Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 20.02.2023 – AN 14 S 22.50084
Titel:

Verpflichtung des Bundesamts zum Selbsteintritt bei Durchführung eines nationalen Verfahrens für die minderjährige Schwester der Antragstellerin

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 13 Abs. 1, Art. 16, Art. 17 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1
EMRK Art. 8
GRCh Art. 7
Leitsätze:
1. Der bei Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bestehende weite Ermessensspielraum kann sich in Fall von individuellen, außergewöhnlichen humanitären Gründen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt verdichten (VGH München BeckRS 2016, 43629). Derartige Gründe sind gegeben, wenn dem Betroffenen eine Verletzung seines Grundrechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK droht, die nur durch die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik vermieden werden kann. (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Sofern die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts zu einer Verletzung der Grundrechtecharta bzw. der EMRK führt und nur die Ausübung des Selbsteintritts diese verhindern kann, ist ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintritts zu bejahen (VG Berlin BeckRS 2022, 37). Manifestiert sich der Grundrechtsverstoß in einem dauerhaften Abschiebungsverbot, wird er auch nicht durch die Feststellung eines Abschiebungsverbots ausreichend abgewendet, da in diesem Fall entgegen unionsrechtlicher Garantien dir Durchführung eines nationalen Asylverfahrens unterbleibt. (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Intensive Familienbindungen können auch zwischen anderen Personen als zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bestehen, beispielsweise in der Großfamilie zwischen Enkeln und Großeltern oder zwischen engen Verwandten in der Seitenlinie wie zwischen Geschwistern (BVerfG BeckRS 2014, 53981). (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Der Sinn von Art. 16 und Art. 17 Dublin III-VO besteht darin, Familienmitglieder zusammenzuführen, die nach den Kriterien der Dublin III-VO sonst getrennt würden (VG Ansbach BeckRS 2023, 652). Hierfür spricht auch der Wortlaut der Art. 16, Art. 17 Dublin III-VO, der den in Art. 2 lit. g Dublin III-VO definierten Begriff des "Familienangehörigen" gerade nicht verwendet. (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Bereits aus Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1, UAbs. 2 Dublin III-VO folgt, dass ein EURODAC-Treffer keine zwingende Voraussetzung für ein Aufnahmegesuch ist. (Rn. 34) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts subjektives Recht auf Selbsteintritt, Familieneinheit unter Geschwistern, iranische Asylbewerberin, minderjährige Schwester, volljähriger Bruder, Selbsteintrittsrecht, Dublin-Verfahren, drohende Grundrechtsverletzung, subjektives Recht, Abschiebungsverbot, nationales Asylverfahren, Kernfamilie, Geschwister, Familienangehöriger, Aufnahmegesuch, EURODAC-Treffer
Fundstelle:
BeckRS 2023, 3486

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. März 2022 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit welchem unter anderem ihre Abschiebung nach Italien angeordnet wurde.
2
Die Antragstellerin ist iranische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste eigenen Angaben zufolge am 8. November 2021 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt am 24. November 2021 Kenntnis erlangte. Einen förmlichen Asylantrag stellte sie am 13. Dezember 2021.
3
Beim persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des Asylantrags am 13. Dezember 2021 gab die Antragstellerin im Wesentlichen an, dass sie Bruder und Schwester in Deutschland habe. Sie sei im Alter von sieben oder acht Jahren aus dem Iran in den Irak gegangen und habe seitdem dort gelebt. Am 1. September 2021 sei sie zu Fuß in die Türkei und dann über Italien (Aufenthalt ca. 15 Tage) und Frankreich am 8. November 2021 nach Deutschland eingereist. In Italien sei sie circa Ende September 2021 eingereist. Einen Asylantrag habe sie in Italien nicht gestellt, ihr seien am Tag der Einreise Fingerabdrücke abgenommen worden.
4
Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2022 (Bl. 86 der Bundesamtsakte der Antragstellerin, Gz. ...) beantragten die Bevollmächtigten der Antragstellerin beim Bundesamt, ein nationales Verfahren wegen der mitgeflüchteten Schwester … (geb. am …2011; Gz. ...) und dem in Deutschland lebenden volljährigen Bruder … (Gz. ...) durchzuführen.
