Titel:
Eingliederungshilfe, Schulische Teilleistungsstörung, Legasthenietherapie, Teilhabebeeinträchtigung, Selbstbeschaffung
Normenketten:
SGB VIII § 35a Abs. 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
SGB VIII § 36a Abs. 3
Schlagworte:
Eingliederungshilfe, Schulische Teilleistungsstörung, Legasthenietherapie, Teilhabebeeinträchtigung, Selbstbeschaffung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 11.02.2025 – 12 ZB 24.101
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34393
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten, die ihr für die Inanspruchnahme einer Legasthenietherapie entstanden sind.
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Die Klägerin ist am … … 2007 geboren. Am 22. Mai 2017 legte die Mutter der Klägerin zur Vorbereitung eines Antrags auf Kostenübernahme für eine Legasthenietherapie dem Jugendamt des Beklagten ein Gutachten der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis Dr. L. vom 5. Mai 2017 vor. Darin werden als Diagnosen eine Anpassungsstörung mit emotionaler und sozialer Beeinträchtigung (F43.2) (Achse I), eine Rechtschreibstörung (F81.1) und eine Leseschwäche (Achse II) bei durchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit (Achse III) sowie eine deutliche Beeinträchtigung in der psycho-sozialen Anpassung (Achse VI) genannt. Wesentliche körperliche Erkrankungen und belastende psycho-soziale Umstände seien nicht gegeben (Achsen IV und V). Es wird ausgeführt, die Klägerin sei zur Abklärung der Frage nach dem Vorliegen von Auffälligkeiten im Bereich Lesen und Rechtschreiben sowie geeigneter Intervention vorgestellt worden. Als psychischer Befund wird u.a. berichtet, die Arbeitsweise bei schriftsprachlichen Anforderungen sei langsam und unsicher gewesen, die Klägerin habe viel gegähnt. Ihr Antwortverhalten sei fragend und unsicher gewesen, es habe sich ein leichter Dysgrammatismus gezeigt. Die Klägerin sei sich ihrer Leistungsschwächen sehr bewusst und habe sich diesbezüglich äußern können. Ein ausgeprägtes Störungsbewusstsein und ein deutlicher Leidensdruck seien zum Ausdruck gekommen. Die Ergebnisse der psychodiagnostischen Untersuchungen würden zeigen, dass die Rechtschreibleistung als deutlich unterdurchschnittlich zu bezeichnen sei, die Leseleistung dem Bereich der Leseschwäche zuzuordnen sei. Zusammenfassend wird mitgeteilt, es würden sich sekundäre Folgen der Leistungsschwächen auf der emotionalen und Verhaltensebene in Form von Verunsicherung, Leistungs- und Versagensängsten, mangelndem Eigenmacht- und herabgesetztem Selbstwertgefühl zeigen. Die immer widerkehrenden Misserfolgserlebnisse im Bereich Lesen und Rechtschreiben hätten sich bereits negativ auf die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes der eigenen Leistungsfähigkeit ausgewirkt. Generalisierende Auswirkungen auf andere Fächer sowie eine zunehmende psycho-soziale Verunsicherung seien absehbar. Die Klägerin benötige unbedingt fachliche Förderung und Unterstützung im Bereich Lesen und Rechtschreiben. Es werde dringend und umgehend die Einleitung einer diesbezüglichen Therapie (Einzeltherapie) empfohlen, um weiteren negativen Auswirkungen auf das psycho-soziale und Leistungsverhalten bei zunehmenden schulischen Anforderungen im schriftsprachlichen Bereich entgegenzuwirken. Schulinterne und häusliche Maßnahmen allein würden nicht mehr ausreichen. Die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII seien erfüllt.
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Am 22. Juni 2017 fand ein persönlicher Termin beim Jugendamt mit der Klägerin und ihren Eltern statt.
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Von Seiten der Schule wurden mit Datum vom 22. Juni 2017 Nachteilsausgleich und Notenschutz gewährt.
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Aus einer undatierten schulischen Stellungnahme bezüglich der dritten Klasse geht hervor, dass die Klägerin nach außen hin ein fröhliches, liebes Kind sei. Zur seelischen Situation wird auf das fachärztliche Gutachten vom 5. Mai 2017 verwiesen. Die Klägerin sei an schulischen Dingen nicht sehr interessiert und wenig anstrengungsbereit. Im Hinblick auf das Sozialverhalten wird ausgeführt, die Klägerin habe keine Mühe, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Bei Partner- oder Gruppenarbeit liefere sie jedoch kaum Beiträge. Sie halte sich an Gesprächsregeln, höre aber selten aufmerksam zu. Bei der Frage, ob die Klägerin in die Klassengemeinschaft integriert sei, ist „gut“ angekreuzt und wird mitgeteilt, die Klägerin werde problemlos von allen aufgenommen. Die Frage, ob die Klägerin ausgegrenzt, gemobbt, gehänselt o.ä. werde, ist mit „nein“ beantwortet, ebenso die Frage, ob sich die Klägerin aus der Gemeinschaft zurückziehe. Weiterhin wird mitgeteilt, dass die Eltern sehr bemüht und kooperativ seien. Außerdem werde Nachteilsausgleich gewährt, die größeren Probleme würden aber in Mathematik liegen.
