt darauf ab, ob der Schaden „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeug im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG entstanden ist. Richtigerweise kommt es darauf an, ob der Schaden „durch den Gebrauch“ eines Kraftfahrzeugs im Sinne der jeweiligen Versicherungsbedingungen (vgl. Berufungsbegründung, S. 3) verursacht worden ist. Die Begriffe decken sich nicht vollständig. Der hier regressierte Schaden ist „durch den Gebrauch“ eines Kraftfahrzeugs entstanden.
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a) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Schaden, der durch die Betätigung der Beladungseinrichtung und Entladungseinrichtung eines Sonderfahrzeuges verursacht worden ist, dem „Gebrauch des Fahrzeuges“ im Sinne von § 10 AKB aF zuzurechnen ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 1979 – VI ZR 122/78, BGHZ 75, 45, juris Rn. 32 f). Dem steht nicht entgegen, dass eine Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG entfällt, wenn die Fortbewegungs- und Transportfunktion des Kraftfahrzeuges keine Rolle mehr spielt und das Fahrzeug nur noch als Arbeitsmaschine eingesetzt wird, oder bei Schäden, in denen sich eine Gefahr aus einem gegenüber der Betriebsgefahr eigenständigen Gefahrenkreis verwirklicht hat (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2021 – VI ZR 726/20, NJW 2022, 624 Rn. 6 f mwN).
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Denn der Begriff des Gebrauches schließt den Betrieb des Kraftfahrzeuges im Sinne des § 7 StVG ein, geht aber auch darüber hinaus. Bei der Frage, ob der Entladevorgang noch dem Betrieb des Kraftfahrzeuges im Sinne des § 7 StVG zuzurechnen ist, geht es darum, ob nach dem von dieser Norm umfassten Schutzbereich, der wesentlich auf die Gefahren des Kraftfahrzeuges beim Verkehr abstellt, noch ein rechtlich relevanter Zusammenhang mit der Funktion des Kraftfahrzeuges als Beförderungsmittel besteht. Demgegenüber muss sich die Abgrenzung des versicherungsmäßig abgedeckten Wagnisses in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung nach anderen Gesichtspunkten orientieren. Bei ihr ist das Interesse versichert, das der Versicherte daran hat, durch den Gebrauch des Fahrzeuges nicht mit Haftpflichtansprüchen belastet zu werden gleich, ob diese auf den §§ 7 ff StVG, den §§ 823 ff BGB oder anderen Haftungsnormen beruhen. Es kommt mithin darauf an, ob der Schadensfall zu dem Haftpflichtgefahrenbereich gehört, für den die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung deckungspflichtig ist. „Gebraucht“ wird ein Kraftfahrzeug auch dann, wenn es nur als Arbeitsmaschine eingesetzt wird. Auch der Entladevorgang, soweit er nicht mehr dem „Betrieb“ des Kraftfahrzeugs zuzurechnen ist, gehört danach zu seinem Gebrauch (vgl. jetzt auch A.1.1.1 Satz 2 AKB), solange das Kraftfahrzeug oder seine an und auf ihm befindlichen Vorrichtungen dabei beteiligt sind. Der Schaden, der beim Hantieren mit Ladegut eintritt, ist dann „durch den Gebrauch“ des Kraftfahrzeugs entstanden, das heißt diesem Gebrauch noch zuzurechnen, wenn es für die schadensstiftende Verrichtung aktuell, unmittelbar, zeitlich und örtlich nahe eingesetzt gewesen ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 1979, aaO Rn. 34 mwN).
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Nach diesen Grundsätzen ist das Entladen eines Tanklastzuges mittels einer auf ihm befindlichen Pumpe, gleich ob sie von dem Motor des Kraftfahrzeugs angetrieben wird, dem Gebrauch des Fahrzeuges zuzurechnen, solange der Druck der Pumpe noch auf das abzufüllende Öl einwirkt und die Flüssigkeit durch den Schlauch heraustreibt. Dabei wird der Tanklastzug mit seinen speziellen Vorrichtungen unmittelbar eingesetzt und es verwirklicht sich eine Gefahr, die von dem Fahrzeug selbst ausgeht. Das aber ist ein Risiko, vor dem der Versicherte Schutz durch die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung erwartet und das diese, nicht etwa die Betriebshaftpflichtversicherung abzudecken hat (BGH, Urteil vom 26. Juni 1979, aaO Rn. 35 mwN).
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b) Diese Erwägungen lassen sich auf den Streitfall übertragen.
