Titel:
Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer für Abrechnungsbetrug gegenüber einer Krankenkasse
Normenketten:
StPO § 170 Abs. 1, § 199 Abs. 1, § 209, § 209a, § 210
GVG § 74 Abs. 1, Abs. 2, § 74c Abs. 1 S. 1 Nr. 6a, § 74e Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Angabe des Gerichts im Antrag der staatsanwaltschaftlichen Anklage stellt zwar lediglich eine Mitteilung der Anklagebehörde dar, welchen Spruchkörper diese für zuständig erachtet, die das Gericht nicht bindet. "Eingereicht" ist die Anklageschrift iSv § 170 Abs. 1 StPO allerdings bei dem Gericht, das nach Auffassung der Staatsanwaltschaft für die Hauptverhandlung zuständig ist, weil nur dieses gem. § 199 Abs. 1 StPO den weiteren Verfahrensgang veranlassen kann. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Erfordernis der "besonderen Kenntnisse des Wirtschaftslebens" iSd § 74c Abs. 1 S. 1 Nr. 6a GVG ist an den Erfordernissen des jeweiligen Falls orientiert auszufüllen, ohne dass an die Schwere der Tat, den Umfang der Sache, die Höhe des Schadens, die Zahl der Opfer oder ähnliche Kriterien angeknüpft werden darf. Es muss daher im konkreten Fall erforderlich sein, dass die Berufsrichter über die allgemeine Erfahrung hinausgehende Kenntnisse haben, die nur besonderen Wirtschaftskreisen eigen oder geläufig sind und sich auf komplizierte, schwer zu durchschauende Mechanismen des Wirtschaftslebens und ihre Missbrauchsformen beziehen. (Rn. 8 – 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens sind bei der Behandlung eines Verfahrens nicht erforderlich, wenn dem Angeklagten Betrug gegenüber der KZVB zur Last gelegt wird und sich das ihm vorgeworfene betrügerische Vorgehen darin erschöpft, dass Leistungen in Ansatz gebracht worden sein sollen, obwohl sie nicht erbracht waren. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eröffnung des Hauptverfahrens, Abrechnungsbetrug, Wirtschaftsstrafkammer, allgemeine Strafkammer, besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens, Zuständigkeit, Erhebung der Anklage, Heilberuf
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34906
Tenor
1. Die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg vom 24.10.2022 (Aktenzeichen: 111 Js 10215/20) wird zur Hauptverhandlung zugelassen.
2. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg wird gegen den Angeklagten das Hauptverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – 18. Strafkammer – eröffnet (§§ 203, 207 StPO).
3. In der Hauptverhandlung ist die 18. Strafkammer mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt.
Gründe
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1. Soweit dem Angeklagten zur Last liegt, wie in der Anklage geschildert in dem dort bezeichneten Zeitraum im Rahmen des Betriebes seiner Zahnarztpraxis gegenüber der KZVB nicht erbrachte Leistungen abgerechnet zu haben, liegt ein die Eröffnung rechtfertigender hinreichender Tatverdacht vor.
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a) Das Gericht beschließt die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint (§ 203 StPO). Grundlage für die Entscheidung, ob hinreichender Tatverdacht besteht, sind die Ergebnisse des vorbereitenden Verfahrens, also die gesamten, in den mit der Anklage dem Gericht vorzulegenden Akten dokumentierten Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, nicht nur die in der Anklageschrift bezeichneten Tatsachen und Beweismittel, ggf. einschließlich der Ergebnisse nach § 202 StPO vorgenommenen Ermittlungen sowie der Ausführungen des Angeschuldigten in seiner Stellungnahme zur Anklageschrift (Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 203 Rn. 5; BeckOK StPO/Ritscher, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 203 Rn. 1). Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn nach vorläufiger Bewertung des sich aus dem gesamten Akteninhalt ergebenen Sachverhalts und der Beweisergebnisse eine Verurteilung des Angeschuldigten wahrscheinlicher als ein Freispruch ist, also eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung besteht. Die Eröffnungsentscheidung solle nur erkennbar aussichtslose Fälle ausfiltern, der Hauptverhandlung ansonsten aber nicht vorgreifen (BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2021 – StB 31 + 32/21; OLG Frankfurt, Beschluss vom 16. August 2019 – 1 Ws 22/19; OLG Hamm, Beschluss vom 21. November 2013 – 5 Ws 438/13). „Hinreichender Tatverdacht“ im Sinne des § 203 StPO ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der dem Tatgericht einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum eröffnet (OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. August 2010 – 1 Ws 464/10).
