Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.10.2023 – 6 C 23.1652
Titel:

Fiktive Terminsgebühr auch für Anwalt der durch Gerichtsbescheid vollständig obsiegenden Partei

Normenketten:
VwGO § 84 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, § 165
RVGVV Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Der Rechtsanwalt einer vollständig obsiegenden Partei kann eine fiktive Terminsgebühr beanspruchen, auch wenn er mangels Beschwer keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen konnte. Es genügt, dass bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann. Ob der einzelne Beteiligte durch den Gerichtsbescheid beschwert wird, ist unbeachtlich. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenfestsetzung, Rechtsanwaltsgebühren, Gerichtsbescheid, Fiktive Terminsgebühr bei vollständigem Obsiegen, Anwaltsvergütung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 31.08.2023 – RO 11 M 23.1431
Fundstellen:
JurBüro 2024, 135
BeckRS 2023, 34304
LSK 2023, 34304

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten werden der Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 16. Juni 2023 – RO 11 K 22.1340 – und der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 31. August 2023 – RO 11 M 23.1431 – geändert.
Die der Beklagten zu erstattenden Aufwendungen werden auf 2.159,85 € festgesetzt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Erinnerungs- und Beschwerdeverfahrens zu tragen

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattungsfähigkeit einer fiktiven Terminsgebühr.
2
Im zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren hatte das Verwaltungsgericht die gegen einen Erschließungsbeitragsbescheid gerichtete Klage durch Gerichtsbescheid vom 2. März 2023 – RO 11 K 22.1340 – abgewiesen und dem Kläger die Kosten des Verfahrens auferlegt. Anträge auf Zulassung der Berufung oder Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurden nicht gestellt.
3
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 16. Juni 2023 setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die der Beklagten zu erstattenden Aufwendungen auf 1.134,55 € fest, ohne dabei die von den Prozessbevollmächtigten der Beklagten geforderte fiktive Terminsgebühr (einschließlich Umsatzsteuer) in Höhe von 1.025,30 € zu berücksichtigen. Das wurde damit begründet, dass der Gebührentatbestand der Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG nicht erfüllt sei, weil die Beklagte in vollem Umfang obsiegt habe und deshalb keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung habe stellen können.
4
Hiergegen haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten Erinnerung eingelegt, die das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. August 2023 zurückgewiesen hat.
5
Mit ihrer Beschwerde verfolgen sie ihr Festsetzungsbegehren weiter.
II.
6
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
7
Auf Seiten der Beklagten ist für die anwaltliche Vertretung im zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts eine fiktive Terminsgebühr entstanden, die in der beantragten Höhe als erstattungsfähig (§ 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO) festzusetzen ist.
8
Nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG entsteht die Terminsgebühr auch, wenn nach § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden wird und eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann. Beide Voraussetzungen sind erfüllt. Das Verwaltungsgericht hat über die Klage durch Gerichtsbescheid entschieden. Die Beteiligten hätten gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO innerhalb eines Monats nach dessen Zustellung Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung beantragen können. Dass die Beklagte im Hauptsacheverfahren in vollem Umfang obsiegt hat, schließt das Entstehen der fiktiven Terminsgebühr nicht aus.
9
Zwar wird unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Gebührentatbestands (vgl. BT-Drs. 17/11471 <neu> S. 275) auch von einzelnen Senaten des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Auffassung vertreten, dass der Rechtsanwalt einer vollständig obsiegenden Partei eine fiktive Terminsgebühr nicht beanspruchen könne, weil diese mangels Beschwer keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen könne und deshalb die vom Gesetzgeber bezweckte Steuerungswirkung ins Leere gehe (so etwa BayVGH, B.v. 24.10.2018 – 5 C 18.1932 – juris; B.v. 9.8.2022 – 7 C 22.928 – NVwZ-RR 2022, 971; vgl. auch Mayer in Gerold/Schmidt RVG, 26. Aufl. 2023, Anhang 1. Teil IV Rn. 20 m.w.N.). Diese Ansicht teilt der erkennende Senat jedoch nicht. Für das Entstehen der fiktiven Terminsgebühr genügt nach dem Gesetzeswortlaut, dass bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid „eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann“, also ein entsprechender Antrag nach dem Gesetz statthaft ist (so auch BayVGH, B.v. 27.2.2020 – 8 C 18.1889 – BayVBl 2020, 638; BayVGH, B.v. 4.10.2023 – 4 C 23.1580 – m.w.N.). Diese Möglichkeit besteht für die Beteiligten in den Fällen des § 84 Abs. 2 Nrn. 2, 4 und 5 VwGO, nicht aber in den Fällen des § 84 Abs. 2 Nrn. 1 oder 3 VwGO. Ob der einzelne Beteiligte durch den Gerichtsbescheid beschwert wird, ist unbeachtlich.
10
Für ein den Gesetzeswortlaut einengendes, auf die Beschwer des einzelnen Beteiligten abstellendes Verständnis ist kein durchgreifender Grund ersichtlich. Zum einen erscheint bereits fraglich, ob die vom Gesetzgeber bezweckte typisierende Steuerungswirkung es rechtfertigen kann, dem Rechtsanwalt der vollständig obsiegenden Partei die fiktive Terminsgebühr zu verwehren, die der im selben Verfahren für die vollständig unterlegene Partei tätig gewordene Rechtsanwalt erhält. Zum anderen kann aber auch die Grundüberlegung für eine einschränkende Auslegung nicht überzeugen, die vollständig obsiegende Partei könne mangels Beschwer das Gericht nicht zu einer mündlichen Verhandlung zwingen und brauche deshalb keinen Gebührenanreiz. Denn in den Fällen des § 84 Abs. 2 Nrn. 2, 4 und 5 VwGO muss auch bei einem unzulässigen Antrag – nicht zuletzt mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK – durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Rn. 21 m.w.N.). § 84 VwGO sieht keinen Verwerfungsbeschluss vor, so dass mangels spezieller gesetzlicher Grundlage die allgemeinen prozessrechtlichen Regeln gelten. Danach ist auch über Zulässigkeitsfragen aufgrund mündlicher Verhandlung (vorbehaltlich eines Verzichts, § 101 Abs. 2 VwGO) durch Urteil zu entscheiden, zumal deren Beantwortung durchaus schwierige Fragen aufwerfen kann, die das Kostenverfahren überfrachten würde.
11
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Erinnerungs- und das Beschwerdeverfahren sind gerichtsgebührenfrei, weil das Gerichtskostengesetz keinen entsprechenden Gebührentatbestand erhält; nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nur bei einer (vollständig oder teilweise) erfolglosen Beschwerde eine Gerichtsgebühr an.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).