Inhalt

VGH München, Beschluss v. 17.11.2023 – 10 ZB 23.1049
Titel:

Vertrauensschutz, arglistige Täuschung

Normenketten:
BayVwVfG Art. 38, Art. 48 Abs. 3
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Bei der Rücknahme sonstiger begünstigender Verwaltungsakte im Sinne des Art. 48 Abs. 3 BayVwVfG sind etwaige Vertrauensschutz begründende Umstände nicht schon auf der Tatbestandsseite, sondern allenfalls bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rücknahme von Aufenthaltstiteln, Ermessen, Vertrauensschutzerwägungen, arglistige Täuschung über Staatsangehörigkeit und Alter, Verwirkung der Rücknahmebefugnis (hier: verneint), Vertrauensschutz, arglistige Täuschung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 26.01.2023 – M 12 K 22.1806
Fundstellen:
BayVBl 2024, 343
BeckRS 2023, 34256
LSK 2023, 34256

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2022 weiter, mit dem die ihm erteilten Aufenthaltstitel (befristete Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis) zurückgenommen wurden, er zur Rückgabe der Niederlassungserlaubnis nach Unanfechtbarkeit der Rücknahme verpflichtet, zur Ausreise aus dem Bundesgebiet aufgefordert sowie ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Pakistan angedroht wurde.
2
Der Antrag auf Zulassung der Begründung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen des Klägers im Zulassungsverfahren keine – hier der Sache nach allein geltend gemachten – ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben.
3
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
4
Soweit mit der Zulassungsbegründung lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird, genügt dies bereits nicht den Darlegungsanforderungen. Denn die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO insoweit geforderte Darlegung verlangt eine konkrete fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (stRspr, vgl. BayVGH B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 3).
5
Soweit Ermessensfehler sowie die Unverhältnismäßigkeit der Rücknahmeentscheidung aufgrund des durch das Verhalten der Beklagten geschaffenen Vertrauenstatbestandes gerügt werden, werden ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils aufgezeigt. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Berücksichtigung etwaiger Vertrauensschutz begründender Umstände bei der Rücknahme sonstiger begünstigender Verwaltungsakte im Sinne des Art. 48 Abs. 3 BayVwVfG nicht schon auf der Tatbestandsseite, sondern allenfalls bei der Ermessensausübung erfolgen kann (vgl. J. Müller in BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, Stand 1.7.2023, § 48 Rn. 85, 88 f.; Decker in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, Stand 15.10.2023, VwVfG § 48 Rn. 29; zu Vertrauensschutzerwägungen bei Anwendung von Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2023 – 10 ZB 23.132 – juris Rn. 29). Es hat weiter zu Recht festgestellt, dass ein etwaiges Vertrauen des Klägers in den Bestand seiner Aufenthaltstitel entsprechend den in Art. 48 Abs. 2 Satz 3 und 4 BayVwVfG enthaltenen Rechtsgedanken nicht schutzwürdig ist, weil dieser seine Aufenthaltstitel durch mehrfache arglistige Täuschungen (über Staatsangehörigkeit und Alter) erlangt hat. Schließlich ist auch die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden, dass das Verhalten der Beklagten nach Offenlegung der wahren Identität durch den Kläger am 4. Mai 2018 durch Vorlage seines pakistanischen Passes keinen Vertrauensschutz auf den Bestand der ihm erteilten Niederlassungserlaubnis begründe. Dass der Kläger nicht unmittelbar nach Vorlage seines pakistanischen Passes, sondern erst mit Schreiben der Beklagten vom 17. Juli 2019 zur Stellungnahme zu seinen bisher vorgelegten afghanischen Reisepässen aufgefordert und zugleich Strafanzeige wegen Erschleichens von Aufenthaltstitel gestellt wurde, ist nach zutreffender Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts (allein) nicht geeignet, ein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand der rechtswidrig erlangten Rechtsposition entstehen zu lassen.
6
Auch den Umstand, dass die Beklagte den Rücknahmebescheid gegenüber dem Kläger erst am 24. Februar 2022 erlassen und zuvor die Niederlassungserlaubnis in seinen vorgelegten pakistanischen Reisepass übertragen hat, hat das Erstgericht rechtsfehlerfrei dahingehend gewürdigt, dass damit kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand dieser Niederlassungserlaubnis geschaffen und vor allem keine Zusicherung im Sinne des Art. 38 BayVwVfG abgegeben worden ist.
7
Die Rücknahmebefugnis kann eine Behörde zwar auch durch Verwirkung verlieren. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Behörde die Ausübung ihres Rechts unter Verstoß gegen Treu und Glauben während eines langen Zeitraumes verzögert hat, und dass der Bürger als Folge dieses Verhaltens darauf vertraut hat, von der Befugnis werde kein Gebrauch gemacht, und sich darauf eingerichtet hat; insoweit ist auch geklärt, dass alleine der Ablauf eines bestimmten Zeitraumes für die Annahme einer Verwirkung nicht ausreicht (stRspr des BVerwG, z.B. B.v. 11.7.2018 – 8 B 45.17 – juris Rn. 5 m.w.N.; vgl. auch BayVGH, B.v. 27.5.2021 – 19 ZB 20.1976 – juris Rn. 26). Dass die Beklagte hier einen solchen Vertrauenstatbestand geschaffen haben könnte, hat das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise verneint (BA Rn. 53) und ist auch unter Berücksichtigung der Begründung des Zulassungsantrags nicht ersichtlich.
8
Die Rücknahmeentscheidung der Beklagten weist auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK kein Ermessensdefizit auf. Die Beklagte und ihr folgend das Verwaltungsgericht haben alle dafür maßgeblichen Kriterien, insbesondere Aufenthaltsdauer, wirtschaftliche und soziale Integration, Sprachkenntnisse, persönliche Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sowie Entwurzelung vom Herkunftsstaat (Pakistan) ausreichend gewürdigt. Eine Fehlgewichtung dieser Kriterien ist weder schlüssig dargelegt noch sonst ersichtlich.
9
Schließlich wird die Annahme des Verwaltungsgerichts, im Fall des Klägers sei auch in Zukunft konkret zu befürchten, dass er in Verwaltungsverfahren erneut falsche oder unvollständige Angaben über relevante persönliche Umstände machen wird, wenn ihm dies nützlich oder vorteilhaft erscheint, mit der Zulassungsbegründung, nach Klärung der Identität sei eine weitere Täuschungshandlung nicht (mehr) vorstellbar, nicht ernstlich in Zweifel gezogen (vgl. dazu BayVGH, U.v. 29.3.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 56 f.).
10
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
11
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).