Titel:
Keinen Anspruch auf Gewährung von "November- oder Dezemberhilfe" mangels indirekter Betroffenheit
Normenketten:
BayVwVfG Art. 48 Abs. 1 S. 2, S. 2, Abs. 2 S. 1, S. 2, S. 3 Nr. 2, Art. 49a Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1
GG Art. 3 Abs. 1
StGB § 264 Abs. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Eine Selbstbindung der Verwaltung kann bei ermessenslenkenden Zuwendungsrichtlinien schon „ab dem ersten Fall“ entstehen, indem die Zuwendungsrichtlinien die jeweilige Verwaltungspraxis antizipieren und aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG von Beginn an Bindungswirkung entfalten. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch und gerade in Zuwendungsverfahren, welche, um eine zügige Zuwendungsgewährung zugunsten einer Vielzahl von Antragstellern zu gewährleisten, als „automatisierte Massenverfahren“ ausgestaltet sind, trifft jeden Antragsteller eine letztlich auch aus § 264 Abs. 1 Nr. 1 StGB resultierende, zur allgemeinen Mitwirkungspflicht hinzutretende (erhöhte) Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Rücknahme von Zuwendungsbescheiden, indirekte Betroffenheit, Vertrauensschutz, automatisiertes Massenverfahren, Selbstbindung der Verwaltung, Coronahilfen
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 18.08.2023 – Au 6 K 21.2578 u.a.
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34283
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglos gebliebenen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für seine Klagen gegen die Rücknahmen der ihm zunächst von der Beklagten gewährten Novemberhilfe (Zuwendungsbescheid vom 20. Februar 2021, Rücknahmebescheid vom 24. November 2021) und Dezemberhilfe (Zuwendungsbescheid vom 20. Februar 2021, Rücknahmebescheid vom 7. Dezember 2021) weiter.
2
Den gleichzeitig mit Klageerhebung gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe vom 17. Dezember 2021 für die – zwischenzeitlich am 24. Juli 2023 zurückgenommenen – Klagen hat das Verwaltungsgericht Augsburg mit dem Klägerbevollmächtigtem am 22. August 2023 zugestelltem Beschluss vom 18. August 2023 abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klagerücknahme stehe einer rückwirkenden Gewährung von Prozesskostenhilfe zwar nicht entgegenstehen, wenn – wie vorliegend – der Prozesskostenhilfeantrag rechtzeitig und vollständig vor Verfahrensabschluss gestellt worden, mithin bewilligungsreif gewesen sei. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete aber keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil die erhobenen Klagen voraussichtlich unbegründet seien. Die streitgegenständlichen Bescheide, mit welchen die dem Kläger zunächst gewährte Novemberhilfe und Dezemberhilfe zurückgenommen (Nr. 1 des jeweiligen Bescheids), die Anträge auf Gewährung von Novemberhilfe und Dezemberhilfe abgelehnt (Nr. 2) und der Kläger zur Erstattung der jeweils als November-/Dezemberhilfe erhaltenen Zahlungen (Nr. 3) aufgefordert wurde, da ansonsten Zinsen erhoben würden (Nr. 4), seien rechtmäßig. Die Ablehnung der Gewährung (Nr. 2) auf Basis der tatsächlichen Verwaltungspraxis und der insoweit maßgeblichen Richtlinien für die Gewährung von Corona-Hilfen einschließlich der zugehörigen FAQ sei rechtmäßig. Der Kläger habe im Rahmen der Antragstellung angegeben, dass er indirekt betroffen sei, und mit Stellungnahme vom 13. Oktober 2021 ausgeführt, dass er mit seinem Taxigeschäft hauptsächlich im Nachtbetrieb mit Kunden aus Diskotheken, Hotels und Tanzlokalen arbeite und daher im November 2020 gezwungen gewesen sei, seine Arbeit einzustellen. Dazu werde aber in den FAQ Ziff. 1.3 ausdrücklich ausgeführt, dass Taxiunternehmen in derartigen Konstellationen nicht indirekt betroffen seien, weil die Fahrgäste, welche das Taxiunternehmen in der Regel beauftragen bzw. bezahlen würden, nicht direkt betroffen seien. Auch die jeweiligen Nrn. 1, 3 und 4 der Rücknahmebescheide seien rechtmäßig, weil die Zuwendungsbescheide bereits zum Erlasszeitpunkt rechtswidrig gewesen seien und der Kläger nicht in schutzwürdiger Weise auf deren Bestand habe vertrauen dürfen (Art. 48 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BayVwVfG). Die Rückzahlungsverpflichtung ergebe sich aus Art. 49a Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG, die Verzinsung aus Art. 49a Abs. 3 Satz 1 BayVwVfG.