5
Am 21. Januar 2022 richtete das Bundesamt aufgrund eines am 24. November 2021 festgestellten Eurodac-Treffers der Kategorie 2 für Italien ein Aufnahmegesuch nach der Dublin-III-VO bezüglich der Antragstellerin an die italienischen Behörden, das unbeantwortet blieb. Die minderjährige Schwester der Antragstellerin wurde nicht in das Aufnahmegesuch aufgenommen.
6
Mit Bescheid der Stadt … vom 28. Januar 2022 (Bl. 114 der Bundesamtsakte) erfolgte eine Einweisung der Antragstellerin gemeinsam mit ihrer minderjährigen Schwester … in eine städtische Asylbewerberunterkunft aus Gründen der Familienzusammenführung mit dem gemeinsamen Bruder … Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 23. Februar 2022 gab die Antragstellerin u.a. an, dass es korrekt sei, dass sie in Italien gewesen sei, sie seien aber dort festgenommen worden und hätten zwangsweise Fingerabdrücke abgeben müssen.
7
Auf die Frage, ob sie alleine gereist sei oder zusammen mit Verwandten, gab die Antragstellerin an, dass sie im Irak gelebt hätten. Sie sei mit ihrer Familie aus dem Irak ausgereist und in die Türkei gegangen. Dort hätten sie sich getrennt. Sie sei mit ihrer zehnjährigen Schwester weitergereist und hierhergekommen. Sie seien mit dem Schiff nach Italien gekommen. Sie seien festgenommen worden und für 14 Tage in Quarantäne gewesen. Danach seien sie und ihre Schwester nach Frankreich gefahren und von dort nach Deutschland. Sie habe in Italien keinen Asylantrag gestellt und auch keine Anhörung gehabt. Deutschland sei ursprünglich das Ziel ihrer Reise gewesen. weil ihr Bruder in Deutschland lebe. Sie habe erst auf dem Schiff gemerkt, dass ihre Eltern nicht dabei seien. Sie habe ihre minderjährige Schwester dabeigehabt. Ohne ihre Eltern habe sie unbedingt zu ihrem Bruder kommen müssen. Sie habe ihren Bruder gebraucht, um auf ihre Schwester aufzupassen. Sie habe auch gedacht, dass ihre Eltern vermutlich auch Deutschland erreicht hätten. Sie wisse nicht, aus welchem Grund sie nach Italien zurückgeschickt werden sollte. Ihr sei gesagt worden, dass die Fingerabdrücke polizeilichen Zwecken dienen würden, um zu kontrollieren, dass sie keine Straftaten begangen hätten. Sie wisse nicht, was sie in Italien tun solle und ob sie dort überhaupt in Sicherheit sein werde. In Deutschland fühle sie sich sicher, in Italien nicht.
8
Auf die Frage nach schutzwürdigen Belangen, z.B. wegen Familienmitgliedern, gab die Antragstellerin an, dass ihr Bruder in Deutschland lebe und sie auch ihre Schwester nach Deutschland mitgebracht habe.
9
Bei der Anhörung gemäß § 25 AsylG am 23. Februar 2022 gab die Antragstellerin u.a. an, dass sie in ihrem Heimatland mit ihren Eltern und ihrer Schwester zusammengelebt habe.
10
Mit Bescheid vom 23. März 2022 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), und die Abschiebung der Antragstellerin nach Italien angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
11
Zur Begründung des Bescheids wird u.a. ausgeführt, dass die persönliche Bindung der Antragstellerin zu ihrer mitgereisten minderjährigen Schwester nicht als außergewöhnlicher humanitärer Grund für einen Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Berücksichtigung finden könne, weil dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht von Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO gedeckt sei. Auch seien keine Anhaltspunkte für ein Abhängigkeitsverhältnis i.S.d. Art. 16 Dublin-III-VO ersichtlich. Daher sei auch der Anwendungsbereich der Art. 7 ff. Dublin-III-VO nicht eröffnet. Daneben enthält der Bescheid keine Ausführungen zur Frage des Bestehens einer von den Vorschriften der Dublin-III-VO unabhängigen tatsächlichen Familieneinheit zwischen der Antragstellerin und ihrer minderjährigen Schwester. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheides Bezug genommen.
12
Hiergegen hat die Antragstellerin mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 29. März 2022 beim Verwaltungsgericht Ansbach Klage erhoben (AN 14 K 22.50085), über die noch nicht entschieden ist, und den vorliegenden Eilrechtsschutzantrag gestellt.