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Im Jahreszeugnis vom 28. Juli 2017 über den Besuch der dritten Jahrgangsstufe im Schuljahr 2016/2017 erhielt die Klägerin im Fach Deutsch die Note 4, im Fach Mathematik die Note 5. Zum Sozialverhalten ist ausgeführt, die Klägerin habe keine Mühe, sich in die Gemeinschaft einzufügen und gestalte soziale Kontakte zuverlässig. Sie habe sich bei Partner- oder Gruppenaufgaben nur wenig mit eigenen Beiträgen eingebracht. Zum Lern- und Arbeitsverhalten wurde mitgeteilt, dass die Klägerin an den Themen des Unterrichts kaum Interesse gezeigt habe. Aktive Wortmeldungen seien die Ausnahme gewesen. Die Klägerin gehe Aufgaben nicht immer planvoll an und habe nur gelegentlich Anstrengungsbereitschaft gezeigt. Hefteinträge seien nicht immer ordentlich und nach den Vorgaben angefertigt gewesen. Die häusliche Vorbereitung sei bisweilen oberflächlich und ungenau gewesen.
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Am 1. August 2017 ging der der schriftliche Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form von Legasthenietherapie beim Jugendamt ein.
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Mit Schreiben vom 23. August 2017 teilte das Jugendamt den Eltern der Klägerin mit, dass die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII nicht erfülle, da keine Teilhabebeeinträchtigung vorliege oder die Klägerin von einer solchen bedroht sei. Es wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
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Am 4. September 2017 teilten die Eltern der Klägerin dem Jugendamt mit, dass die Klägerin in die Parallelklasse gewechselt habe, da sie zum Schuljahresende von Mitschülern gefragt worden sei, warum sie überhaupt versetzt werde, weshalb in Frage stehe, ob sie nicht doch gemobbt werde. Seit einem Jahr befinde sich die Klägerin in Ergotherapie, die sehr intensiv Schulthemen aufgreife und vertiefe. Sie ziehe sich bereits sozial zurück.
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Der Beklagte sagte nochmalige Prüfung zu.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17. Oktober 2017 wurde der Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII i.V.m. §§ 53, 54 SGB XII abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine Teilhabebeeinträchtigung liege nicht vor. Die Klägerin sei laut der schulischen Stellungnahme gut in die Klassengemeinschaft integriert und werde nicht gemobbt oder ausgegrenzt. Der Wechsel in die Parallelklasse sei von Seiten der Schule nicht erwähnt worden. Es würden sich offensichtlich nicht die von der Rechtsprechung geforderten nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiven seelischen Störungen zeigen, sodass zu erwarten wäre, dass die Fähigkeiten zur Eingliederung in der Gesellschaft beeinträchtigt sei.
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Ab November 2017 nahm die Klägerin eine Legasthenietherapie in Anspruch.
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Mit Schreiben vom 13. November 2017 reichte die Klägerseite einen Zusatz zum fachlichen Gutachten vom 5. Mai 2017, datiert auf den 8. November 2017, beim Jugendamt ein und bat um nochmalige Prüfung sowie um Gelegenheit, eine aktuelle schulische Stellungnahme vorzulegen.