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Am 3. September 2023 legte der Klägerbevollmächtigte dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht Augsburg ein. Zur Begründung wird angeführt, dass das Verwaltungsgericht sich in seiner Ablehnung auf einen nach über 1 ½ Jahren gewonnenen Rechtsstandpunkt stelle, nicht aber auf eine Prognose zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife. Die bemühte tatsächliche Verwaltungspraxis habe sich erst entwickeln müssen, angesichts der unterschiedlichen Handhabung in den Bundesländern für die eingerichtete Bundeshilfe könne von einer verlässlichen Praxis ohnehin nicht ausgegangen werden. Der Wortlaut „gilt“ in Ziff. 1.3 der FAQ zeige, dass eine abweichende Beurteilung möglich gewesen wäre, zumal es sich bei den FAQ nicht einmal um die Richtlinien selbst handele. Der Kläger habe berechtigterweise einen Antrag auf Zuwendungen gestellt. Die die Ablehnung/Rückforderung betreffenden Klagen hätten zum Zeitpunkt ihrer Erhebung hinreichende Erfolgsaussichten gehabt, wie etwa insbesondere das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 15. November 2021 (W 8 K 21.861) zeige, welches sich mit der damaligen bayerischen Verwaltungspraxis beschäftigt und den Rückforderungsbescheid betreffend einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt als rechtswidrig erachtet habe. Es habe dabei trotz Nachprüfungsvorbehalt im Bewilligungsbescheid einen der Rückforderung entgegenstehenden Vertrauenstatbestand angenommen. Im Rahmen der Beurteilung von hinreichenden Erfolgsaussichten sei es schlechterdings undenkbar, dass das Verwaltungsgericht Augsburg eine Entscheidung eines anderen Verwaltungsgerichts als so abwegig ansehe. Ebenso sei die Annahme falsch, der Kläger habe unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht. Der Kläger habe wahrheitsgemäß angegeben, dass er einen Taxibetrieb habe und sich indirekt betroffen fühle. Letzteres, eine direkte oder indirekte Betroffenheit, sei eine Wertungsfrage. Der in diesem Zusammenhang getätigte Hinweis des Gerichts, es handele sich um ein automatisiertes Verfahren, sei unverständlich. Der Kläger habe sein Gewerbe zutreffend angegeben. Wenn hiernach eine Bewilligung erfolge, könne er mit Recht davon ausgehen, dass die Beklagte seine Betroffenheit als ausreichend erachte. Dem Kläger sei unbekannt, wie viele Anträge bei der Beklagten gestellt und mit wie viel Personal bearbeitet würden. Die Beklagte habe so einen Vertrauenstatbestand geschaffen. Eine Kausalität sei gerade angesichts einer offenbar unterbliebenen inhaltlichen Prüfung nicht herleitbar. Wenn die Beklagte Anträge dergestalt „durchwinke“, sei es unerheblich, welche Angaben gemacht würden.
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Das Verwaltungsgericht half der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vor.
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Die Beklagte ist der Beschwerde entgegengetreten.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Die Beschwerde ist zulässig (§ 146 Abs. 1 VwGO), aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten der Klagen nicht vorliegen.
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1. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Gewährung einer November-/Dezemberhilfe rechtswidrig war und daher von der Beklagten nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens endgültig abgelehnt und zurückgenommen werden konnte.
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Beim Kläger lag bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Zuwendungsbescheide die für eine Antragsberechtigung erforderliche (vorliegend allein streitige) indirekte Betroffenheit nicht vor. Die dennoch erfolgte Gewährung der November-/Dezemberhilfe entgegen der von der Beklagten vorgetragenen ständigen Verwaltungspraxis verstößt gegen den aus der entsprechenden Selbstbindung resultierenden Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 118 Abs. 1 BV) und ist rechtswidrig (dazu 1.1). Die Beklagte hat daher die gewährte Zuwendung zu Recht zurückgenommen; insbesondere steht den Rücknahmen kein Vertrauenstatbestand entgegen (dazu 1.2).
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1.1 Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Erlasses der Zuwendungsbescheide mangels (direkter oder) indirekter Betroffenheit keinen Anspruch auf Gewährung von November- oder Dezemberhilfe. Zur Beurteilung dieses Anspruchs kommt es dabei nicht auf die „Auslegung“ der Richtlinie (oder gar der diese ergänzenden FAQ, etwa von deren Wortlaut „gilt“), sondern darauf an, wie die Richtlinie behördlicherseits in ständiger, zu einer Selbstbindung führenden Verwaltungspraxis gehandhabt worden und in welchem Umfang infolgedessen eine Bindung an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 118 Abs. 1 BV) eingetreten ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2022 – 22 ZB 22.1151 – juris Rn. 17 m.w.N.). Die Beklagte hat in ihren Klageerwiderungen vom 20. Januar 2022 plausibel und nachvollziehbar dargelegt, dass sie in ihrer ständigen Verwaltungspraxis die Richtlinien zur November- und Dezemberhilfe bzgl. des Erfordernisses der indirekten Betroffenheit (mindestens 80% des verlorenen Umsatzes wurden mit Kunden generiert, welche direkt betroffen sind) auch so umgesetzt hat. Dem Einwand des Klägers, es habe sich erst eine tatsächliche Verwaltungspraxis entwickeln müssen, ist zu entgegnen, dass eine Selbstbindung der Verwaltung jedenfalls bei (wie vorliegend) ermessenslenkenden Zuwendungsrichtlinien schon „ab dem ersten Fall“ entstehen kann, indem die Zuwendungsrichtlinien die jeweilige Verwaltungspraxis antizipieren und aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG von Beginn an Bindungswirkung entfalten (auch in Form der Schaffung eines Vertrauenstatbestands; in diesem Sinne VGH BW, U.v. 22.5.2014 – 10 S 1719/13 – juris Rn. 33; vgl. weiterführend Geis in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 40 VwVfG Rn. 74 ff.). Davon abgesehen konnten in Bayern Anträge auf Gewährung der Novemberhilfe ab November 2021 und auf Gewährung der – von den Voraussetzungen her insoweit nahezu identischen – Dezemberhilfe ab Ende Dezember 2021 gestellt werden. Zum Zeitpunkt der Antragstellung durch den Kläger, am 19. Februar (Dezemberhilfe) bzw. 20. Februar (Novemberhilfe) 2022, hatte sich folglich, angesichts der enormen Anzahl an Anträgen und entsprechender Bewilligungen, auch insofern längst eine ständige Verwaltungspraxis etabliert.