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b) So liegt es hier, denn unter Würdigung der im Wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklage unter 5.1 und 5.2 geschilderten Beweismittel und deren Einbeziehung in das Ergebnis einer prognostizierten Beweisaufnahme besteht nach vorläufiger Bewertung zumindest derzeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung.
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2. Das Hauptverfahren war gemäß den §§ 209 Abs. 1, 209a Nr. 1 StPO vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – Große Strafkammer – und nicht vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – Große Wirtschaftsstrafkammer – zu eröffnen.
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a) aa) Hält das Gericht, bei dem die Anklage eingereicht ist, die Zuständigkeit eines Gerichts niedrigerer Ordnung in seinem Bezirk für begründet, so eröffnet es das Hauptverfahren vor diesem Gericht (§ 209 Abs. 1 StPO). Im Sinne des § 209 StPO sowie des § 210 Abs. 2 StPO steht gemäß § 209a Nr. 1 StPO die besondere Strafkammer nach § 74c GVG für ihren Bezirk gegenüber den allgemeinen Strafkammern und untereinander in der in § 74e GVG bezeichneten Rangfolge Gerichten höherer Ordnung gleich. Unter verschiedenen nach den Vorschriften der §§ 74 bis 74 d GVG zuständigen Strafkammern kommt in erster Linie dem Schwurgericht (§ 74 Abs. 2 GVG, § 74 d GVG), in zweiter Linie der Wirtschaftsstrafkammer (§ 74 c GVG) und in dritter Linie der Strafkammer nach § 74 a GVG gemäß § 74e GVG der Vorrang zu.
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bb) (A) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht (§ 170 Abs. 1 StPO). In der Anklage ist u. a. das Gericht anzugeben, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll (§ 200 Abs. 1 Satz 2 StPO). Die Anklageschrift enthält den Antrag, das Hauptverfahren zu eröffnen. Mit ihr werden die Akten dem Gericht vorgelegt (§ 199 Abs. 2 StPO). Das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht entscheidet darüber, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder das Verfahren vorläufig einzustellen ist (§ 199 Abs. 1 StPO).
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(B) Es ist daher im Antrag der Anklage zu bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor dem Strafrichter (Jugendrichter), dem Schöffengericht (Jugendschöffengericht), der großen Strafkammer (als Wirtschaftsstrafkammer) oder dem Schwurgericht stattfinden soll (MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, StPO § 200 Rn. 57; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 200 Rn. 28). Die Angabe des Gerichts im Antrag der staatsanwaltschaftlichen Anklage stellt zwar lediglich eine Mitteilung der Anklagebehörde dar, welchen Spruchkörper diese für zuständig erachtet, die das Gericht nicht bindet (vgl. MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, StPO § 200 Rn. 62). ‚Eingereicht‘ ist die Anklageschrift im Sinne von § 170 Abs. 1 StPO allerdings bei dem Gericht, das nach Auffassung der Staatsanwaltschaft für die Hauptverhandlung zuständig ist, weil nur dieses gemäß § 199 Abs. 1 StPO den weiteren Verfahrensgang veranlassen kann (vgl. MüKoStPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, StPO § 170 Rn. 11; MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, StPO § 199 Rn. 6). Über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet zwar grundsätzlich der für die Hauptverhandlung konkret zuständige Spruchkörper des Gerichts. Ausnahmen sind aber in den §§ 209, 209a StPO für ranghöhere gegenüber rangniederen Gerichten sowie Spruchkörpern mit besonderer Zuständigkeit geregelt. Diese haben zur Vermeidung verfahrensverzögernder Kompetenzkonflikte das Hauptverfahren vor den nachgeordneten Gerichten ihres Bezirkes zu eröffnen, sofern sie deren Zuständigkeit für begründet erachten (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 199 Rn. 4; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 199 StPO Rn. 3).
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(C) Für Straftaten des Betruges ist, soweit nach § 74 Abs. 1 GVG als Gericht des ersten Rechtszuges und nach § 74 Abs. 3 GVG für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Berufung gegen die Urteile des Schöffengerichts das Landgericht zuständig ist, eine Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig, soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind, (§ 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6a GVG).
