Titel:
Kein Schadensersatzanspruch wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtung aufgrund Verhaltensänderung des Herstellers
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Hat der Fahrzeughersteller eine Webseite eingerichtet, mit der es Käufern unter der Eingabe der FIN ermöglicht wurde, die Betroffenheit des eigenen Fahrzeugs zu ermitteln, und zudem seine Vertriebspartner angewiesen, potentielle Kunden über den Sachverhalt zu informieren, hat er damit sein ursprüngliches Verhalten geändert und ersetzt durch die Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten, Unregelmäßigkeiten einzuräumen und in Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrtbundesamt Maßnahmen zur Beseitigung des gesetzwidrigen Zustands zu erarbeiten, um die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung auszuschließen. Im Hinblick auf dieses Gesamtverhalten ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht mehr gerechtfertigt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hat der Fahrzeughersteller sein Verhalten vor dem Abschluss des konkreten Erwerbsgeschäfts dahin geändert, dass er die Ausrüstung der Fahrzeuge mit Motoren einer dem erworbenen Fahrzeug entsprechenden Baureihe mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekannt gegeben hat, die einem objektiven Dritten die mit dem Kauf eines solchen Kraftfahrzeugs verbundenen Risiken verdeutlichen muss, kann die Verhaltensänderung die Anwendung des für die Gewähr des Differenzschadens maßgeblichen Erfahrungssatzes in Frage stellen, dass der Geschädigte den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte. Anders als bei der Frage, ob das Verhalten des Fahrzeugherstellers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch sittenwidrig war, muss allerdings nicht der Käufer, sondern der Fahrzeughersteller zur Widerlegung des Erfahrungssatzes die Verhaltensänderung darlegen und beweisen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rückruf, 3 Liter-V-TDI-Dieselmotor, Verhaltensänderung, Sittenwidrigkeit, Erwerbskausalität
Vorinstanz:
LG Deggendorf, Urteil vom 10.11.2020 – 22 O 226/20
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34920
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 10.11.2020, Az. 22 O 226/20, wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das in Ziffer I. genannte Urteil des Landgerichts Deggendorf Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
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Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz um Schadensersatzansprüche nach einem Fahrzeugkauf im Zusammenhang mit dem sogenannten „Dieselskandal“.
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Der Kläger erwarb am 10.01.2019 einen gebrauchten Audi A8 zu einem Kaufpreis von 48.500,00 € mit 28.100 km Laufleistung. Das Fahrzeug ist mit einem 3.0 l Dieselmotor ausgestattet. Die Beklagte ist die Herstellerin des Fahrzeugs. Für das Fahrzeug gab es einen Rückruf des Kraftfahrtbundesamts im Zusammenhang mit der Abgasnachbehandlung. Von der Beklagten wurde ein Softwareupdate für das klägerische Fahrzeugmodell zur Verfügung gestellt. Bei Kauf war das Update nicht aufgespielt.
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Gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird ergänzend auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils Bezug genommen.
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Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 25.07.2022 abgewiesen. Schadensersatzansprüche der Klagepartei bestünden nicht. Auf die Begründung des landgerichtlichen Urteils wird Bezug genommen.
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Gegen dieses Urteil hat die Klagepartei mit Schriftsatz vom 22.08.2022 Berufung eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
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Der Kläger hat das streitgegenständliche Fahrzeug am 07.04.2022 bei einem Kilometerstand von 94.368 für 31.000,00 € verkauft.
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Die Klagepartei beantragt in der Berufungsinstanz,
1. Das Urteil des Landgerichts Ingolstadt wird dahingehend abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 5.444,25 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.822,96 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt:
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Die Berufung wird zurückgewiesen.
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Auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Parteien und den sonstigen Akteninhalt wird ebenfalls Bezug genommen.
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das landgerichtliche Endurteil begegnet keinen Bedenken des Senats. Schadensersatzansprüche stehen der Klagepartei nicht zu.
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1. Zutreffend hat das Landgericht einen Anspruch der Klagepartei aus § 826 BGB verneint. Ein sittenwidriges Handeln der Beklagten ist nicht ersichtlich.