13
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Bescheid rechtswidrig sei und die Antragstellerin in ihren Rechten verletze. In Deutschland lebe auch der Bruder der Antragstellerin, der seit Jahren ein eigenes Asylklageverfahren beim Verwaltungsgericht Ansbach führe. Für die minderjährige Schwester der Antragstellerin werde ebenfalls ein Asylverfahren geführt. Die Trennung der Geschwister widerspreche dem Kindeswohl-Gedanken und dem Schutz von Ehe und Familie. Natürlich seien die vorgebrachten persönlichen Bindungen der Antragstellerin vorliegend berücksichtigungsfähig, denn der Schutz nach Art. 16 Dublin-III-VO bestehe unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO. So sei es nachvollziehbar, aber auch zwingend, dass die zusammen geflüchteten Geschwister gewissermaßen von Natur aus füreinander Verantwortung trügen und füreinander eine Art Garantenstellung innehätten. Dies ergebe sich auch aus der Anhörung der Antragstellerin, in der sie sinngemäß ausführe, dass sie ohne ihre Eltern unbedingt zu ihrem Bruder habe kommen müssen, um gemeinsam auf die minderjährige Schwester aufzupassen. Unter Beachtung des Kindeswohls und der Grundsätze von Art. 6 [wohl GG] und Art. 8 EMRK sei das Selbsteintrittsrecht zwingend auszuüben, da den Schwestern eine Trennung nicht zuzumuten sei, da sie schon von ihren Eltern getrennt worden seien.
14
Mit Schriftsatz vom 24. Mai 2022 legte der Bevollmächtigte der Antragstellerin eine Meldebescheinigung der Stadt … vom 24. Februar 2022 vor, aus der sich die gemeinsame Wohnadresse der Antragstellerin und ihrer minderjährigen Schwester ergibt, und einen Abdruck der Niederschrift über die Anhörung der minderjährigen Schwester der Antragstellerin gemäß § 25 AsylG vom 11. Mai 2022, in der die minderjährige Schwester die von der Antragstellerin geschilderten Fluchtumstände bestätigt, nämlich dass sie im Irak zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester – der Antragstellerin – gelebt habe, dass sie gemeinsam ihre Flucht begonnen hätten, aber ohne die Eltern erst nach Italien und schließlich nach Deutschland eingereist seien. In Italien habe nur ihre Schwester – die Antragstellerin – Fingerabdrücke abgeben müssen.
15
Auf gerichtliche Aufforderung teilte die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 mit, dass der Asylantrag der minderjährigen Schwester der Antragstellerin im nationalen Verfahren zu prüfen gewesen sei, weil für diese im Gegensatz zur Antragstellerin kein Eurodac-Ergebnis vorgelegen habe. Die Antragstellerin und auch der in Deutschland lebende volljährige Bruder seien keine Familienangehörigen der minderjährigen Schwester gemäß Art. 2 Buchst. g, 3. Spiegelstrich Dublin-III-VO, da nicht diese, sondern das Kreisjugendamt … als deren Vormund bestellt worden sei.
16
Aus der beigezogenen Bundesamtsakte der minderjährigen Schwester der Antragstellerin … (Gz. ...) ergibt sich, dass für sie am 27. Dezember 2021 das Kreisjugendamt … als Vormund bestellt wurde (Bl. 24 d. A.) und dass ihr Asylantrag im nationalen Verfahren geprüft und gegen den ablehnenden Bescheid beim Verwaltungsgericht Ansbach Klage erhoben wurde (AN 2 K 22.30901), die zum Entscheidungszeitpunkt noch anhängig ist.
17
Aus der beigezogenen Bundesamtsakte des Bruders der Antragstellerin … (Gz. ...) ergibt sich, dass dessen Asylantrag ebenfalls im nationalen Verfahren geprüft wird und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.
18
Die Antragstellerin beantragt,
Die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gegen den Bescheid der Beklagten wird angeordnet.
19
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen, und bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid.
20
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
21
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.
22
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 23. März 2022 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Italien ist zulässig und begründet.
23
Die von der Antragstellerin erhobene Klage gegen diesen Bescheid entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG). Das Gericht der Hauptsache kann aber nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundlage dieser Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann.
24
Nach diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, weil die Klage mit für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinreichender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Die in Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 23. März 2022 getroffene Abschiebungsanordnung erweist sich nach summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
25
Italien war grundsätzlich nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO der zuständige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags der Antragstellerin.
26
Mit Blick auf ihre familiäre Situation hat die Antragstellerin nach der hier gebotenen summarischen Prüfung jedoch einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Antragsgegnerin gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO.
