Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.11.2023 – 10 CE 23.1675
Titel:

Kein Abschiebungsverbot wegen vorgetragener Erkrankungen

Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2
AsylG § 42
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Die tatsächliche Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens mit einer lückenlosen ärztlichen Begleitung des Abzuschiebenden während des gesamten Abschiebungsvorgangs sowie einer medizinischen Inempfangnahme am Zielflughafen ist als ausreichend anzusehen, um eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr durch die Abschiebung als solche wirksam abzuwehren. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Begehren auf vorläufige Duldung, Anordnungsanspruch, Zuständigkeit des Bundesamts für zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung, Reiseunfähigkeit im engeren und weiteren Sinn (hier: verneint), rechtliche Betreuung kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, türkischer Staatsangehöriger, Duldung, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, chronische Perimyokarditis, Muskeldystrophie, fachärztliches Attest, Reiseunfähigkeit
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 08.09.2023 – Au 1 E 23.1381
Fundstelle:
BeckRS 2023, 34252

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) zu verpflichten, den weiteren Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland vorläufig zu dulden.
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Die vom Antragsteller mit seiner Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof in seiner Prüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben. Der Antragsteller hat weiterhin keinen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung bzw. auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht.
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1. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot der Abschiebung des Antragstellers in die Türkei nicht entgegensteht, weil dies nach § 42 AsylG aufgrund der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 10. November 2022 und deren Bestätigung durch das Verwaltungsgericht (Au 3 K 22.31270) bindend feststeht. Über den Wiederaufgreifensantrag des Antragstellers zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hat das dafür zuständige BAMF inzwischen mit Bescheid vom 20. Oktober 2023 entschieden und (erneut) festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Daran ist der Antragsgegner (weiterhin) gebunden. Auch eine „inzidente Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote“ kommt somit entgegen dem Beschwerdevortrag nicht in Betracht.
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2. Das Verwaltungsgericht hat ein (tatsächliches oder rechtliches) Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG beim Kläger zu Recht im Hinblick auf die von ihm geltend gemachten Erkrankungen verneint.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht. In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote. Eine bestehende Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zwei Fällen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; stRspr des Senats, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 9.5.2017 – 10 CE 17.750 – juris Rn. 3, B.v. 28.11.2022 – 10 CE 22.2250, 10 C 22.2252 – juris Rn. 8 jew. m.w.N.).
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Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, so lange der Ausländer eine fehlende Reisefähigkeit nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände enthalten, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben (stRspr, vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778 – juris Rn. 13 m.w. Rsprnachweisen).
7
Gemessen daran ist das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die beim Antragsteller diagnostizierte chronische Perimyokarditis die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung nicht begründet. Es hat zutreffend festgestellt, den vorliegenden fachärztlichen Attesten lasse sich nicht entnehmen, dass die bestehende Herzerkrankung sich unmittelbar durch die Abschiebung als solche wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern werde. Vielmehr werde in den Attesten lediglich ausgeführt, dass sich die mit der Abschiebung verbundenen Belastungen nachteilig auf den Gesundheitszustand des Antragstellers auswirken könnten. Insofern bestand und besteht keine Veranlassung, zu dieser Frage ein amtsärztliches Gutachten einzuholen. Auch das von Antragstellerseite zuletzt vorgelegte „fachärztliche Attest zum Antrag auf Aussetzung der Abschiebung“ des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie M. E. vom 9. November 2023 ist nicht geeignet, eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers infolge seiner Herzerkrankung glaubhaft zu machen. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht die beabsichtigte tatsächliche Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens durch den Antragsgegner mit einer lückenlosen ärztlichen Begleitung des Antragstellers während des gesamten Abschiebungsvorgangs sowie einer medizinischen Inempfangnahme am Zielflughafen als ausreichend angesehen, um eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr durch die Abschiebung als solche wirksam abzuwehren (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778 – juris Rn. 15 m.w. Rsprnachweisen u. insbes. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 11). Die im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Anfälle beim Antragsteller Anfang Mai 2023 und am 8. August 2023 sind nicht geeignet, die Bewertung des Verwaltungsgerichts zu widerlegen bzw. der Abschiebung entgegenstehende gesundheitliche Gründe glaubhaft zu machen.
8
Den vorliegenden fachärztlichen Attesten lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich die beim Antragsteller weiter diagnostizierte Muskeldystrophie unmittelbar durch die Abschiebung als solche wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern werde. Auch unter Berücksichtigung der sonst diagnostizierten Erkrankungen ist dies weder mit der Beschwerde substantiiert dargelegt noch sonst ersichtlich.
9
Im Hinblick auf die beim Antragsteller diagnostizierten psychischen Erkrankungen (rezidivierende depressive Störung, posttraumatische Belastungsstörung) hat das Verwaltungsgericht ebenfalls in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass (auch) dadurch eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung nicht begründet wird. Die im Verfahren vorgelegten ärztlichen Berichte bzw. Atteste hat das Verwaltungsgericht zu Recht insoweit als nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG genügend angesehen, weil darin der Schweregrad der Erkrankung und die Auswirkungen einer Abschiebung bzw. des Abschiebungsvorgangs auf den Zustand des Antragstellers nur unzureichend dargelegt werden und sich eine konkrete Gefahr suizidaler Handlungen aufgrund der Abschiebung daraus nicht ergebe. Vielmehr stelle die ärztliche Bescheinigung des Bezirksklinikums Schwaben vom 17. August 2023 ausdrücklich fest, dass zum Zeitpunkt der Entlassung (des Antragstellers) kein Hinweis auf Suizidalität oder Fremdgefährdung bestanden habe. Das fachärztliche Attest vom 9. November 2023 genügt mit der pauschalen und nicht näher begründeten Feststellung, „aufgrund der ungünstigen gesundheitlichen Prognose, der fehlenden Perspektiven und der immer wieder bestehenden Suizidalität bestünde im Fall einer Abschiebung eine massive Gefährdung“ den beschriebenen gesetzlichen Anforderungen nicht. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht selbständig tragend festgestellt, dass auch hinsichtlich der psychischen Erkrankungen des Antragstellers durch die geplante lückenlose ärztliche Begleitung des gesamten Abschiebungsvorgangs bis zur Inempfangnahme (durch medizinisches Fachpersonal) am Zielflughafen eine konkrete Gefährdung und ernsthafte Suizidgefahr ausgeschlossen werde. Der diesbezügliche Einwand der Beschwerde, das Verwaltungsgericht hätte eine amtsärztliche Begutachtung anordnen müssen, weil eine Suizidgefahr beim Antragsteller im Zusammenhang mit der Abschiebung nicht auszuschließen sei, ist nicht geeignet, diese Annahme des Verwaltungsgerichts durchgreifend in Frage zu stellen.
10
Die für den Antragsteller mit Beschluss des Amtsgerichts M. vom 7. September 2023 (befristet bis 6.3.2024) unter anderem für die Bereiche Gesundheitssorge sowie Organisation der ambulanten Versorgung angeordnete Betreuung (§§ 1814 ff. BGB) ist – worauf der Antragsgegner zutreffend hingewiesen hat – ebenfalls nicht geeignet, ein hier allein streitgegenständliches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis zu begründen; die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist, wie bereits ausgeführt, dem dafür zuständigen BAMF vorbehalten (vgl. oben und S. 12 des vom Antragsgegner vorgelegten Bescheids des BAMF vom 20.10.2023).
11
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
12
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
13
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).