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Aus dem Zusatz zum fachärztlichen Gutachten vom 8. November 2017 ergibt sich, dass die Klägerin erneut vorgestellt worden sei. Es werden dieselben Diagnosen genannt wie im Ausgangsgutachten. Darüber hinaus wird ausgeführt, der Wechsel in die andere Klasse habe sich positiv ausgewirkt. Die Klägerin sei jedoch weiterhin auf Hilfe angewiesen, die über den Rahmen der schulischen und häuslichen Möglichkeiten hinausgehe. Im Rahmen der sozio-emotionalen Entwicklungsdiagnostik hätten sich insgesamt deutliche Hinweise auf emotionale Auffälligkeiten, vor allem auf ein geringes schulisches Selbstbewusstsein, eine ängstlich-vermeidende Haltung hinsichtlich schulisch relevanter Aufgaben und deutliche Belastung durch Rechtschreiben und Lesen ergeben. Bezüglich der sozialen Integration habe die Klägerin berichtet, sich im vorherigen Klassenverband nicht wohl gefühlt zu haben und auch das Gefühl gehabt zu haben, durch ihre Rechtschreib- und Leseschwierigkeiten häufig nicht akzeptiert worden zu sein, da sie nicht in der Lage gewesen sei, ähnliche Leistungen wie ihre Mitschüler zu erbringen. Es sei die Hoffnung geäußert worden, es schulisch „zu schaffen“ bzw. es auf die Realschule zu schaffen. Zusammenfassend wird mitgeteilt, die Klägerin sei im Schriftspracherwerb deutlich benachteiligt. Es seien sekundäre Folgen deutlich geworden, vor allem auf der emotionalen und der Verhaltensebene in Form von schulischer Verunsicherung und Insuffizienzgefühlen mit einem herabgesetzten Selbstwert- und mangelnden Eigenmachtgefühl in Bezug auf schulische Leistungen, die diagnostisch als Anpassungsstörung mit sozialen und emotionalen Beeinträchtigungen eingeordnet würden. Die Klägerin zeige bereits eine deutliche Negativerwartung in Bezug auf ihre Leistungen im Rechtschreiben und Lesen sowie Selbstwertdefizite, die sich zunehmend auch auf andere Bereiche ausdehnen und Schwierigkeiten in der sozialen Integration zeigen würden. Sie benötige deshalb dringend fachliche Förderung und Unterstützung im Bereich Rechtschreiben und Lesen, um weiteren negativen Auswirkungen auf das psychosoziale und Leistungsverhalten im schriftsprachlichen Bereich entgegenzuwirken.
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Mit Schreiben vom 4. Dezember 2017 teilte der Beklagte mit, dass das eingereichte Gutachten keinen neuen Sachstand ergebe. Die schulische Stellungnahme könne nochmals eingereicht werden.
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Am 8. Januar 2018 zeigte der Klägerbevollmächtigte die Vertretung an.
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Mit Schreiben vom 16. Januar 2018 begründete der Klägerbevollmächtigte den Widerspruch vom 13. November 2017 ausführlich dahingehend, dass sich aus den fachärztlichen Gutachten eine Teilhabebeeinträchtigung ergebe.
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Mit Schreiben an den Klägerbevollmächtigten vom 7. Februar 2018 wies der Beklagte darauf hin, dass keine neue schulische Stellungnahme eingegangen sei. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass sich die Testwerte aus der erneut durchgeführten Testung im Gutachten vom 8. November 2017 im Vergleich zum Gutachten vom 5. Mai 2017 ohne eine Legasthenietherapie verbessert hätten und dass im Gutachten geschildert werde, dass sich der Klassenwechsel positiv auf die Klägerin ausgewirkt habe. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII sei weiterhin nicht erfüllt.
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Mit Schreiben vom 8. März 2018 legte die Klägerseite eine schulische Stellungnahme vom 20. Februar 2018 vor, aus der im Wesentlichen hervorgeht, dass es der Klägerin aufgrund der Legasthenie und Dyskalkulie kaum möglich sei, den hohen Anforderungen der Übertrittsklasse nachzukommen. Der ständige Misserfolg führe zu einem Rückgang der Mitarbeit, Versagensangst und teils auch psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen. Die schriftlichen Leistungen in Deutsch seien aktuell ausreichend, in Mathematik mangelhaft. Die Klägerin sei nicht vollständig in die Klassengemeinschaft integriert, meist ziehe sie sich mit ihrer besten Freundin zurück. Klassenkameraden würden Unverständnis gegenüber den schlechten schulischen Leistungen der Klägerin, dem schlechten Schriftbild und der fehlenden Bereitschaft, ihre Hausaufgaben zu erledigen, zeigen. Die Klägerin ziehe sich aufgrund ihres negativen Selbstbildes und ihrer Unsicherheit teilweise aus der Gemeinschaft zurück.
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Außerdem wurde mit Schreiben vom 8. März 2018 eine Bestätigung der Praxis für Ergotherapie, bei der die Klägerin bis 2. Oktober 2017 in Behandlung war, vom 27. Februar 2018 eingereicht. Darin werden als Behandlungsschwerpunkte u.a. Beschleunigung des Arbeitstempos, der Selbstständigkeit, des Selbstwertgefühls und des Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten genannt und mitgeteilt, dass die Klägerin bereits viele Vermeidungsstrategien automatisiert gehabt habe, um unangenehmen schulischen Anforderungen auszuweichen. Sie habe versucht, viel Aufmerksamkeit und Hilfestellung durch Erwachsene zu erzielen, Blickkontakt gesucht und abgewartet.
