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OLG München, Endurteil v. 15.11.2023 – 7 U 1977/22
Titel:

VW-Dieselskandal: Anspruch auf Differenzschaden bei Motortyp EA 288 (hier: VW Caddy)

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; BeckRS 2023, 22177; BeckRS 2023, 26995; OLG Celle BeckRS 2021, 42362; OLG Dresden BeckRS 2022, 23413; BeckRS 2022, 33522; BeckRS 2022, 23367; OLG Hamburg BeckRS 2022, 41537; OLG Koblenz BeckRS 2023, 25585; OLG München BeckRS 2023, 22881; BeckRS 2023, 24732; BeckRS 2023, 25588; BeckRS 2023, 33429; OLG Oldenburg BeckRS 2023, 24388; BeckRS 2021, 45193; BeckRS 2023, 26748; BeckRS 2023, 25591; OLG Stuttgart BeckRS 2021, 50990; OLG Schleswig BeckRS 2022, 10559 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388; offen gelassen bei BGH BeckRS 2023, 27169. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Fahrkurvenerkennung/Zykluserkennung ist für eine Haftung nach § 826, § 31 BGB nur dann relevant, wenn eine auf dem Prüfstand erkannte Fahrkurve Auswirkungen auf das Emissionsverhalten hat. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine unterbliebene Offenlegung des Thermofensters oder dessen genauer Wirkungsweise gegenüber dem KBA reichen für eine Täuschungsabsicht der Herstellerin nicht aus. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4. Beim Differenzschaden gegenzurechnen sind die Vorteile, die der Käufer aus dem erworbenen Fahrzeug gezogen hat, also der Restwert des Fahrzeugs und die von ihm gezogenen Nutzungsvorteile, allerdings nur, soweit die Summe dieser Positionen den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss (Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigt. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Schadensersatz, sittenwidrig, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, Lenkwinkelerkennung, Differenzschaden, (un)vermeidbarer Verbotsirrtum
Vorinstanz:
LG Traunstein, Endurteil vom 21.03.2022 – 5 O 3119/20
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33959

Tenor

1. Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 21.3.2022 (Az.: 5 O 3119/20) abgeändert gemäß den folgenden Ziffern.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 894,46 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.8.2020 zu bezahlen.
3. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen und die weitergehende Klage bleibt bzw. wird abgewiesen.
4. Von den Kosten der ersten Instanz haben die Klagepartei 94% und die Beklagte 6% zu tragen. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klagepartei 93% und die Beklagte 7% zu tragen.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
7. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird für die Zeit bis 13.8.2023 auf 13.339,54 € und für die Zeit danach auf 13.138,65 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

A.
1
Die Klagepartei macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem sog. „Dieselskandal“ geltend.
2
Die Klagepartei erwarb am 24.10.2016 von einem Dritten den streitgegenständlichen PKW der Marke VW Caddy bei einem Kilometerstand von 15.515 zum Kaufpreis von 18.200,- €. Das Fahrzeug verfügt über einen von der Beklagten hergestellten Motor des Typs EA 288 (EU 6). Die Abgasreinigung erfolgt über einen SCR-Katalysator und erfordert die Verwendung von Ad-Blue. Die Klagepartei steht auf dem Standpunkt, die Motorsoftware des Fahrzeugs enthalte diverse unzulässige Abschalteinrichtungen, die dafür Sorge trügen, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalte. Hierfür habe die Beklagte gegenüber der Klagepartei nach § 826 BGB und anderen Anspruchsgrundlagen einzustehen.
3
Im Termin vom 8.11.2021 hat das Landgericht ein klagabweisendes Versäumnisurteil erlassen. Hiergegen hat die Klagepartei form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.
4
Die Klagepartei hat beantragt,
1.
Das Versäumnisurteil vom 8.11.2021 wird aufgehoben.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei Euro 14.778,28 nebst Zinsen aus Euro 14778,28 in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 10.8.2020 zu bezahlen, Zug um Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKW Typs Volkswagen Caddy, FIN: …928.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei Euro 2.738,48 Deliktszinsen zu bezahlen, Zug um Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKW Typs Volkswagen Caddy, FIN: …928.
4.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Antrag I genannten Fahrzeugs seit dem 27.7.2020 in Verzug befindet.
5.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von Euro 1.154,20 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten freizustellen.
5
Die Beklagte hat beantragt, das Versäumnisurteil vom 8.11.2021 aufrechtzuerhalten.
6
Das Landgericht hat das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils wird Bezug genommen. Mit ihrer zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung hat die Klagepartei zunächst ihr erstinstanzliches Begehren hinsichtlich der Hauptsache (obiger Antrag 2, Zahlbetrag 13.339,54 €), der Feststellung des Annahmeverzugs (obiger Antrag 4) sowie der vorgerichtlichen Kosten (obiger Antrag 5) weiterverfolgt.
7
Die Klagepartei beantragt nunmehr:
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Euro 12.178,65 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 10.8.2020 zu bezahlen, Zug um Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKW Typs Volkswagen Caddy, FIN: …928.
II. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Antrag I genannten Fahrzeugs seit dem 11.8.2020 in Verzug befindet.
III. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von Euro 1.184,05 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten freizustellen.
Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht Antrag I nicht stattgeben sollte und nicht der Auffassung folgt, dass der durch den BGH mit Urteilen vom 26.6.2023 neu eingeführte Differenzhypothesevertrauensschaden ohne Rückgabe des Fahrzeugs am „Minus“ im Antrag zu I enthalten ist:
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen angemessenen Schadensersatz im Wege des Differenzhypothesevertrauensschadensersatzes zu bezahlen, dessen angemessene Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird und zwischen 5 und 15% des Kaufpreises des streitgegenständlichen Fahrzeugs betragen sollte, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 10.8.2020.
Weiter hilfsweise für den Fall, dass das Gericht Antrag I nicht oder nur in der soeben hilfsweise gestellten Fassung stattgeben sollte:
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin (über den Antrag zu I hinausgehenden Schadensersatz für) künftige weitere Schäden zu ersetzen, die der Klägerin aufgrund einer Betriebsuntersagung, angeordneter Rückrufe oder behördlich angeordneter Nachrüstungsmaßnahmen betreffend das Fahrzeug Volkswagen Caddy, FIN: …928 entstehen.
Weiter hilfsweise für den Fall, dass das Gericht dem Hilfsantrag zu II nicht stattgeben sollte:
III. Die Beklagte wird verurteilt, die streitgegenständlichen unzulässigen Abschalteinrichtungen, welche in das Fahrzeug Volkswagen Caddy, FIN: …928 implementiert wurden, zu beseitigen.
8
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.
B.
9
Die Berufung erweist sich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang bezüglich des Hilfsantrags I als begründet. Im übrigen war sie (einschließlich der Hilfsanträge II und III) als unbegründet zurückzuweisen.
I.
10
Zu Recht hat das Landgericht Schadensersatzansprüche unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB) verneint. Denn es fehlt bereits an einem sittenwidrigen Verhalten der Beklagten gegenüber der Klagepartei.
11
1. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (std. Rspr., vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rz. 15 mwNachw). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH a.a.O. Rz. 15).
12
Danach liegt ein sittenwidriges Verhalten eines Fahrzeug- bzw. Motorherstellers vor, wenn dieser sich im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typengenehmigung durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes [im folgenden: KBA] zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt zunutze macht (BGH a.a.O. Rz. 25). Dies ist der Fall, wenn der Automobilhersteller dem KBA zwecks Erlangung der Typengenehmigung mittels einer zu diesem Zweck entwickelten Software, die bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden (Umschaltlogik), wahrheitswidrig vorspiegelt, die Fahrzeuge würden die Grenzwerte einhalten (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 17).
13
Dabei kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht mehr sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Verhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen (BGH, Urteil vom 30.7.2020 – VI ZR 5/20, Rz. 30 ff.).
14
Im Falle eines Abgasrückführungssystems, das – anders als die Umschaltlogik – nicht danach differenziert, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet (BGH, Urteil vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 18), ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur dann gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Gesetzesverstoß weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH a.a.O. Rz. 19). Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und / oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung (oder vergleichbarer Beeinflussungen) des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, Urteil vom 19.1.1921 – VI ZR 433/19, Rz. 19; Beschluss vom 9.3.2021 – VI ZR 889/20, Rz. 28). Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt.
15
2. Die Verwendung eines SCR-Katalysators in Verbindung mit einer Fahrkurvenerkennung (im Sprachgebrauch der Beklagten auch als „Akustikfunktion“ bezeichnet, vgl. Schreiben der Beklagten vom 29.12.2015, Anl. B 5, S. 3 unten) rechtfertigt nicht die Annahme eines besonders verwerflichen Verhaltens der Beklagten. Nach dem Vortrag der Klagepartei soll die Fahrkurvenerkennung bewirken, dass im Prüfstand anders als im Realbetrieb zum einen die Abgasrückführungsrate erhöht und zum anderen vermehrt AdBlue eingespritzt werde. Die Beklagte hat dies bestritten.
16
Ob der Vortrag der Klagepartei zutrifft und ob es sich dabei tatsächlich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 handelt, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls lässt sich – anders als bei der Umschaltlogik der EA189-Motoren – nicht schon aus der Verwendung der behaupteten und – unterstellt unzulässigen – Fahrkurvenerkennung ein arglistiges Verhalten der Beklagten ableiten. Eine Fahrkurvenerkennung / Zykluserkennung ist für eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur dann relevant, wenn eine auf dem Prüfstand erkannte Fahrkurve Auswirkungen auf das Emissionsverhalten hat (BGH, Urteil vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, Rz. 48). Daran fehlt es.