27
Der der Antragsgegnerin im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO zustehende weite Ermessensspielraum kann sich im Fall von individuellen, außergewöhnlichen humanitären Gründen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt verdichten (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22). Solche Gründe sind vorliegend gegeben, da der Antragstellerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf Achtung ihres Familienlebens nach Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK droht, der nur durch Ausübung des Selbsteintritts durch die Antragsgegnerin vermieden werden kann.
28
Sofern die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts zu einer Verletzung der Grundrechtecharte bzw. der EMRK führt und nur die Ausübung des Selbsteintritts diese verhindern kann, ist ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintritts zu bejahen (vgl. VG Berlin, U.v. 4.11.2021 – 34 K 519.18 A – juris Rn. 22 f. m.w.N.). Wenn der Grundrechtsverstoß sich in einem dauerhaften Abschiebungshindernis manifestiert, wird er auch nicht durch Feststellung eines Abschiebungsverbots ausreichend abgewendet, da in diesen Fällen entgegen der unionsrechtlichen Garantien die Durchführung eines nationalen Asylverfahrens unterbleibt (VG Berlin, U.v. 4.11.2021 – 34 K 519.18 A – juris 1.Ls. und Rn. 24 m.w.N.). Als solches dauerhaftes Abschiebungshindernis kommt insbesondere eine drohende Trennung der Kernfamilie in Betracht (vgl. VG Würzburg, B.v. 3.2.2021 – W 5 S 20.50297 – juris 3.Ls. und Rn. 32; VG Berlin, U.v. 4.11.2021 – 34 K 519.18 A – juris 2.Ls. und Rn. 23; VG Magdeburg, U.v. 9.5.22 – 3 A 5/21 MD – juris Rn. 22 f.).
29
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Antragstellerin und ihre minderjährige Schwester sind Teil der gleichen Kernfamilie. Hierfür sprechen zahlreiche, von beiden Schwestern in ihren Anhörungen übereinstimmend geschilderten Umstände, u.a., dass sie im Heimatland gemeinsam mit ihren Eltern zusammenlebten, dass sie gemeinsam die Flucht antraten, und dass sie, nachdem sie in der Türkei von ihren Eltern getrennt wurden, zu zweit ihre Flucht fortgesetzt haben. Sie sind zusammen nach Italien und anschließend nach Deutschland eingereist. Sie wohnen zusammen (mit ihrem Bruder) und die Antragstellerin hat in ihren Anhörungen geschildert, dass sie sich (zusammen mit dem gemeinsamen Bruder) um ihre kleine Schwester kümmert.
30
Es gibt demgegenüber keinerlei Anhaltspunkte, die dagegensprechen würden, dass der Familienverband zwischen der minderjährigen, erst zwölfjährigen Schwester und der Antragstellerin (und wohl auch dem Bruder), die zusammenleben, auch tatsächlich besteht. Intensive Familienbindungen können zweifellos auch zwischen anderen Personen als zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bestehen, beispielsweise in der Großfamilie zwischen Enkeln und Großeltern oder auch zwischen engen Verwandten in der Seitenlinie (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris 1.Ls. und Rn. 23 zum Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG), wie hier zwischen Geschwistern. Es gibt auch keinen Grund, an den übereinstimmenden Angaben der Schwestern zur Fluchtgeschichte und dem Zusammenleben im Irak zu zweifeln.
31
Die Argumentation des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid, die persönliche Bindung der Antragstellerin zu ihrer mitgereisten minderjährigen Schwester könne nicht als außergewöhnlicher humanitärer Grund für einen Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Berücksichtigung finden, weil dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht von Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO gedeckt sei, verkennt den Sinn und Zweck der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO. Dieser besteht gerade darin, Familienmitglieder zusammenzuführen, die nach den Kriterien der Dublin-III-VO (wie Art. 8 bis Art. 10 der Dublin-III-VO) sonst getrennt würden (vgl. VG Ansbach, B.v. 3.1.2023 – AN 17 E 22.50448 – juris Rn. 48 m.w.N.). Hierfür spricht auch der Wortlaut der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO, der den in Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO definierten Begriff des „Familienangehörigen“ gerade nicht verwendet. Darüber hinaus dürfte der Anwendungsbereich der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO, wenn diese nur für Familienangehörige i.S.d. Dublin-III-VO greifen würden, neben Art. 8 bis Art. 10 Dublin-III-VO äußerst gering sein. Es ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb mit der Ansicht des Bundesamts der Anwendungsbereich der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO derart begrenzt sein sollte.
