Titel:
rechtmäßige Verlustfeststellung
Normenkette:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 2, § 4 Abs. 6, Abs. 7, § 4a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b, § 5 Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Eine Abwesenheit von mehr als 25 Jahren kann bei der Berechnung des Zeitraums des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht als unschädliche Abwesenheitszeit angesehen und die davorliegende Aufenthaltszeit mit angerechnet werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Recht auf Einreise und Aufenthalt als Unionsbürger, Verlustfeststellung, Arbeitnehmer, Fortbestehensfiktion, Arbeitssuche, nicht erwerbstätiger Unionsbürger, ausreichende Existenzmittel, Familienangehörige, Daueraufenthaltsrecht vor Ablauf von fünf Jahren (hier: verneint), vorübergehende Erwerbsminderung, unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Erwerbsminderung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.05.2023 – M 12 K 23.27, M 12 K 23.29
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34259
Tenor
I. Die Verfahren 10 ZB 23.1438 und 10 ZB 23.1439 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
II. Die Anträge auf Zulassung der Berufung werden abgelehnt.
III. Die Kläger tragen die Kosten ihres jeweiligen Zulassungsverfahrens.
IV. Der Streitwert für die Zulassungsverfahren wird auf jeweils 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit ihren gemäß § 93 Satz 1 VwGO zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Anträgen auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger, ein 1950 bzw. 1954 geborenes Ehepaar mit ungarischer Staatsangehörigkeit, ihre in erster Instanz erfolglosen Anfechtungsklagen gegen Bescheide der Beklagten vom 8. Dezember 2022 weiter, mit denen jeweils der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, eine Ausreisefrist von einem Monat nach Eintritt der Bestandskraft des Bescheides bestimmt und für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Ungarn angedroht wurde.
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Die Anträge auf Zulassung der Berufung sind unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen der Kläger im Zulassungsverfahren weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ergeben und auch der in der Sache (wohl) gerügte Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht vorliegt.
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1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn die Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätten (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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1.1. Das Verwaltungsgericht hat im Verfahren des Klägers zu 2. (M 12 K 23.29) zu Recht festgestellt, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU erfolgen konnte, weil die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU – vor Erwerb des Daueraufenthaltsrechts (s. § 4a FreizügG/EU) – innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind.
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Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt, der Kläger zu 2. sei nach seiner Einreise zusammen mit seiner Ehefrau (Klägerin zu 1.) am 28. September 2016 nur bis 1. März 2018 als Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU erwerbstätig gewesen und habe seither Leistungen nach dem SGB II bzw. inzwischen SGB XII bezogen. Die Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer habe bei ihm auch nicht gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als fortbestehend gegolten. Weder liege in seinem Fall eine vorübergehende Erwerbsminderung infolge Krankheit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU) noch eine unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU) vor. Auch eine Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitssuchender nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU bestehe nicht, da Nachweise über nachhaltige Bemühungen um Arbeit seit Beginn der Arbeitslosigkeit am 1. März 2018 nicht erbracht worden seien. Der Kläger zu 2. sei auch nicht als nicht erwerbstätiger Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, da er nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Vielmehr sei er seit mittlerweile mehr als fünf Jahren auf staatliche Sozialleistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts angewiesen und der lange Bezug von Sozialleistungen auch als unangemessen einzustufen. Sein Lebensunterhalt werde auch nicht durch seine im Bundesgebiet lebenden Kinder gesichert.
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Schließlich habe der Kläger zu 2. auch nicht gemäß § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU bereits vor Ablauf von fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht erlangt. Denn er habe seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer bereits aufgegeben, bevor er sich mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten habe.
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Soweit die Klägerseite dagegen einwendet, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger zu 2. mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern bereits von 1986 bis April 1990 in Deutschland gelebt und hier gearbeitet habe und dass diese Voraufenthaltszeit im Rahmen des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU mit anzurechnen sei, hat die Beklagte zu Recht auf die gesetzlichen Wertungen in § 4 Abs. 6 und 7 FreizügG/EU für bezüglich des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts unschädliche Abwesenheitszeiten verwiesen. Danach liegt auf der Hand, dass die Abwesenheit des Klägers zu 2. und seiner Familie von 1990 bis zur erneuten Einreise im September 2016 bei der Berechnung des Zeitraums des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht etwa als unschädliche Abwesenheitszeit angesehen und die davorliegende Aufenthaltszeit mit angerechnet werden kann.
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Ebenso wenig durchgreifend ist der Einwand, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers zu 2. nicht mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfallen sei, sondern vielmehr gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als fortbestehend gelte. Er habe sich nach seiner Kündigung im Jahr 2018 ernsthaft und fortwährend um eine neue Erwerbstätigkeit bemüht und sich auf Stellenangebote beworben. Obwohl diese Bemühungen bisher nicht erfolgreich gewesen seien, sei er weiterhin bereit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, und auch erwerbsfähig. Abgesehen davon, dass dieser Vortrag eine bloße Behauptung darstellt, der zudem im Widerspruch dazu steht, dass gleichzeitig das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU (Aufgeben der Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung) geltend gemacht wird, setzt sich der Einwand auch nicht hinreichend mit der tragenden Erwägung des Verwaltungsgerichts auseinander, jedenfalls nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit sei regelmäßig nicht mehr davon auszugehen, dass der Unionsbürger zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt fähig sei.