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Auch ein Kurzbefund der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis Dr. L. vom 28. Februar 2018 wurde vorgelegt, der über die bekannten Diagnosen hinaus auf der Grundlage einer Kontrolluntersuchung mitteilt, dass sich eine deutlich verstärkte psycho-soziale Verunsicherung sowie Somatisierungstendenzen zeigen würden. Die Legasthenietherapie sei dringend erforderlich, da ein wesentliches Integrationsrisiko bestehe und diesbezügliche Anzeichen bereits vorhanden seien.
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Laut Aktenvermerk der zuständigen Sozialpädagogin des Jugendamtes des Beklagten vom 14. März 2018 werde nach Durchsicht der Gutachten und schulischen Stellungnahmen keine nachhaltige und wesentliche Einschränkung der sozialen Teilhabe ersichtlich. Die beschriebenen Probleme beträfen vor allem den schulischen Bereich. Die Klägerin sei in der Klassengemeinschaft – nicht vollständig – integriert. Sie habe eine Freundin und reite in ihrer Freizeit.
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Nachdem der Beklagte dem Widerspruch nicht abhalf, wies die Widerspruchsbehörde mit Bescheid vom 19. Februar 2019 den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es sei nicht erkennbar, dass die Klägerin nachhaltig in ihrer Fähigkeit zur aktiven, selbstbestimmten und altersgemäßen Ausübung sozialer Funktonen und Rollen in den sie betreffenden Lebensbereichen beeinträchtigt sei. Das psychosoziale Funktionsniveau sei nicht nachhaltig beeinträchtigt. Es gebe insbesondere kein konkretes Anzeichen für eine einsetzende totale Lern- oder Schulverweigerung, totale Versagensängste oder fehlende Integration. Die im fachärztlichen Gutachten auf Achse VI getroffene Diagnose „deutliche Beeinträchtigung der psychosozialen Anpassung“ werde hinsichtlich des Ausmaßes nicht näher erläutert. Im Übrigen entstehe der Eindruck, dass angesichts hoher Erwartungen an ein gutes Übertrittszeugnis Prüfungsängste entstanden seien. Schließlich sei nicht erkennbar, wie das größere schulische Problem, nämlich die unterdurchschnittlichen Leistungen in Mathematik durch eine Legasthenietherapie behoben werden sollten. Auch sei davon auszugehen, dass die Eltern eine konkret drohende Verschlechterung der Situation frühzeitig erkennen würden.
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Am 1. April 2019 erhob der Klägerbevollmächtigte Klage. Auf Frage des Gerichts änderte er am 19. Juni 2023 seinen ursprünglich auf Gewährung von Eingliederungshilfe gerichteten Klageantrag, legte Abrechnungen für die zwischen November 2017 und Januar 2023 durchgeführte Legasthenietherapie vor und beantragte,
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Der Ablehnungsbescheid vom 17. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2019 wird aufgehoben. Dem Antrag der Klägerin vom 1. August 2017 auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII in Gestalt der Kostenübernahme für im Zeitraum von November 2017 bis Januar 2023 selbstbeschaffte Hilfe wird in Höhe von insgesamt 5.482,90 EUR stattgegeben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die fachärztlichen Gutachten würden zeigen, dass die Probleme nicht abstrakt allgemeiner Natur seien, sondern gerade konkrete Anzeichen der Gefährdung der Teilhabe. Auch die Einschätzung der Schulpsychologin zum Nachteilsausgleich und Notenschutz spräche für das Vorliegen der Teilhabebeeinträchtigung. Die Legasthenietherapie sei die geeignete Maßnahme, da laut Gutachten häusliche Maßnahmen nicht ausreichen würden.
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Mit Schriftsatz vom 14. Mai 2019 erwiderte der Beklagte auf die Klage mit den bereits vorgetragenen Argumenten und beantragte,
29
Am 13. September 2023 fand die mündliche Verhandlung statt; ergänzende Sachverhaltsausführungen erfolgten durch die Klageseite nicht.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
32
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Legasthenietherapie, die sie zwischen November 2017 und Januar 2023 in Anspruch genommen hat. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 17. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung des Beklagten liegt hier nicht vor.
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In einem solchen Fall der sogenannten Selbstbeschaffung einer Hilfe ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
35
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er – obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – juris m.w.N.).
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Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII waren zu keinem Zeitpunkt im hier maßgeblichen Zeitraum November 2017 bis Januar 2023 gegeben. Denn es fehlt am Vorliegen des geltend gemachten Anspruchs nach § 35a SGB VIII.
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Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII besteht dann ein Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2).
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Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen, was vorliegend zumindest für den Zeitraum 2017/18 durch die Gutachten vom 22. Mai, 8. November 2017 und 28. Februar 2018 erfolgte und auch von dem Beklagten nicht bestritten wird.