17
Es fehlen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz der Fahrkurvenerkennung für die Einhaltung der Grenzwerte für Schadstoffemissionen durch den streitgegenständlichen Motor im Prüfstand relevant war. Das KBA hat u.a. mit Auskünften gemäß Anlage B 15, Anlage B 28, Anlagenkonvolut B 40 zum Motortyp EA 288 ausdrücklich bestätigt, dass auch bei Deaktivierung der Funktion der Fahrkurvenerkennung die Grenzwerte im Prüfverfahren eingehalten werden. Speziell zur Motorkonfiguration mit EU6 und 75 kw hat das KBA mit Auskünften vom 26.3.2021 gegenüber dem Landgericht Erfurt (Anl. B 52) und vom 4.3.2022 gegenüber dem LG Freiburg (Anl. BE 70) bestätigt, dass nach Tests keine unzulässige Abschalteinrichtung oder Konformitätsabweichung hinsichtlich des Emissionsverhaltens bestehe. Die EA-288-Motoren wurden vom KBA insgesamt dreimal überprüft: zunächst im Rahmen der Untersuchungskommission V. vom Oktober 2015 bis April 2016, sodann in den Jahren 2017 bis 2019 vor Freigabe des freiwilligen Software-Updates (im Hinblick auf das Nationale Forum Diesel) und nochmals in den Jahren 2019 und 2020. Dabei war das KBA durch die vorher bekannt gewordene, auch nach Ansicht des KBA unzulässige Umschaltlogik im Rahmen des Motors EA 189 sensibilisiert. Zudem hatte die V. AG das KBA mit Schreiben vom 29.12.2015 (Anl. B 5) von der Fahrkurvenerkennung im Motor EA 288 unterrichtet. Dennoch kam das KBA bei jeder der Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht vorläge und die Grenzwerte im NEFZ auch ohne die Fahrkurvenerkennung eingehalten würden.
18
Die Implementierung einer Funktion, die vom KBA nach mehrfachen ausführlichen Untersuchungen als zulässig angesehen wurde, vermag den Vorwurf einer arglistigen Erschleichung der Typengenehmigung nicht zu tragen.
19
Zudem kann vorliegend das Verhalten der Beklagten in Bezug auf eine etwaige Fahrkurvenerkennung keineswegs mehr bei Erwerb des streitgegenständlichen Fahrzeugs am 24.10.2016 als verwerflich angesehen werden. Wie ausgeführt hatte die Beklagte das KBA schon mit Schreiben vom 29.12.2015 über die Fahrkurvenerkennung unterrichtet. Damit wäre selbst dann, wenn man die ursprünglich vorhandene Fahrkurve als geeigneten Anknüpfungspunkt für das Verdikt der Sittenwidrigkeit ansehen würde, aufgrund der mit der Offenlegung der Fahrkurve verbundenen Verhaltensänderung der Beklagten das Verhalten der Beklagten jedenfalls gegenüber der Klagepartei nicht mehr als besonders verwerflich anzusehen.
20
Die Behauptung, die AdBlue-Tanks seien zu klein bemessen und die Beklagte habe sich mit anderen Herstellern kartellrechtswidrig über die Größe der Tanks verständigt, ist im Rahmen einer Haftung nach § 826 BGB nicht entscheidungserheblich. Die Größe der Tanks könnte allenfalls ein Indiz dafür sein, dass im realen Fahrbetrieb weniger AdBlue eingespritzt würde als auf dem Prüfstand. Indessen hält der Motor, wie vom KBA festgestellt, auch bei Abschaltung der Fahrkurvenerkennung und der damit verbundenen Funktionen, mithin auch bei der behaupteten geringeren AdBlue-Einspritzung die maßgeblichen Grenzwerte ein.
21
Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den „Applikationsrichtlinien“ vom 18.11.2015 ableiten. Zum einen sind diese nach dem Vortrag der Beklagten mit dem KBA vereinbart worden; jedenfalls wurden sie dem KBA aber mit dem schon genannten Schreiben vom 29.12.2015 offengelegt. Dies spricht gegen eine Täuschungsabsicht der Beklagten. Zum anderen ergibt sich aus den Applikationsrichtlinien, dass die Fahrkurvenerkennung nicht zur Einhaltung der Grenzwerte verwendet werden dürfe und dass sie bei Modellen mit Produktionsstart nach der KW 22/16 nicht mehr in der Software enthalten sei.
22
Soweit dagegen eingewandt wird, es sei unklar, wieso die Beklagte eine Zyklus- bzw. Fahrkurvenerkennung einbaue, wenn diese keine Funktion habe, schlägt dieses Argument nicht durch. Auch wenn die Fahrkurvenerkennung wie von der Klagepartei behauptet zur Steuerung der Abgasrückführungsrate oder der AdBlue-Dosierung verwendet wurde, lässt sich daraus keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Klagepartei ableiten, wie oben dargestellt.
23
Damit kommt es ferner nicht darauf an, ob gerade im streitgegenständlichen Fahrzeug die Fahrkurvenerkennung überhaupt je enthalten war oder noch enthalten ist. Der Erholung eines Sachverständigengutachtens hierzu bedarf es nicht.
24
Soweit die Klagepartei Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. zum Beleg anführt, dass Kennfelder gefunden worden seien, die der Erkennung des NEFZ dienten, ist dies irrelevant. Dass der Motor EA 288 jedenfalls ursprünglich über eine Fahrkurvenerkennung verfügte, bestreitet die Beklagte nicht.
25
3. Das unstreitig vorhandene Thermofenster erfüllt den Tatbestand des § 826 BGB vorliegend nicht.
26
Die Abgasrückführung im streitgegenständlichen Fahrzeug ist unstreitig abhängig von der Umgebungstemperatur. Streitig sind allerdings die genauen Temperaturdaten, zu denen eine Verminderung oder Abschaltung erfolgen soll. Die Klagepartei behauptet, dass die Abgasrückrührung nur im Bereich zwischen 20°C und 30°C vollständig aktiv sei. Die Beklagte bestreitet dies und behauptet, dass die Abgasrückführung im Temperaturbereich zwischen -24°C und + 70 °C ohne Abrampung vollständig aktiv sei; allerdings könne es auch in diesem Temperaturbereich zu mittelbar durch die Umgebungstemperatur beeinflussten Änderungen der Abgas-Rückführungsrate kommen (Schriftsatz vom 10.11.2023).