32
Im vorliegenden Fall droht den Familienmitgliedern auch die Trennung, wenn nicht zu deren Vermeidung das Selbsteintrittsrecht ausgeübt würde.
33
Für die Antragstellerin wäre wie oben ausgeführt Italien der zur Prüfung ihres Asylantrags zuständige Mitgliedstaat nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO. Für ihre minderjährige Schwester war zwar ebenfalls Italien der zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO, jedoch hat die Antragsgegnerin für sie nicht innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Uabs. 1 Dublin-III-VO ein Aufnahmegesuch an Italien gerichtet, sodass die Antragsgegnerin selbst wegen Fristablaufs gemäß Art. 21 Abs. 1 Uabs. 3 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrags der minderjährigen Schwester zuständig geworden ist.
34
Eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Asylanträge beider Schwestern aufgrund der Art. 8 bis Art. 10 Dublin-III-VO kommt nicht in Betracht, da die Schwestern keine Familienangehörigen nach der Dublin-III-VO sind. Denn nach deutschem Recht ist nicht die Antragstellerin i.S.d. Art. 2 Buchst. g, 3. Spiegelstrich Dublin-III-VO für ihre minderjährige Schwester verantwortlich, sondern das als Vormund bestellte Kreisjugendamt … Es kommt wegen des oben geschilderten Fristablaufs nicht mehr darauf an, dass entgegen dem Vortrag des Bundesamts eine Zuständigkeit Italiens auch für die minderjährige Schwester – auch ohne diesbezüglichen Eurodac-Treffer – gegeben war. Schon aus Art. 21 Abs. 1 Uabs. 1 und Uabs. 2 Dublin-III-VO folgt, dass ein Eurodac-Treffer für ein Aufnahmegesuch keine zwingende Voraussetzung ist. Es gibt auch keinen Grund, an dem gemeinsamen Aufenthalt der beiden Schwestern in Italien zu zweifeln, zum einen, da der diesbezügliche, mehrfach wiederholte Vortrag der beiden Schwestern bei den Anhörungen übereinstimmt. Zum anderen erklärt sich die Tatsache, dass der minderjährigen Schwester in Italien keine Fingerabdrücke abgenommen wurden und daher kein Eurodac-Treffer erzielt wurde, am wahrscheinlichsten damit, dass mitreisenden Minderjährigen neben den begleitenden Erwachsenen bekanntermaßen nicht immer Fingerabdrücke abgenommen werden.
35
Das Auseinanderfallen der Zuständigkeiten stammt daher vorliegend aus dem Verantwortungsbereich des Bundesamts, weil es für die minderjährige Schwester kein fristgerechtes Aufnahmegesuch an Italien gerichtet hat, obwohl das jedenfalls nach dem mit Schriftsatz der Bevollmächtigten der Antragstellerin vom 10. Januar 2022 gestellten Antrag auf ein nationales Verfahren „wegen der mitgeflüchteten Schwester“, der einen gemeinsamen Italienaufenthalt der Schwestern mindestens nahelegt, noch fristgerecht hätte erfolgen können. Auch dies spricht für einen Anspruch der Antragstellerin auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Antragsgegnerin.
36
Es ist auch kein anderer Weg ersichtlich, wie die drohende Trennung der Familienmitglieder sonst abgewendet werden könnte, insbesondere ist Italien wie oben geschildert wegen Fristablaufs nicht mehr verpflichtet, das Asylverfahren für die minderjährige Schwester ebenfalls zu übernehmen.
37
Für die Antragstellerin besteht nach alldem ein dauerhaftes Abschiebungsverbot wegen einer drohenden Verletzung ihres Rechts aus Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Achtung ihres Familienlebens. Würde nun die Antragsgegnerin ihr Selbsteintrittsrecht nicht ausüben, würde der Asylantrag der Antragstellerin weder in Deutschland noch in Italien materiell geprüft. Dies widerspräche aber der unionsrechtlichen Garantie eines Asylverfahrens (s.o.).
38
Daher hat die Antragstellerin nach summarischer Prüfung einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin-III-VO Gebrauch macht.
39
Nach alldem überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin vorliegend das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Die aufschiebende Wirkung der Klage war deshalb anzuordnen.
40
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
41
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.