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1.2 Der Kläger durfte im Hinblick auf die Rücknahme/Rückforderung der Zuwendungen nicht in schutzwürdiger Weise auf den Bestand der Zuwendungsbescheide vertrauen – unabhängig davon, ob Rechtsgrundlage für die Rücknahme vorliegend Art. 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayVwVfG ist oder es gar keiner Rücknahme nach Art. 48 BayVwVfG, sondern nur einer Ablehnung im (dann) Schlussbescheid bedarf (vgl. dazu VG München, U.v. 8.5.2023 – M 31 K 21.4671 – juris Rn. 44 ff.). Selbst wenn Art. 48 Abs. 2 Satz 1 und 2, Satz 3 Nr. 2 BayVwVfG vorliegend nicht greifen würde (auch unter dem vom Kläger angedeuteten Aspekt, ob es sich um eine „Wertungsfrage“ und keine Angabe i.S.v. Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BayVwVfG handle, vgl. dazu VG München, U.v. 16.3.2023 – M 31 K 21.6228 – juris Rn. 35), ist der Kläger (dann) jedenfalls auf Basis eines ungeschriebenen Ausschlusstatbestands des Vertrauensschutzes (VG München, U.v. 16.3.2023 a.a.O. Rn. 37 ff.) nicht schutzwürdig. Denn abgesehen von den vorhandenen Informationen im Antragsformular und in den Zuwendungsrichtlinien selbst war für ihn seine fehlende indirekte Betroffenheit aufgrund der im Internet abrufbaren FAQ, die den vorliegenden Sachverhalt ausdrücklich als Beispiel erörtern, ohne weiteres erkennbar (so auch das Verwaltungsgericht). Auch und gerade in Zuwendungsverfahren, welche, um eine zügige Zuwendungsgewährung zugunsten einer Vielzahl von Antragstellern zu gewährleisten, als „automatisierte Massenverfahren“ ausgestaltet sind, trifft jeden Antragsteller eine letztlich auch aus § 264 Abs. 1 Nr. 1 StGB resultierende, zur allgemeinen Mitwirkungspflicht (Art. 26 Abs. 2 BayVwVfG) hinzutretende (erhöhte) Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben (auch wenn es sich ggf. nicht um solche nach Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BayVwVfG handelt). Das setzt denknotwendig auch eine ausreichende Befassung mit den Antragsvoraussetzungen und entsprechenden, von der Beklagten/dem Zuwendungsgeber zur Verfügung gestellten Informationsmaterialien voraus (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 20.7.2022 – 22 ZB 21.2777 – juris Rn 21). Aus dem vom Kläger bemühten Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 15. November 2021 ergibt sich nichts anderes, da diesem – unabhängig von der oben angesprochenen Frage, inwieweit Art. 48 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BayVwVfG vorliegend überhaupt anwendbar ist – eine gänzlich andere Konstellation zugrunde liegt. Ausschlaggebend war dort, dass die Zuwendungsempfängerin sowohl als Betreiberin eines Fitnessstudios als auch eines Gesundheitsstudios, d.h. trotz fehlerhafter Angaben bzw. auch bei Zugrundelegung des korrekten Sachverhalts, direkt betroffen gewesen ist, so dass etwaige unrichtige Angaben zur Betroffenheit sich nicht kausal auf die Zuwendungsgewährung ausgewirkt hätten. Davon kann vorliegend (in Bezug auf die diskutierte indirekte Betroffenheit) keine Rede sein.
12
Auch ansonsten, insbesondere im Hinblick auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der übrigen Nummern der streitgegenständlichen Bescheide, sind Bedenken weder vorgetragen noch ersichtlich.
13
Die erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage lagen daher schon zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Antrags auf Prozesskostenhilfe nicht vor.
14
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, da für die Zurückweisung der Beschwerde nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) nur eine streitwertunabhängige Festgebühr erhoben wird.
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).