27
Der Einsatz einer derart temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems rechtfertigt die Bewertung als sittenwidriges Verhalten für sich genommen auch bei unterstellter Gesetzwidrigkeit der Applikation nicht (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 13.; Urteil vom 16.9.2021 – VI ZR 190/20, Rz. 16). Denn anders als die Umschaltlogik differenziert das Thermofenster nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 18). Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur dann gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Gesetzesverstoß weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 19). Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und / oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 19; Beschluss vom 9.3.2021 – VI ZR 889/20, Rz. 28).
28
Davon ist hier nicht auszugehen. Die Rechtsfrage, ob das Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht, war hoch umstritten. Der Bericht der Untersuchungskommission V. vom April 2016 ging von der Zulässigkeit des Thermofensters aus. Daher liegt es keineswegs auf der Hand und kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Beklagte von der Unzulässigkeit des Thermofensters ausging oder die Augen hiervor bewusst verschlossen hätte (BGH v. 16.9.2021 a.a.O. Rz. 30).
29
Zwar könnten sich unter Umständen aus einer etwaigen Verschleierung im Typengenehmigungsverfahren, dass die Abgasrückführung (auch) temperaturabhängig ist, Anhaltspunkte für ein Bewusstsein der für die Beklagte handelnden Personen, eine unzulässige Abschalteinrichtung einzusetzen, und mithin für die Täuschungsabsicht ergeben (BGH vom 9.3.2021, a.a.O. Rz. 24). Indes lässt sich aus dem Klägervortrag hier keine derartige Verschleierung ableiten, der ein solcher Indizcharakter zukäme. Eine unterbliebene Offenlegung des Thermofensters oder dessen genauer Wirkungsweise gegenüber dem KBA reichen insofern nicht aus (BGH, Hinweisbeschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 15; Urteil vom 16.9.2021, a.a.O. Rz. 26; Urteil vom 24.3.2022 – III ZR 270/20, Rz. 22; Urteil vom 18.9.2023 – VIa ZR 1508/22, Rz. 22).
30
Ebenso fehlt es an dem für § 826 BGB erforderlichen Schädigungsvorsatz. Allein aus einer etwaigen objektiven Unzulässigkeit des Thermofensters folgt kein Vorsatz hinsichtlich der Schädigung der Fahrzeugkäufer; im Hinblick auf die unsichere Rechtslage ist nicht dargetan, dass sich den für die Beklagte tätigen Personen die Gefahr einer Schädigung der Klagepartei hätte aufdrängen müssen (BGH, Urteil vom 16.9.2021, a.a.O. Rz. 32; Beschluss vom 15.9.2021, a.a.O. Rz. 23).
31
4. Die Behauptungen der Klagepartei zu weiteren Abschalteinrichtungen im Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs enthalten keine greifbaren Anhaltspunkte für die Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB und vermögen daher eine Beweisaufnahme hierzu nicht zu rechtfertigen.
32
a) Zwar ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde oder Einblicks in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (BGH, Beschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 26 f.). Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH a.a.O. Rz. 28; BGH, Urteil vom 16.9.2021 – VII ZR 190/20, Rz. 23).
33
b) Nach diesen Anforderungen verfehlen die Behauptungen der Klagepartei zu weiteren Abschalteinrichtungen die Anforderungen an einen hinreichend konkreten Sachvortrag. Denn sie bieten angesichts der Tatsache, dass das KBA bei den dargestellten mehrfachen Überprüfungen keine Anhaltspunkte für unzulässige Abschalteinrichtungen gefunden hat, keine greifbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen.
34
aa) Vorliegend bleibt bereits unklar, ob die Klagepartei überhaupt darlegt, dass der streitgegenständliche Fahrzeugmotor über die oben unter I.2 und I.3 diskutierten Abschalteinrichtungen hinaus noch eine weitere, der Umschaltlogik im EA 189 vergleichbare Abschalteinrichtung aufweise, die ausschließlich durch eine Prüfstandserkennung ausgelöst werde. Jedenfalls fehlen für eine derartige Umschaltlogik in den Schriftsätzen der Klagepartei jegliche Anhaltspunkte. Der Vortrag, die gesetzlichen Abgaswerte würden im Realbetrieb anders als auf dem Prüfstand nicht eingehalten, ist jedenfalls kein Anhaltspunkt für das Vorliegen einer über die oben dargestellten Abschalteinrichtungen hinausgehenden Umschaltlogik, da angesichts der unterschiedlichen Bedingungen im Prüfstands- bzw. Realbetrieb ein unterschiedliches Abgasverhalten auch unabhängig von einer Umschaltlogik zu erwarten war (BGH, Urteil vom 13.7.2021 – VI ZR 128/20, Rz. 23 a.E.; Hinweisbeschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 30; vgl. auch Beschluss vom 25.11.2021 – III ZR 202/220, Rz. 17; Urteil vom 26.4.2022 – VI ZR 435/20, Rz. 15).