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(I) Das Erfordernis der ‚besonderen Kenntnissen des Wirtschaftslebens‘ ist an den Erfordernissen des jeweiligen Falls orientiert auszufüllen, ohne dass an die Schwere der Tat, den Umfang der Sache, die Höhe des Schadens, die Zahl der Opfer oder ähnliche Kriterien angeknüpft werden darf (Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 19. Juni 2007 – 1 Ws 111/07). Es muss daher im konkreten Fall erforderlich sein, dass die Berufsrichter über die allgemeine Erfahrung hinausgehende Kenntnisse haben, die nur besonderen Wirtschaftskreisen eigen oder geläufig sind und sich auf komplizierte, schwer zu durchschauende Mechanismen des Wirtschaftslebens und ihre Missbrauchsformen beziehen (vgl. MüKoStPO/Schuster, 1. Aufl. 2018, GVG § 74c Rn. 7; BeckOK GVG/Huber, 18. Ed. 15.2.2023, GVG § 74c Rn. 5; Graf/Jäger/Wittig/Niesler, 2. Aufl. 2017, GVG § 74c Rn. 27). Die Einrichtung besonderer Wirtschaftsstrafkammern soll nämlich dazu dienen, mit Hilfe der Spezialkenntnisse, die sich zumindest die Berufsrichter durch Zusatzschulungen oder ihre ständige Beschäftigung mit der Verfahrensweise des Wirtschaftslebens erworben haben, eine bessere Sachaufklärung zu erreichen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 9. August 2021 – 4 Ws 60/21; OLG Koblenz, Beschluss vom 28.11.1985 – 1 Ws 783/85). Die besonderen Kenntnisse des Wirtschaftslebens müssen „erforderlich“, nicht nur wünschenswert sein (Kissel/Mayer/Mayer, 9. Aufl. 2018, GVG § 74c Rn. 4). Das kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn spezifische Kenntnisse zu Buchhaltung und Bilanzierung erforderlich sind (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 22. November 2021 – 5 Ws 212/21; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 1990 – 1 Ws 148/90).
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(II) (1) Fälle des verdachtsweisen Abrechnungsbetruges im Gesundheitswesen werden – soweit Entscheidungen vorliegen und veröffentlicht sind – überwiegend nicht als Wirtschaftsstrafsachen im Sinne des § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6a GVG angesehen. In Fällen, in denen bspw. tatsächlich nicht erbrachte ärztliche Leistungen und tatsächlich den Patienten nicht verschriebene Medikamente über Krankenkassen abgerechnet und entsprechende Zahlungen erhalten worden sein sollen, seien zur Beurteilung dieser Sachverhalte keine Spezialkenntnisse über komplizierte, nur schwer zu durchschauende wirtschaftliche Zusammenhänge erforderlich. Dass hier ggf. eine äußerst schwierige und umfangreiche Sachverhaltsaufklärung zu erwarten sei, vermöge eine Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer nicht zu begründen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 1990 – 1 Ws 148/90). Die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer sei im Falle des Abrechnungsbetruges gegenüber Kostenträgern nicht gegeben, wenn sich das vorgeworfene betrügerische Vorgehen darin erschöpfe, dass nicht oder nicht so wie behauptet erbrachte Pflegeleistungen in Ansatz gebracht worden sein sollen und es der Auswertung der Jahresabschlüsse nicht bedürfe (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 22. November 2021 – 5 Ws 212/21). Würden einem Angeklagten Untreue durch Ausstellung von „Luftrezepten“, Betrug durch Abrechnung nicht erbrachter ärztlicher Leistungen sowie Beihilfe zu von einem anderen Arzt in gleicher Weise begangenen Straftaten vorgeworfen, seien zur Beurteilung dieser Sachverhalte zwar Kenntnisse des ärztlichen Gebühren- und Abrechnungswesens, aber keine Spezialkenntnisse über komplizierte, nur schwer zu durchschauende wirtschaftliche Zusammenhänge erforderlich (Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 19. Juni 2007 – 1 Ws 111/07).