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Unbehelflich ist auch der Vortrag, der Kläger hätte nach seiner Kündigung öffentliche Mittel nicht in Anspruch genommen, wenn er sich der Folgen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht bewusst gewesen wäre.
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Soweit sich die Klägerseite weiter darauf beruft, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts lägen die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung für nicht erwerbstätige Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU vor, weil die Familienangehörigen bereit seien, den Kläger zu 2. (ebenso wie die Klägerin zu 1.) zu unterstützen, und diesbezüglich auf eine beigefügte Erklärung der Tochter vom 24. Mai 2023 verweist, ist dies nicht geeignet, die Annahme fehlender ausreichender Existenzmittel beider Kläger ernstlich in Zweifel zu ziehen. Ungeachtet dessen, dass eine ausreichende finanzielle Unterstützung der Kläger durch die Kinder schon in der Vergangenheit offensichtlich nicht erfolgt ist, ist die nunmehr vorgelegte Erklärung von ihrer Formulierung her „… mitteilen dass ich und meine Geschwister im Rahmen unserer bescheidenen finanziellen Möglichkeiten unterstützen wir unsere Eltern auch finanziell und verpflegen wo es nur geht!“ ungeeignet, die ausreichende Leistungsfähigkeit und -willigkeit zur dauerhaften Kostenübernahme für den Lebensunterhalt beider Kläger auch nur annähernd zu belegen.
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Schließlich ist auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die defizitären Ermessenserwägungen der Beklagten zu Unrecht nicht beanstandet, nicht durchgreifend. Die Zulassungsbegründung enthält hier schon nicht die erforderliche substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das sich eingehend mit der Frage der behaupteten Integration des Klägers zu 2. im Bundesgebiet und seiner Entwurzelung von seinem Herkunftsstaat, den bestehenden persönlichen Bindungen im Inland sowie den geltend gemachten Erkrankungen befasst hat.
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Dass unter Berücksichtigung der Aufenthaltszeiten des Klägers zu 2. von einer entscheidenden sozialen und kulturellen Integration im Bundesgebiet und fehlenden Bindungen zum Heimatland ausgegangen werden müsste und zudem der aktuelle Gesundheitszustand des Klägers zu 2. eine Rückkehr in sein Heimatland unzumutbar mache, sind nur vage und unsubstantiierte Behauptungen.
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1.2. Bezüglich der Klägerin zu 1., die ihre Freizügigkeitsberechtigung im Wesentlichen als Familienangehörige des Klägers zu 2. nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU bzw. (ebenfalls) als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU geltend macht, kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zum Kläger zu 2. (unter 1.1.) verwiesen werden.
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2. Der Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt ebenfalls nicht vor bzw. ist schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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Zur Darlegung der besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sind die entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkret zu benennen, die diese Schwierigkeiten aufwerfen, und es ist anzugeben, dass und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser Fragen besondere Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Begründung dafür zu geben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (BayVGH, B.v. 17.10.2019 – 10 ZB 18.1883 – juris Rn. 10; B.v. 9.5.2019 – 10 ZB 19.317 – juris Rn. 9; B.v. 20.2.2019 – 10 ZB 18.2343 – juris Rn. 18).
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Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen, das im Wesentlichen auf „die Reichweite und den Anwendungstatbestand von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU“ verweist, aus den bereits oben dargelegten Gründen nicht.
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3. Mit der Rüge, das Verwaltungsgericht habe es versäumt, bezüglich der Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers zu 2. ein Sachverständigengutachten einzuholen, und den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, wird der Sache nach ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geltend gemacht. Die Rüge greift schon deshalb nicht durch, weil eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht grundsätzlich nicht geltend gemacht werden kann, wenn der anwaltlich vertretene Kläger es – wie hier – unterlassen hat, in der mündlichen Verhandlung entsprechende Beweisanträge zu stellen (vgl. etwa BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6). Mit der Aufklärungsrüge können Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten, vor allem unterbliebene Beweisanträge, nicht kompensiert werden (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2017 – 10 ZB 16.1049 – juris Rn. 8; zuletzt B.v. 17.2.2023 – 10 ZB 22.2670 – Rn. 4, nicht veröffentlicht). Im Übrigen ist mit der Zulassungsbegründung auch weder schlüssig dargelegt noch sonst ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht die Grenzen seines Ermessens bezüglich der Sachverhaltsaufklärung überschritten hätte.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht jeweils auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung der Anträge auf Zulassung der Berufung werden die jeweiligen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).