35
bb) Soweit die Klagepartei als Indiz für eine unzulässige Abschalteinrichtung auf anderweitige Messungen der DUH Bezug nimmt, dringt sie damit nicht durch. Zunächst ist auf vorstehende Ausführungen unter aa) zu verweisen. Weiter ist zu bemerken, dass das KBA ausweislich des Berichts zur Untersuchungskommission Diesel (Anlage B 1) Messungen bezüglich des Motors EA 288 gerade nicht nur im NEFZ, sondern auch mit einer Reihe anderer Fahrzyklen auch außerhalb des Prüfstandes vorgenommen hat (Anl. B 1, S. 15 ff.). Hierbei hat das KBA bezüglich des Motors EA 288 nur solche Abweichungen von den Messungen im NEFZ festgestellt, die aufgrund der abweichenden Rahmenbedingungen zu erwarten waren, aber nicht auf unzulässige Abschalteinrichtungen schließen lassen (Anl. B 1, S. 12, S. 18, S. 60). Im Unterschied dazu wurden bei vergleichbaren Messungen bezogen auf den Motor EA 189 Abweichungen festgestellt, die nur durch eine Abschalteinrichtung zu erklären waren (Anl. B 1 S. 12, S. 114). Dabei hat das KBA auch eine Straßenmessung so durchgeführt, wie es der späteren RDE-Vorschrift, basierend auf dem RDE-Vorschlag der Europäischen Kommission entspricht (a.a.O. S. 17 unten). Abweichende Messungen der DUH im „realen Fahrbetrieb“ unter anderweitigen – unklaren – Parametern sind mithin nicht aussagekräftig und stellen kein Indiz für eine Manipulationssoftware dar.
36
cc) Nichts anderes folgt aus dem vorgetragenen Rückruf für Fahrzeuge VW T6. Ein derartiges Fahrzeug ist nicht streitgegenständlich.
37
dd) Dass die Beklagte freiwillige Software-Updates anbietet, die den Schadstoffausstoß reduzieren sollen, ist ebenfalls kein Indiz für eine unzulässige Abschalteinrichtung. Die Beklagte hat nachvollziehbar dargelegt, das freiwillige Software-Update sei im Rahmen des Nationalen Forums Diesel vereinbart worden, habe aber nichts mit einem drohenden Rückruf durch das KBA zu tun. Ein Zusammenhang mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ist daher nicht erkennbar. Dagegen spricht, dass das KBA für den streitgegenständlichen Motortyp stets bestätigt hat, dass keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden sei. Es spricht daher nichts dafür, dass die Beklagte das freiwillige Update nur anbiete, um verpflichtenden Rückrufen zuvorzukommen, die gegenteilige Annahme der Klagepartei bewegt sich dem gegenüber auf der Ebene der Spekulation.
38
ee) Nicht hinreichend konkret ist der Vortrag, eine in dem Motor verbaute Software stelle nach Ablauf einer Fahrstrecke von 15 km in einen anderen, ungünstigen Abgasreinigungsmodus um (Weg-Zeit-Sensibilisierung). Es trifft schon nicht zu, dass eine solche Schaltung genau auf den NEFZ abgestimmt wäre, der senatsbekannt eine Wegstrecke von 11 km umfasst. Die Klagepartei setzt sich auch nicht mit dem berechtigten Hinweis auseinander, dass die Untersuchungen im Rahmen der Untersuchungskommission V. (Anl. B 1) gerade auch Tests enthalten haben, die eine längere Zeitdauer bzw. Fahrstrecke aufwiesen.
39
ff) Die Klagepartei behauptet des weiteren, die in dem Motor implementierte Software wirke auf das Getriebe des Fahrzeugs dergestalt ein, dass auf die Schaltpunkte Einfluss genommen werde, sobald das Lenkrad um mehr als 15 Grad gedreht werde (Lenkwinkelerkennung). Da die Schaltpunkte des Getriebes ohne Lenkradeinschlag höher als nach einem Lenkradeinschlag seien, würden auf dem Prüfstand geringere Kohlenstoffdioxid- und Stickoxidwerte gemessen als im normalen Straßenverkehr. Das Landgericht ist diesem von der Beklagten bestrittenen Vorbringen aufgrund seiner Unsubstanziiertheit zu Recht nicht nachgegangen. Denn wie sich aus dem Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen (Anl. B 1) ergibt, hat das KBA im Rahmen der Messungen zur Vorbereitung dieses Berichts Test im normalen Straßenbetrieb, bei dem es offenbar zwangsläufig zu Lenkradeinschlägen von mehr als 15 Grad kommt, vorgenommen, die allesamt keine Hinweise auf eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer Lenkwinkeleinschlagerkennung ergaben.
40
Zwar ist eine Behauptung erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Auch unter Anwendung dieser strengen Maßstäbe fehlen aber für eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer Lenkwinkelerkennung in den Schriftsätzen des Klägervertreters aus den oben bezeichneten Gründen jegliche Anhaltspunkte.