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(2) Findl/Haase/Nunner in Handbuch für die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, 7. Auflage 2023, Rn. 216-220 vertreten für Fälle des Abrechnungsbetruges die Auffassung, es spreche viel dafür, entsprechende Verfahren insgesamt als Wirtschaftssachen einzustufen, denn ihre Beurteilung erfordere stets besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens. Die Auffassung, es sei nur die Frage nicht berechtigter Inanspruchnahme von Leistungen zu klären, gründe auf einem unzureichenden Verständnis der komplexen Ablaufe im Gesundheitswesen, denn betrügerische Ärzte nutzten planvoll die Schwachstellen des Systems aus. Ärztliche Luftnummern könnten regelmäßig nur auf Grundlage einer fundierten Kenntnis der detaillierten Spezialregelungen des vertragsärztlichen Vergütungssystems sowie der Prüfmechanismen entdeckt und nachgewiesen werden. Betrügerische Ärzte richteten ihr Handeln darauf aus, in den von den kassenärztlichen Vereinigungen durchgeführten Abrechnungsprüfungen der quartalsmäßigen Sammelrechnungen nicht aufzufallen. Diese Prüfungen fänden auf Grundlage der zwischen der KBV und dem GKV-Spitzenverbände vereinbarten Abrechnungsprüfungs-Richtlinien statt und umfassten Prüfung auf Rechtmäßigkeit und auf Plausibilität. Durch spezielle Prüfalgorithmen werde die Abrechenbarkeit der einzelnen Behandlungsschritte geprüft und es erfolge eine Herausfilterung von Abrechnungsausschlüssen. Teilweise werde bereits auf das regelhafte Einlesen der elektronischen Gesundheitskarte der einzelnen Patienten verzichtet, welches die Grundlage des automatisierten Versichertenstammdatenmanagements unter Nutzung der Telematikinfrastruktur bilde. Zur Umgehung der in den Abrechnungsprüfungs-Richtlinien festgelegten Aufgreifkriterien würden Luftnummern etwa dadurch verschleiert, dass Behandlungen über andere Ärzte abgerechnet oder auf mehrere Termine aufgespalten würden. Die Aufdeckung von Fälschungen der Behandlungsdokumentation erfordere Spezialkenntnisse. Manipulationen in der jeweiligen Abrechnungssoftware könnten nur von Personen erkannt werden, die sowohl über medizinischen Sachverstand verfügten als auch mit der Software vertraut seien. Auf diese Weise sei es etwa möglich, Zeitstempel oder nachträglich erfolgte Einträge herauszufiltern, die für den Tatnachweis erforderlich seien.
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b) aa) Die Generalstaatsanwaltschaft hat ausgeführt „Zur Aburteilung ist nach § 7-13 StPO, § 74, 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6a GVG, § 55d GZVJu das Landgericht – Wirtschaftsstrafkammer – Nürnberg-Fürth zuständig“ (Seite 17). Selbst wenn diesen Ausführungen keinerlei Bindungswirkung zukommt, hat die Generalstaatsanwaltschaft unter Würdigung der obigen Vorgaben durch diese Ausführungen und durch diesen Vorgang die Anklage gemäß § 170 Abs. 1 StPO bei dem Landgericht Nürnberg-Fürth und dem dortigen besonderen Spruchkörper „Wirtschaftsstrafkammer“ eingereicht, welche gemäß der geltenden Geschäftsverteilung auf die 18. Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer entfiel, die gemäß den §§ 199 Abs. 1, 209, 209a StPO nunmehr zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufen war.
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bb) Das Hauptverfahren war gemäß den §§ 199 Abs. 1, 209 Abs. 1, 209a Nr. 1 StPO; 74e Nr. 2 GVG vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – Allgemeine Strafkammer – zu eröffnen. Es handelt sich um eine allgemeine Strafsache, nicht aber um eine Wirtschaftsstrafsache.
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(I) Besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens sind bei der Behandlung des vorliegenden Verfahrens nicht erforderlich. Dem Angeklagten wird Betrug gegenüber der KZVB zur Last gelegt. Das ihm vorgeworfene betrügerische Vorgehen erschöpfte sich im Falle seines Nachweises darin, dass Leistungen in Ansatz gebracht worden sein sollen, obwohl sie nicht erbracht waren. Zur Beurteilung dieses Sachverhaltes sind zwar Kenntnisse der Rechts- und Leistungsbeziehungen zwischen den Beteiligten und des Vergütungs- und Abrechnungssystems der KZVB erforderlich, nicht jedoch Spezialkenntnisse über komplizierte, nur schwer zu durchschauende wirtschaftliche Zusammenhänge. Auch für die Ermittlung der verdachtsweisen Schadenshöhe sind besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens nicht erforderlich.