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Zudem wurde in den Gutachten nicht nur eine Legasthenie diagnostiziert, welche eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII alleine nicht begründen kann, sondern zudem eine seelische Störung im Form der Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) diagnostiziert (sog. sekundäre Neurotisierung; vgl. mit ausführlicher Begründung u. a. VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 22; vgl. zum unklaren Prüfungsstandort der sekundären Neurotisierung: VG Freiburg, U.v. 7.10.2021 – 4 K 1152/21 – juris Rn. 84; OVG Lüneburg, B.v. 12.2.2020 – 10 ME 36/20 – juris Rn. 5 ff.; ThürOVG, U.v. 19.1.2017 – 3 KO 656/16- juris Rn. 33; VG Göttingen, U.v. 4.6.2019 – 2 A 568/16 – juris Rn 53 f.; BayVGH, B.v. 9.11.2010 – 12 ZB 09.1251 – juris Rn. 13).
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Ob oder wann sich am Vorliegen der seelischen Störung im Verlauf der Therapie etwas geändert hat, ist nicht geklärt, kann im Ergebnis aber offenbleiben, da es für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum an einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung i.S.v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII fehlte.
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Insofern kann den Ausführungen des Beklagten aber nur im Ergebnis gefolgt werden, da das Gericht nicht eine nachhaltige oder besonders gravierende Einschränkung der Integrationsfähigkeit fordert, aber davon auszugehen ist, dass auch die niedrigeren Anforderungen an die Qualität der Störung hier nicht erreicht bzw. nicht ausreichend dargelegt wurden.
42
Die Feststellung des Vorliegens der (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung obliegt dem Jugendamt. Geschulte Fachkräfte des Jugendamtes haben nachvollziehbare Aussagen zu den von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen sowie dem sozialen Umfeld zu treffen (BayVGH, B.v. 9.11.2010 – 12 ZB 09.1251 – juris Rn. 13; VG Würzburg, B.v. 8.9.2021 – W 3 E 21.1051 – juris Rn. 51). Hierbei soll eine einzelfallbezogene Bewertung und keine Schematisierung stattfinden (Wiesner/Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 35a Rn. 20). Es gilt der Untersuchungsgrundsatz, § 20 SGB X. An vorliegende fachärztliche Stellungnahmen sind die Fachkräfte des Jugendamtes dabei nicht gebunden (SächsOVG, B.v. 5.3.2019 – 3 A 1127/17 – juris Rn. 13), nachvollziehbare ärztliche Ausführungen sind aber zu berücksichtigen (NdsOVG, B.v. 31.3.2020 – 10 ME 69/20 – juris Rn. 10; vgl. auch SächsOVG, B.v. 26.4.2022 – 3 A 77/21 – juris Rn. 23). Anders als die Auswahl der konkret notwendigen und geeigneten Hilfemaßnahmen ist das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich voll überprüfbar und es besteht auf Seiten des Jugendamtes kein Beurteilungsspielraum (vgl. BayVGH, B.v. 18.2.2013 – 12 CE 12.2104 – juris Rn. 40 m.w.N.).
43
Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer Partizipation ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind beziehungsweise den Jugendlichen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und außerschulischen Betätigungsfeldern sowie Ausbildungsbereichen. Eine Auslegung des Begriffs der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen (VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 27 m.w.N.; Wiesner in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 19). Insbesondere im Bereich der Teilleistungsstörungen ist zu bedenken, dass für Kinder u.a. ein nach den individuellen intellektuellen Fähigkeiten angemessener Erwerb der wesentlichen Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) als wesentliche soziale Entwicklungsaufgaben zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gehört (VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 34).
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Eine Teilhabebeeinträchtigung liegt vor allem dann vor, wenn dem behinderten jungen Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in sozialer, schulischer oder beruflicher Hinsicht erschwert ist, mithin die Integrationsfähigkeit des jungen Menschen beeinträchtigt ist. Es muss eine negative Wechselwirkung zwischen der Person mit einem Gesundheitsproblem und den Bedingungen ihrer Umwelt auf ihre Fähigkeit zur Teilnahme an einem oder mehreren Lebensbereichen vorliegen (VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 28). Es genügt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 14/5074, S. 98, 121; VG Hannover, a.a.O., Rn. 31). Bestehen die Schwierigkeiten der Teilhabe im subjektiven Bereich des Betroffenen und nicht schon durch Ausgrenzungen von außen, z.B. durch subjektive Krankheitsverarbeitung und individuellem Umgehend mit der Problematik, ist dies ausreichend (VG Hannover, a.a.O., Rn. 31; Wiesner, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 19 f. m.w.N.).