41
gg) Der Vorwurf der Klagepartei, die Beklagte habe mittels eines manipulierten On-Board-Diagnosesystems (OBD) getäuscht, rechtfertigt nicht die Annahme eines Anspruchs aus § 826 BGB. Die Annahme, dass das OBD selbst eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, wäre angesichts der Tatsache, dass Aufgabe eines Diagnosesystems nur die Anzeige von (Fehl-)Funktionen ist, fernliegend. Selbst wenn die konkrete Ausgestaltung des OBD gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen würde, ergäbe sich aus diesem Befund allein nicht der Vorwurf verwerflichen Verhaltens gegenüber der Klagepartei. Eine – unterstellte – Manipulation des OBD-Systems stellt auch kein Indiz für die Verschleierung einer im Bewusstsein der Unzulässigkeit installierte unzulässigen Abschalteinrichtung dar. Denn wenn die Beklagte eine in Rede stehende Programmierung des Abgassystems für zulässig hielt, hat sie naturgemäß dafür Sorge getragen, dass beim korrekten Arbeiten des Systems nach dieser Programmierung keine Fehlermeldung erscheint.
42
5. Der Senat vermag auch in der Gesamtschau der vorstehend unter I.2 – I.4 erörterten Umstände kein den Vorwurf der Sittenwidrigkeit tragendes besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten gegenüber der Klagepartei zu erkennen.
II.
43
Der Klagepartei steht jedoch ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 894,46 € aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 6, 27 EG-FGV zu.
44
1. Wie der Bundesgerichtshof kürzlich (Urteile vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) entschieden hat, steht dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 versehenen Kraftfahrzeugs unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB i.V. mit §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Schadensersatz zu. Ausgehend hiervon haftet die Beklagte der Klägerin dem Grunde nach auf Schadensersatz.
45
a) Das streitgegenständliche Fahrzeug verfügt über eine unzulässige Abschalteinrichtung.
46
Nach Art. 3 Nr. 10 der VO Nr. 715/2007/EG ist Abschalteinrichtung „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur … ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind“, reduziert wird. Nach dieser Definition handelt es sich bei den im Schriftsatz der Beklagten vom 10.10.2023 beschriebenen Funktionen, die mittelbar in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur zu Veränderungen (also Verringerung oder Erhöhung) der Abgasrückführungsrate führen können, um eine Abschalteinrichtung. Denn diese Funktionen können dazu führen, dass die Abgasrückführung in Abhängigkeit (auch) von der gemessenen Umgebungstemperatur im gewöhnlichen Fahrbetrieb reduziert und dadurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert wird.
47
Es handelt sich dabei um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der genannten Verordnung. Die Funktion kann zu einer Verringerung der Wirkung der Abgasrückführung führen und ist damit grundsätzlich unzulässig. Eine Ausnahme nach lit. a) – c) der Vorschrift greift vorliegend nicht. Ernsthaft in Betracht käme nur, dass die Funktion erforderlich wäre, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (lit. a)). Diese beiden Voraussetzungen müssten kumulativ vorliegen (EuGH, Urteil vom 21.2023 – C-101/21, Rz. 62). Nicht notwendig in diesem Sinn ist eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und den sicheren Betrieb des Fahrzeuges zu gewährleisten (EuGH, a.a.O. Rz. 65, 66). So liegt es hier. Nach dem Vortrag der Beklagten sind die genannten Funktionen im Rahmen der Motorsteuerung ständig aktiv und führen somit unter den programmierten Parametern auch bei normalen Betriebsbedingungen zu Veränderungen der Abgasrückführung. Damit sind sie auf der Basis der Rechtsprechung des EuGH selbst dann nicht als notwendig im Rechtssinne einzustufen, wenn sie aus technischer Sicht zum Motorschutz usw. erforderlich wären.
48
b) Voraussetzung für einen Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V. mit § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV ist ein schuldhaftes Handeln des Anspruchsgegners, wobei ein fahrlässiger Verstoß genügt (BGH, Urteil vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, Rz. 36, 38). Es besteht eine von der objektiven Schutzgesetzverletzung ausgehende Verschuldensvermutung, die von der Beklagten ausgeräumt werden muss (BGH, a.a.O. Rz. 59). Insbesondere ist die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet sowohl für einen Verbotsirrtum als auch für dessen Unvermeidbarkeit (BGH, a.a.O. Rz. 63). Vorliegend ist der Beklagten eine Widerlegung der Verschuldensvermutung nicht gelungen.
49
Den Nachweis für einen unvermeidbaren Verbotsirrtum kann der Fahrzeughersteller zum einen mittels einer tatsächlich erteilten EU-Typengenehmigung führen, wenn diese Genehmigung die verwendete unzulässige Abschalteinrichtung in allen ihren maßgeblichen Einzelheiten umfasst (BGH, a.a.O. Rz. 64). Dies scheitert vorliegend jedenfalls an hinreichend konkretem Vortrag der Beklagtenseite dazu, ob dem KBA bereits bei Erteilung der Typengenehmigung auch die mittelbaren Einwirkungen der Außentemperatur auf das Abgasverhalten in ihren Einzelheiten offengelegt wurden; die lediglich pauschale Behauptung, dass die sog. BES/AES-Beschreibung dem KBA ab Mai 2016 beim Antrag auf Genehmigung dargestellt wurde, genügt insoweit schon deshalb nicht, weil in diesem Zusammenhang nicht dargelegt wird, wann die Typengenehmigung für den konkreten Fahrzeugtyp beantragt wurde.