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(II) Ob der von Findl/Haase/Nunner in Handbuch für die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, 7. Auflage 2023, Rn. 216-220 für Fälle des Abrechnungsbetruges vertretenen Gegenauffassung zu folgen wäre, kann hier dahinstehen, weil jedenfalls die vorliegende verdachtsweise Fallkonstellation im Bereich der Abrechnung – unterstellt es wäre ein Tatnachweis zu führen – nicht durch im Sinne der Darlegungen von Findl/Haase/Nunner in Handbuch für die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, 7. Auflage 2023, Rn. 216-220 schwierig aufzudeckende Manipulationen gekennzeichnet wäre. Die verdachtsweise durch den Angeklagten vorgenommenen solchen wären nicht schwierig aufzudecken. Vielmehr wären allenfalls zahlreiche Patienten zu befragen, ob sie die Praxis des Angeklagten aufgesucht und welche Behandlung sie erfahren hätten.
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Allerdings wäre der Meinung von Findl/Haase/Nunner in Handbuch für die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, 7. Auflage 2023, Rn. 216-220 zuzugeben, dass im Falle von Anforderungen in dem dort dargelegten Sinne tatsächlich besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens im Sinne des § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6a GVG erforderlich sein könnten. Dass ein Fall des (Abrechnungs-) Betruges im Gesundheitswesen eine Wirtschaftsstrafsache im Sinne des § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6a GVG darstellt, ist nicht von vorneherein ausgeschlossen und bedarf der Einzelfallbetrachtung. Lediglich darauf abzustellen, dass (betriebswirtschaftliche) Kenntnisse von Buchführung und Bilanzierung unter Anwendung der Regeln insbesondere des HGB, aber auch der juristischen Personen für Wirtschaftsunternehmen (AG, GmbHG, GenG etc.) notwendig erscheinen müssen oder darauf, dass die in den §§ 299a, 299b StGB genannten (und auch der neuen Regelung des § 55d Abs. 1 Satz 1 BayGZJu zugrunde liegenden) Angehörigen eines Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, nicht im Wortsinne im „Wirtschaftsleben“ tätig sein könnten, mag ihre Tätigkeit in der Parallelwertung auch als unternehmerisch und auf Gewinnerzielung ausgerichtet angesehen werden, erschiene zu eng. Wie Findl/Haase/Nunner in Handbuch für die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, 7. Auflage 2023, in der Fußnote 239 zutreffend anmerken, wäre auf den Begriff der „Gesundheitswirtschaft“ abzustellen. Die deutsche Gesundheitswirtschaft erwirtschaftete im Jahr 2021 12,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dies entspricht in etwa jedem achten Euro des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Gleichzeitig ist sie Arbeitgeber für rund 7,7 Mio. Menschen in Deutschland (vgl. Gesundheitswirtschaft, Fakten & Zahlen – Ergebnisse der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung – Herausgeber Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Stand Juli 2022). Insbesondere unter Würdigung dieses Umstandes kann nicht lediglich darauf abgestellt werden, es seien keine (betriebswirtschaftlichen) Kenntnisse von Buchführung und Bilanzierung unter Anwendung der Regeln insbesondere des HGB, aber auch der juristischen Personen für Wirtschaftsunternehmen (AG, GmbHG, GenG etc.), sondern lediglich solche der maßgeblichen Regelungen des Sozialrechts und darauf bezogener Abrechnungssysteme erforderlich.
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c) Das Verfahren war vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – allgemeine Große Strafkammer – zu eröffnen.
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aa) Die sachliche Zuständigkeit im Übrigen folgt § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG, da eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten ist.
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bb) Die örtliche Zuständigkeit folgt § 55d Abs. 1 Satz 1 BayGZVJu. Soweit das Landgericht nach § 74 Abs. 1 GVG oder § 74c Abs. 1 GVG als Gericht des ersten Rechtszugs zuständig ist, werden allgemeine Strafsachen und Wirtschaftsstrafsachen dem Landgericht Nürnberg-Fürth übertragen, wenn Gegenstand der Anklage Korruptions- und Vermögensstraftaten von Angehörigen eines Heilberufs sind, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, und diese Straftaten im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erbringung oder Abrechnung heilberuflicher Leistungen stehen (§ 55d Abs. 1 Satz 1 BayGZVJu). Der Angeklagte erfüllt diese persönliche Eigenschaft und der erforderliche Zusammenhang mit der Abrechnung ist gegeben.