45
In Literatur und Rechtsprechung – und vorliegend auch vom Beklagten – wird unter Bezugnahme auf die bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 26.11.1998 – 5 C 38/97 – juris Rn. 15) teilweise gefordert, dass die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein muss, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt und damit eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreitet (OVG NW, B.v. 22.4.2021 – 12 B 483/21 – juris Rn. 9 ff.; VG München, B.v. 27.8.2020 – M 18 E 20.3684 – juris Rn. 53; Kepert/Dexheimer in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a Rn. 19; vgl. auch von Koppenfels-Spiel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022 Stand: 1.8.2022, § 35a Rn. 47; von Boetticher, in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 35a Rn. 40 m.w.N.). Das Gericht folgt diesem Ansatz jedoch nicht. Denn aus der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ergibt sich diesbezüglich lediglich zum einen, dass die seelische Störung eine gewisse Qualität haben muss und zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen muss, was inzwischen mit § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ausdrücklich normiert wurde. Zum anderen lässt sich der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nur entnehmen, dass bei bloßen Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung noch nicht zu bejahen ist – anders als hingegen bei Störungen, wie auf Versagensängsten beruhender Schulphobie, totale Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und Vereinzelung in der Schule, bei denen die Grenze zur Teilhabebeeinträchtigung regelmäßig sicher überschritten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht hat Beispiele genannt, wann die Grenze sicher überschritten bzw. jedenfalls noch nicht erreicht ist; an welcher Schwelle eine relevante Beeinträchtigung beginnt, hat es aber nicht erörtert, sodass aus seiner Entscheidung nicht geschlossen werden kann, dass Verhaltensweisen der genannten Art bzw. Schwere bereits vorliegen müssen, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu bejahen. Weder Gesetzeswortlaut noch Gesetzeszweck sprechen dafür, eine gravierende Intensität, wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit o.ä. zu fordern, ebenso wenig fachliche Gründe oder das Erfordernis einer restriktiven Auslegung (vgl. ausführlich VG Hannover, 10.2.2012 – 3 A 2962/11 –, Rn. 29 ff. m.w.N.).
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Doch auch gemessen an diesen – im Vergleich zum vom Beklagten und der Widerspruchsbehörde angelegten deutlich höheren – Maßstäben ist eine Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin im vorliegenden Fall im streitgegenständlichen Zeitraum nicht feststellbar. Auch drohte eine solche nicht. Die vorliegenden Aussagen reichen nicht aus, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu begründen, die auf der durch die Legasthenie begründeten seelischen Störung beruht.
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Zunächst bleiben die Ausführungen der Praxis Dr. L. – die wie oben erwähnt, zwar nicht entscheidend, aber zu beachten sind – bezüglich der Teilhabebeeinträchtigung sehr undeutlich und floskelhaft. So wird im Gutachten vom 5. Mai 2017 als psychischer Befund im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei sich ihrer Leistungsschwächen sehr bewusst und habe sich diesbezüglich äußern können. Es seien ein ausgeprägtes Störungsbewusstsein und ein deutlicher Leidensdruck zum Ausdruck gekommen. In Zusammenfassung dieser Befunde und der psychodiagnostischen Untersuchung, die zum Ergebnis Rechtschreibstörung und Leseschwäche geführt hat, wird im Gutachten ausgeführt, es würden sich sekundäre Folgen der Leistungsschwächen auf der emotionalen und Verhaltensebene in Form von Verunsicherung, Leistungs- und Versagensängsten und einem mangelnden Eigenmacht- und einem herabgesetzten Selbstwertgefühl zeigen. Die immer wiederkehrenden Misserfolgserlebnisse im Bereich Lesen und Rechtschreiben hätten sich bereits negativ auf die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes der eigenen Leistungsfähigkeit ausgewirkt. Generalisierende Auswirkungen auf andere Fächer sowie eine zunehmende psycho-soziale Verunsicherung seien absehbar. Das Gutachten macht jedoch keine individuellen Ausführungen, auf welcher Grundlage es zu diesen zusammenfassenden Ergebnissen kommt. Es kann nicht nachvollzogen werden, welche Aussagen oder Verhaltensweisen der Klägerin oder sonstigen Beobachtungen oder Umstände das Vorliegen der Ängste und Verunsicherungen im psycho-sozialen Bereich nahe legen. Auch wird die Diagnose auf Achse VI „Deutliche Beeinträchtigung in der psycho-sozialen Anpassung“ nicht erläutert und erschließt sich noch weniger durch die zusammenfassende Aussage, eine zunehmende psycho-soziale Verunsicherung sei absehbar.