50
Zum anderen kann der Fahrzeughersteller sich dadurch entlasten, dass er darlegt und erforderlichenfalls nachweist, dass seine Rechtsauffassung bei entsprechender Nachfrage von der für die EG-Typengenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden wäre (hypothetische Genehmigung, BGH a.a.O. Rz. 65). Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung des einem Verbotsirrtum unterliegenden Schädigers dessen Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidlichen Verbotsirrtums auch dann aus, wenn der Schädiger eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat (BGH, a.a.O. Rz. 65). Für das Vorstellungsbild der Beklagten ist dabei auf den Zeitpunkt des Erwerbs des gegenständlichen Fahrzeugs abzustellen (BGH, Urteil vom 25.9.2023 – VIa ZR 1/23, Rz. 13, 15), hier also auf den 24.10.2016 Der Senat ist jedoch bei Würdigung des Sach- und Streitstandes schon nicht davon überzeugt (§ 286 ZPO), dass die Beklagte hinsichtlich der Unzulässigkeit des mittelbaren Einflusses der Außentemperatur auf die Abgasrückführung – wie von ihr geltend gemacht (Schriftsätze vom 14.4.2023, Bl. 943 ff. der Akten, dort S. 7; vom 12.9.2023, Bl. 1000 ff. der Akten, dort S. 9) – einem Verbotsirrtum unterlag. Dies geht zu Lasten der hierfür darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten. Angesichts der lediglich allgemeinen Ausführungen der Beklagten, die nicht konkret auf das Vorstellungsbild der satzungsmäßigen Organe der Beklagten und der ihnen im Rahmen des § 31 BGB gleichzustellenden Leitungspersonen hinsichtlich des Zusammenwirkens der unmittelbar und mittelbar durch die Umgebungstemperatur beeinflussten Parameter für die Abgasrückführung (im Zeitraum Oktober 2016) eingehen, erscheint dem Senat ein Schluss darauf, dass diese Personen diese Funktion kannten und für rechtmäßig hielten, allein aus der Tatsache, dass das KBA das Thermofenster nie beanstandet hat, nicht möglich.
51
c) Der schuldhafte Schutzgesetzverstoß ist auch ursächlich für den sogleich zu erörternden Schaden der Klagepartei. Die Beklagte hat die hierfür streitende Vermutung nicht widerlegt.
52
2. Hiernach ergibt sich vorliegend ein Schadensersatzanspruch der Klägerin in Höhe von 894,46 €.
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a) Der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB ist auf den Ersatz des sogenannten Differenzschadens gerichtet (BGH, Urteil vom 26.6.2023- VIa ZR 5/21, Rz. 39 ff.). Es handelt sich um das rechnerische Minus, welches sich daraus ergibt, dass der objektive Wert des erworbenen Fahrzeugs hinter dem Kaufpreis zurückbleibt (a.a.O. Rz. 40). Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses (a.a.O. Rz. 41).
54
Die Höhe dieses Schadens ist nach § 287 ZPO zu schätzen, und zwar im Bereich zwischen 5% und 15% des Kaufpreises (a.a.O.Rz. 42, 43). Dabei ist insbesondere auf das Risiko behördlicher Anordnungen in Bezug auf die Nutzbarkeit des Fahrzeugs, vor allem auf Umfang und Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Betriebsbeschränkungen im Zeitpunkt des Vertrages abzustellen (a.a.O. Rz. 76). Ferner ist, um dem europarechtlichen Gebot hinreichender Sanktionierung Rechnung zu tragen, auf das Gewicht des Rechtsverstoßes und den Grad des Verschuldens abzustellen (a.a.O. Rz. 77). Der Erholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es nicht (a.a.O. Rz. 78).
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Der Senat schätzt nach diesen Grundsätzen den Differenzschaden vorliegend auf 10% des Kaufpreises. Auszugehen ist insoweit von einem nicht unbeträchtlichen, aber nur fahrlässigen Verstoß gegen die europarechtlichen Anforderungen. Andererseits erschien im Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses das Risiko behördlicher Nutzungsbeschränkungen angesichts der Genehmigungspraxis des Kraftfahrzeugbundesamtes eher gering. Dem Senat erscheint es daher angemessen, sich in der Mitte des vorgegebenen Rahmens zu halten. Dies ergibt bei einem Kaufpreis von 18.200,- € im Ausgangspunkt einen klägerischen Schaden von 1.820,- €.
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b) Gegenzurechnen sind allerdings die Vorteile, die die Klagepartei aus dem erworbenen Fahrzeug gezogen hat. Dies sind der Restwert des klägerischen Fahrzeugs und die von ihm gezogenen Nutzungsvorteile (jeweils nach dem Stand der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung), allerdings nur, soweit die Summe dieser Positionen den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss (Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigt (BGH, a.a.O. Rz. 79).
57
Der wahre Wert des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses betrug (18.200,- – 18.820,- =) 16.380,- €.
58
Die von der Klagepartei gezogenen Nutzungsvorteile betragen 6.284,54 €. Die Klägerin ist mit dem Fahrzeug 98.234 km gefahren (km-Stand bei Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung 113.749 – km-Stand bei Erwerb 15.515 €). Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung von einer Gesamtfahrleistung bei Dieselfahrzeugen von 300.000 km aus. Folglich war bei Erwerb des Fahrzeugs durch die Klagepartei eine mögliche Restfahrleistung von 284.485 km (300.000 – 15.515) zu erwarten. Der von der Klagepartei gezogene Nutzungsvorteil ergibt sich daher bei einem Kaufpreis von 18.200,- € nach der Formel Kaufpreis x gefahrene Kilometer zu Restfahrleistung (= 18.200,- x 98.234 : 284.485).