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Schadensstiftende Verrichtung war letztlich (erst) das Entladen des Weißfeinkalks in das Streusalzsilo, wodurch es zu der schadensbegründenden Vermischung kam. Das Entladen von Öl aus einem Tanklastwagen mittels einer auf ihm befindlichen Entladevorrichtung gehört zum „Gebrauch“ des Kraftfahrzeuges (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2015 – VI ZR 139/15, BGHZ 208, 140); gleiches muss für das Entladen von Weißfeinkalk aus einem Silofahrzeug gelten. Durch den Gebrauch verursacht werden auch sogenannte Vermischungsschäden durch falsches Be- oder Entladen. Darum geht es beim Einfüllen des Transportguts in einen „falschen“ Behälter oder bei Vermischung von Transportstoffen als Folge einer ungenügender Reinigung oder Leerung des Transportbehältnisses (Prölss/Martin/Klimke, VVG, 31. Aufl., A.1.1 AKB 2015 Rn. 21; vgl. OLG Nürnberg, VersR 1982, 1092; LG Stuttgart, r+s 2015, 382).
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Für die schadensstiftende Verrichtung ist das Silofahrzeug aktuell, unmittelbar, zeitlich und örtlich nahe eingesetzt gewesen. Das Entladen des Silofahrzeugs mittels fahrzeugspezifischer Einrichtungen, namentlich einer Pumpe (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 31. März 2021, Bl. 27/29 d. A., S. 2; Berufungsbegründung, S. 5; vgl. auch Wikipedia zu „Silofahrzeug“: „Entleerung durch Auslauftrichter zumeist mit Unterstützung durch Druckluft“), ist dem Gebrauch des Fahrzeuges zuzurechnen, solange die fahrzeugspezifischen Einrichtungen noch auf das abzuladende Gut einwirken und dieses durch den Auslauftrichter heraustreiben. Dabei wird das Silofahrzeug mit seinen speziellen Vorrichtungen unmittelbar eingesetzt und es verwirklicht sich (entgegen LG Koblenz, DAR 2009, 468) nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Gefahr, die von dem Fahrzeug selbst ausgeht.
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c) Der Annahme einer Einstandspflicht der Klägerin stehen die von ihr angeführten obergerichtlichen Entscheidungen nicht entgegen.
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Zwar hat das Hanseatische Oberlandesgericht in einer Kostenentscheidung gemäß § 91a ZPO, die eine Verwechslung von Kraftstofftanks durch einen Tanklastzug-Fahrer betraf, zugunsten des Kraftfahrhaftpflichtversicherers entschieden. Der Schaden (der Tankstellenkunden) sei nicht „durch den Gebrauch“ des versicherten Kraftfahrzeugs „verursacht“ worden. Beruhe nämlich der Schaden allein oder überwiegend auf einer unabhängig von der Funktionsfähigkeit oder Bedienung des Fahrzeugs liegenden Ursache, verwirkliche sich keine fahrzeugtypische Gefahr (vgl. OLG Hamburg, OLGR 2008, 895). Doch kam es auf diese Frage nicht entscheidungserheblich an, wie der Bundesgerichtshof im Rechtsbeschwerdeverfahren klargestellt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2010 – VI ZB 49/08, VersR 2010, 1360 Rn. 7).
15
Der erkennende Senat des Oberlandesgerichts München hat in einem vergleichbaren Fall eine Eintrittsverpflichtung des Kraftfahrthaftpflichtversicherers abgelehnt, weil der verursachte Schaden nicht dem Gebrauch des Tanklastzuges zuzurechnen sei. Dabei hat er aber dahinstehen lassen, ob der Entladevorgang als solcher dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges zuzurechnen sei. Maßgebend sei, dass die jeweiligen konkreten Schäden den Tankstellenkunden erst dadurch entstanden seien, dass der vermischte Kraftstoff vom Tankstellenpächter für die Tankstellenverpächterin an die Kunden verkauft und in die Tanks der Fahrzeuge der Kunden gefüllt wurde. Dieser Befüllungsvorgang der Kundenfahrzeuge sei dem Gebrauch des Tanklastzuges jedenfalls nicht mehr zuzurechnen (OLG München, Urteil vom 24. April 2015 – 25 U 4874/14, r+s 2016, 298 Rn. 25 f mit Anm. Schimikowski; NZB zurückgewiesen durch BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 – IV ZR 564/15, nv).
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1, § 344 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 Satz 1, § 713 in Verbindung mit § 544 Abs. 2 ZPO. Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht zuzulassen.
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Die Festsetzung des Berufungsstreitwerts beruht auf §§ 47, 48 GKG, § 3 ZPO.