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Die fachärztlichen Aussagen im Zusatzgutachten vom 8. November 2017 sind zwar aufschlussreicher, indem individuelle Aussagen über die Ergebnisse der Klägerin im Rahmen der sozio-emotionalen Entwicklungsdiagnostik gemacht werden, bleiben im Ergebnis aber auch bei der unbelegten Angabe der Diagnosen „Anpassungsstörung mit sozialen und emotionalen Beeinträchtigung“ auf Achse I und „deutliche Beeinträchtigung in der psycho-sozialen Anpassung“ auf Achse VI stehen. Der Kurzbefund vom 28. Februar 2018 geht ebenfalls im Wesentlichen nicht über die bloße Nennung der „deutlich verstärkten psycho-sozialen Verunsicherung sowie Somatisierungstendenzen“ hinaus.
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Nachvollziehbare und tragfähige, auf eigenen Untersuchungen bzw. Beobachtungen beruhende Begründungen der Diagnosen fehlen weitestgehend.
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Auch die schulischen Stellungnahmen lassen kaum Raum für die Annahme einer Teilhabebeeinträchtigung. Die Stellungnahme über die Situation der Klägerin in der dritten Klasse bezeichnet die Klägerin als gut in die Klassengemeinschaft integriert. Die Klägerin habe keine Mühe, sich in die Gemeinschaft einzufügen und werde problemlos aufgenommen. Sie werde nicht ausgegrenzt, gemobbt, gehänselt und ziehe sich auch nicht zurück. Die schulische Stellungnahme vom 28. Februar 2018 führt zwar an, die Klägerin sei nicht vollständig in die Klassengemeinschaft integriert und ziehe sich meist mit ihrer besten Freundin zurück, lässt aber im Ergebnis auch nicht den Schluss auf eine (drohende) Teilhabebeeinträchtigung zu. Bemerkenswert ist, dass sich keine der schulischen Stellungnahmen zum Klassenwechsel der Klägerin zum Beginn der vierten Klasse verhält, so dass auch der Verweis der Eltern der Klägerin auf ein mögliches Mobbing keinerlei Bestätigung findet.
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Dementsprechend erscheint die – offenbar zumindest einzige schriftliche – fachliche Beurteilung der zuständigen Sozialpädagogin beim Beklagten vom 14. März 2018 zwar sehr knapp und – da nicht auf einem persönlichen Kontakt zwischen Sozialpädagogin und Klägerin beruhend – wenig belastbar, aber im Ergebnis noch nachvollziehbar.
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Selbst wenn man unter Zugrundelegung der schulischen Stellungnahme vom 28. Februar 2018 und der ärztlichen Aussagen vom Drohen einer Teilhabebeeinträchtigung ausginge, fehlt es zudem an der notwendigen Verknüpfung der seelischen Störung und der Teilhabebeeinträchtigung. Im Fall der Legasthenie kommt es darauf an, dass die Teilhabebeeinträchtigung nicht allein und nicht maßgeblich aus der Teilleistungsstörung resultiert, sondern sich als Folge der andauernden Misserfolgs- bzw. Versagenserlebnisse in diesem Bereich zu einer negativen Grundeinstellung bis hin zu einer resignativen Haltung zu den Lernanforderungen im Bereich des Schreibens und Lesens entwickelt hat (VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 34). Aus den vorliegenden Unterlagen ist ersichtlich, dass die Klägerin zumindest zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums jedoch nicht nur im Fach Deutsch, sondern besonders im Fach Mathematik schwache Leistungen zeigte. Wie sich die Misserfolge in Mathematik auf Selbstbild und Lerneinstellung der Klägerin ausgewirkt hat, wurde – soweit ersichtlich – nie ergründet. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass sie mindestens ebensowenig zuträglich waren wie die Erschwernisse beim Lesen und Schreiben. Dass die durch die Legasthenie begründeten andauernden Misserfolgs- und Versagenserlebnisse demzufolge nicht unbedingt kausal für eine möglicherweise drohende oder entstandene Teilhabebeeinträchtigung waren, erscheint außerdem vor dem Hintergrund noch wahrscheinlicher, dass sich das Lern- und Arbeitsverhalten der Klägerin allgemein nicht positiv darstellte. Die schulische Stellungnahme bezüglich der Situation der Klägerin in der dritten Klasse teilt mit, die Klägerin sei an schulischen Dingen nicht sehr interessiert und wenig anstrengungsbereit. Außerdem höre sie selten aufmerksam zu. Dementsprechend attestiert auch das Zeugnis über den Besuch der dritten Klasse, dass das Lern- und Arbeitsverhalten insgesamt nicht befriedigend gewesen sei. Die Klägerin sei Aufgaben nicht immer planvoll angegangen und habe nur gelegentlich Anstrengungsbereitschaft gezeigt. Hefteinträge seien nicht immer ordentlich und nach den Vorgaben angefertigt worden. Auch die häusliche Vorbereitung sei bisweilen oberflächlich und ungenau gewesen. Die schulische Stellungnahme vom 28. Februar 2018 stellt dies zwar nicht mehr in den Vordergrund aber es werden auch hier das schlechte Schriftbild und die fehlende Bereitschaft, die Hauaufgaben zu erledigen genannt. Vor allem wird dort aber auch deutlich, dass die Probleme im Fach Mathematik aus Sicht der Lehrerin wohl schon dem Bereich der Dyskalkulie anzusiedeln seien. Die Lehrerin differenziert nicht zwischen Schwierigkeiten durch die Legasthenie und solchen durch die Dyskalkulie. Es ist davon auszugehen, dass die Probleme durch die Dyskalkulie mindestens ebenso wie die durch die Legasthenie zu den ständigen Misserfolgserlebnissen, Versagensängsten etc. geführt haben.