59
Hinsichtlich des Restwerts des Fahrzeugs geht der Senat vom Händlereinkaufspreis gemäß Gebrauchtwagenbewertung erstellt mit SilverDAT aus (§ 287 ZPO). Dabei handelt es sich nach Auffassung des Senats um denjenigen Betrag, den der Verkäufer eines Gebrauchtwagens bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge zu erzielen vermag, zumal sich in Zeiten weitestgehender Verbreitung des Internets nicht nur gewerbliche, sondern auch private Gebrauchtwagenkäufer bei lebensnaher Würdigung an den im Internet verfügbaren KFZ-Bewertungsmöglichkeiten orientieren werden. – Vorliegend ergab die SilverDAT-Abfrage einen aktuellen Restwert des Fahrzeugs von 11.021,- €.
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Die Nutzungsvorteile von 6.284,54 € und der Restwert von 11.021,- € (zusammen 17.305,54 €) übersteigen den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss (16.380,- €) um (17.305.54 – 16.380,- =) 925,54 €. Dieser Betrag ist auf den Differenzschaden von 1.820,- € anzurechnen. Es ergibt sich daher ein verbleibender Schadensersatzbetrag von (1.820,- – 925,54 =) 894,46 €.
III.
61
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen (I. und II.) war über die in der Berufung gestellten Klaganträge zu entscheiden wie geschehen.
62
1. Der auf Rückgängigmachung des Vertrages im Wege des Schadensersatzes gerichtete Hauptantrag war als unbegründet abzuweisen. Ansprüche aus § 826 BGB bestehen nicht. Aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 6, 27 EG-FGV kann Rückabwicklung nicht verlangt werden, weil sich der Schutzbereich der genannten Vorschriften nicht auf das Interesse, nicht am Vertrag festgehalten zu werden, erstreckt (BGH vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, Rz. 19).
63
Mangels Rückgewährschuldverhältnisses besteht auch kein Anspruch auf Feststellung des Annahmeverzugs.
64
Der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten scheitert schon daran, dass die Klagepartei nicht darlegt, ihren Prozessbevollmächtigten keinen unbedingten Klageauftrag erteilt zu haben (vgl. BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VI ZR 353/20, Rz. 7).
65
2. Damit war über den Hilfsantrag I zu entscheiden. Hierauf waren (unter Abweisung im übrigen) in der Hauptsache 894,46 € als Differenzschaden zuzuerkennen.
66
Die diesbezügliche Zinsentscheidung folgt aus §§ 286 Abs. 1, 2 Nr. 3, 288 ZPO. Die Klagepartei hat eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung der Beklagten unwidersprochen vorgetragen.
67
3. Zu entscheiden war auch über den Hilfsantrag II. Dieser war unter der Bedingung gestellt, dass das Gericht dem Klagantrag I nicht oder nur in der Fassung des Hilfsantrags I stattgeben würde. Diese Bedingung ist eingetreten.
68
Hilfsantrag II war als unbegründet abzuweisen. Neben dem Anspruch auf den Differenzschaden besteht kein Anspruch auf den Ersatz weiterer möglicher Vermögensnachteile (BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 37/21, Rz. 19).
69
4. Zu entscheiden war auch über den Hilfsantrag III. Er war unter der Bedingung gestellt, dass das Gericht dem Hilfsantrag II nicht stattgeben sollte. Diese Bedingung ist eingetreten.
70
Unter Hintanstellung gewisser Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit des gestellten Klageantrags (§ 253 ZPO) hält der Senat den Antrag jedenfalls für unbegründet. Zwar kann abstrakt gesehen ein (verschuldensunabhängiger) Anspruch aus § 1004 BGB auch auf Beseitigung von Beeinträchtigungen bestehen, die tatbestandlich gegen § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit drittschützenden öffentlich-rechtlichen Normen verstoßen (vgl. Grüneberg / Herrler, BGB, 82. Aufl., § 1004 Rz. 4 und die dortigen Nachweise). Die Zuerkennung eines Beseitigungsanspruches gegen den Fahrzeughersteller wegen einer gegen §§ 6, 27 EG-FGV verstoßenden unzulässigen Abschalteinrichtung würde jedoch der Sache nach dem Eigentümer eines Fahrzeugs, das er von einem Dritten erworben hat, einen dem deutschen Zivilrecht fremden Gewährleistungsanspruch gegen den Produkthersteller gewähren. Insoweit verdrängen daher nach der Überzeugung des Senats die kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche gegen den Verkäufer als leges speciales eventuell tatbestandlich vorliegende Beseitigungsansprüche aus § 1004 BGB gegen den Hersteller.
C.
71
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92, 97 ZPO. Bei der Bemessung des Streitwerts für das Berufungsverfahren hat sich der Senat von folgenden Grundsätzen leiten lassen. Die Hilfsanträge I und II sind auf dasselbe wirtschaftliche Interesse gerichtet wie der Hauptantrag und begründen daher keine Streitwerterhöhung (§ 45 Abs. 1 S. 2, 3 GKG). Hilfsantrag III betrifft die Beseitigung einer unzulässigen Software. Den Aufwand hierfür bemisst der Senat geschätzt (§ 3 ZPO) auf 8 Programmiererstunden zu je 120,- €, also auf 960,- €.
72
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
73
Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.