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a) Zwar existiert für das streitgegenständliche Fahrzeug ein Rückrufbescheid des Kraftfahrtbundesamts. Die Beklagte hat jedoch jedenfalls vor dem Kauf des Fahrzeugs durch den Kläger ihr vorheriges Verhalten dahingehend geändert, dass sie den potentiellen Kunden eine Abfragemöglichkeit hinsichtlich der Betroffenheit der Fahrzeuge und der Erforderlichkeit eines Softwareupdates zur Verfügung stellte und zudem entsprechende Weisung an ihr Händlernetz hinausgab („Beipackzettel“). Auf die Ausführungen des landgerichtlichen Urteils hierzu wird Bezug genommen.
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b) Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19.01.2021 (Az.: VI ZR 433/19) liegt eine Sittenwidrigkeit auch nicht bereits deshalb vor, weil die Beklagte das streitgegenständliche Fahrzeug aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofensters) ausgestattet und in den Verkehr gebracht hat. Dieses Verhalten ist für sich genommen nicht als sittenwidrig zu qualifizieren. Dies gilt auch dann, wenn die Beklagte mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt hat. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., BGH ZIP 2020, 1715 Rn. 29; ZIP 2020, 1179 Rn. 15; NJW 2019, 2164 Rn. 8; NJW 2017, 250 Rn. 16 m.w.N.).
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Anhaltspunkte für eine solche besondere Verwerflichkeit der Beklagten sind hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs nicht ersichtlich.
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2. Die Klagepartei hat auch keinen Anspruch auf Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV.
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a) Der BGH hat mit Urteil vom 26.06.2023 – VI a ZR 335/21, entschieden, dass dem Käufer, dessen Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist, ein Anspruch auf den Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zustehen kann. Dieser Anspruch knüpft an die Pflicht des Fahrzeugherstellers an, eine zutreffende Übereinstimmungsbescheinigung auszustellen. Das unionsrechtlich geschützte Interesse, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, ist von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV geschützt.
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b) In dem streitgegenständlichen Fahrzeug war nach eigenem Vorbringen der Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses ein Thermofenster und ggf. weitere Abschalteinrichtungen verbaut. Insoweit kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, dass es sich hierbei um unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne des Unionsrechts handelt.
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c) Allerdings fehlt es im hier zu entscheidenden Fall jedenfalls an der Erwerbskausalität. Es lässt sich im konkreten Einzelfall nicht feststellen, dass der Kläger das Fahrzeug in Kenntnis der – unterstellt – unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht oder nicht zu dem Kaufpreis erworben hätte.
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aa) Dabei ist von folgenden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen auszugehen: Zur Erwerbskausalität kann sich der Kläger als Anspruchsteller bei der Inanspruchnahme der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf den Erfahrungssatz stützen, dass er den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte. Für die Anwendung eines solchen Erfahrungssatzes ist nicht von Bedeutung, ob dem Käufer bei dem Erwerb des Kraftfahrzeugs die vom Fahrzeughersteller ausgegebene unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung vorgelegen und ob er von deren Inhalt Kenntnis genommen hat. Denn erwirbt ein Käufer ein zugelassenes oder zulassungsfähiges Fahrzeug auch zur Nutzung im Straßenverkehr, wird er regelmäßig darauf vertrauen, dass die Zulassungsvoraussetzungen, zu denen nach § 6 Abs. 3 Satz 1 FZV die Übereinstimmungsbescheinigung gehört, vorliegen und dass außerdem keine ihn einschränkenden Maßnahmen nach § 5 Abs. 1 FZV mit Rücksicht auf unzulässige Abschalteinrichtungen erfolgen können. Auch ohne Kenntnisnahme der vom Fahrzeughersteller ausgegebenen Übereinstimmungsbescheinigung geht der Käufer typischerweise davon aus, dass der Hersteller für das erworbene Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat und dass diese die gesetzlich vorgesehene Übereinstimmung mit allen maßgebenden Rechtsakten richtig ausweist (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VI a ZR 335/21, Rn. 55 f).