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Alldem zufolge kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Teilhabebeeinträchtigung vorlag, die kausal mit der auf der Legasthenie beruhenden seelischen Störung verknüpft war, sodass die Anspruchsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII nicht vorlagen und somit auch nicht diejenigen des § 36a Abs. 3 SGB VIII erfüllt waren.
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Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Voraussetzungen im weiteren Verlauf des streitgegenständlichen Zeitraums erfüllt worden wären. Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen erfolgt regelmäßig zeitabschnittsweise und damit befristet (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1571 – juris). Denn die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe erfüllt sind, ist nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 – 4 B 235/12 – juris Rn. 5 f.). Dementsprechend sind auch im Hinblick auf die Beurteilung des Systemversagens, welches die Selbstbeschaffung zulässig werden lässt, Zeitabschnitte zu bilden. So kann eine zunächst unzulässig selbstbeschaffte Maßnahme im Folgenden mangels rechtmäßiger Entscheidung des Jugendhilfeträgers zulässig werden (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 36 m.w.N.; OVG NW, U.v. 16.11.2015 – 12 A 1639/14 – juris Rn. 84 ff. m.w.N.; U.v. 25.4.2012 – 12 A 659/11 – juris 54 ff.) und umgekehrt (vgl. VG Bremen, U.v. 17.5.2021 – 3 K 2333/18 – juris Rn. 42; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 22). Die Abgrenzung von Zeitabschnitten für die Beurteilung erscheint hier angesichts der vorliegenden Akten, die keine Auskunft über die Situation der Klägerin nach Februar 2018 geben, kaum möglich. Nach Angaben des Beklagten und Erfahrungswerten des Gerichts wären die Leistungen für eine Legasthenietherapie aber wohl höchstens für ein Jahr gewährt worden.
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Die Beurteilung des darüber hinausgehenden Zeitraums ab November 2018 scheitert daher schon am vollständigen Fehlen von Unterlagen, die Aufschluss über die jeweils aktuelle Situation der Klägerin und den Verlauf der Legasthenietherapie geben könnten, oder sonstigen Anhaltspunkten. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Voraussetzungen von § 35a SGB VIII bzw. § 36a Abs. 3 SGB VIII zu irgendeinem Zeitpunkt während des streitgegenständlichen Zeitraums erfüllt gewesen wären. Dass die Legasthenietherapie bis Januar 2023 durchgeführt wurde, kann nicht belegen, dass die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII zu einem späteren Zeitpunkt gegeben waren. Die anwaltlich vertretenen Eltern durften nicht davon ausgehen, dass die Jugendhilfeleistungen über mehrere Jahre hinweg ohne neuen Sachvortrag – nachträglich – bewilligt würden. Insoweit kann auch keine weitere Ermittlungspflicht des Jugendamts angenommen werden. Im Verfahren obliegt es den Beteiligten, Anträge und Anregungen so zu konkretisieren, dass der von der Behörde zu prüfende Gegenstand und das Verfahrensziel deutlich wird (Mutschler, in Rolfs/Körrner/Krasney/Mutschler, beck-online.Großkommentar (Kasseler Kommentar), Stand: 1.6.2019, § 20 SGB X Rn. 6). Der Hilfebedarf muss durch den Bedürftigen so an den Jugendhilfeträger herangetragen werden, dass dieser Anlass hat, den Hilfebedarf zu prüfen und weitere Ermittlungen anzustellen (vgl. VG Hannover, U.v. 25.9.2023 – 3 A 3497/20 – juris Rn. 19). Vorliegend fehlt jeglicher Sachvortrag im weiteren Verlauf des streitgegenständlichen Zeitraums, sodass die Amtsermittlungspflicht noch nicht ausgelöst war, wenngleich der Widerspruchsbescheid sowie die Klageerwiderung vom 14. Mai 2019 ausschließlich auf der Grundlage eines nicht aktuellen Sachverhalts erstellt wurden. Mangels anderweitigen Vortrags der Klägerseite oder sonstiger Anhaltspunkte schlägt dies jedoch nicht durch.
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Die Klage war somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.