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bb) Allerdings ist auch im Rahmen des Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV die festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten zu berücksichtigen. Hat der Fahrzeughersteller sein Verhalten vor dem Abschluss des konkreten Erwerbsgeschäfts, das wie in den Fällen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung das gesetzliche Schuldverhältnis nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV erst begründet, dahin geändert, dass er die Ausrüstung der Fahrzeuge mit Motoren einer dem erworbenen Fahrzeug entsprechenden Baureihe mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekannt gegeben hat, die einem objektiven Dritten die mit dem Kauf eines solchen Kraftfahrzeugs verbundenen Risiken verdeutlichen muss, kann die Verhaltensänderung die Anwendung des für die Gewähr des Differenzschadens maßgeblichen Erfahrungssatzes in Frage stellen, dass der Geschädigte den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte. Anders als bei der Frage, ob das Verhalten des Fahrzeugherstellers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch sittenwidrig war, muss allerdings nicht der Käufer, sondern der Fahrzeughersteller zur Widerlegung des Erfahrungssatzes die Verhaltensänderung darlegen und beweisen (BGH, Urteile vom 26.06.2023 – Via ZR 335/21, Rn. 56 und Via ZR 533/21, Rn. 35).
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cc) Nach dieser Maßgabe lässt sich nicht mit der für die tatrichterliche Überzeugung erforderlichen Gewissheit feststellen, dass der Kläger den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis in Kenntnis der – unterstellt – unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht geschlossen hätte.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in erster Instanz hat der Kläger vor dem Erwerb des Fahrzeugs offenbar keine Recherchen zur Feststellung der Betroffenheit des streitgegenständlichen Fahrzeugs von dem KBA-Rückruf unternommen. Ferner ergibt sich aus dem Ersturteil, dass der sogenannte Dieselskandal zum Zeitpunkt des Kaufs (Anfang 2019) bereits über Jahre öffentlich bekannt war und eine Recherche über eine Internetseite ohne großen Aufwand möglich war. Außerdem war aus der Medienberichterstattung auch die Betroffenheit einiger Fahrzeugmodelle mit 3-Liter-Motoren der Beklagten ersichtlich.
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Da bei dieser Sachlage entsprechende Recherchen nahegelegen hätten, wenn die Betroffenheit des Fahrzeugs vom Abgasskandal oder das Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen von Bedeutung für die Kaufentscheidung des Klägers gewesen wäre, lässt das Verhalten des Klägers bei verständiger Würdigung auch aus Sicht des Senats nur den Schluss darauf zu, dass ihm das mögliche Vorhandensein von Abschalteinrichtungen wie etwa Thermofenster etc. schlicht gleichgültig war und für ihn kein maßgebliches Kaufkriterium darstellte.
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d) Darüber hinaus führt die festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten dazu, dass sie nicht schuldhaft gehandelt hat, als sie das Fahrzeug mit einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung in den Verkehr gebracht hat. Weil auch das gesetzliche Schuldverhältnis gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV erst mit dem Abschluss des Kaufvertrags über das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehene Fahrzeug entsteht, muss der Vorwurf einer zumindest fahrlässigen Inverkehrgabe einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung für diesen Zeitpunkt widerlegt werden. Hat der Fahrzeughersteller die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekanntgegeben, die eine allgemeine Kenntnisnahme erwarten lässt, und hat er eine Beseitigung der betreffenden Abschalteinrichtung allgemein, d.h. insbesondere nicht nur für neue, sondern auch für gebrauchte Kraftfahrzeuge veranlasst, kann ihm unter Umständen der Vorwurf einer fahrlässigen Schädigung solcher Käufer nicht mehr gemacht werden, die ein Fahrzeug nach der Verhaltensänderung des Herstellers gekauft haben (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – Via ZR 335/21, Rn. 61). So liegt der Fall hier. Der Kläger hat das Fahrzeug erst Anfang 2019 gekauft. Zu diesem Zeitpunkt war das Softwareupdate bereits freigegeben und das Händlernetz der Beklagten war durch den „Beipackzettel“ informiert.
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3. Weitere Ansprüche, auch aus anderen Anspruchsgrundlagen, zugunsten der Klagepartei bestehen ebenfalls nicht. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren. Die Berufung war zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.