Titel:
Erstattungspflicht der Rehabilitationsträger untereinander
Normenketten:
EinglHV § 1 Nr. 3
SGB VIII § 10 Abs. 4, § 35a, § 85
SGB IX § 2 Abs. 1, § 14 Abs. 1, Abs. 2, § 16
SGB X § 104
SGB XII § 47, § 48, § 53, § 54, § 79 Abs. 1
Leitsätze:
1. Dem Kläger steht gegen den Beklagten kein Erstattungsanspruch iGv 27.931,76 EUR nach § 16 Abs. 1 SGB IX zu, der gegenüber den sonstigen Erstattungsregeln nach §§ 102-105 SGB X vorrangig wäre. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 16 Abs. 1 S. 1 SGB IX kommt grundsätzlich als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, es fehlt allerdings an einer vorrangigen Leistungsverpflichtung des Jugendhilfeträgers, denn die vollstationäre Unterbringung des Leistungsberechtigten im … erfüllte jedenfalls auch die Voraussetzungen einer Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, für die der Kläger zuständig war. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Erkrankung mit Diabetes mellitus Typ 1 stellt eine Fehlfunktion eines inneren Organs iSv § 1 Nr. 3 EinglHV da. Nicht maßgeblich ist dagegen, dass bei ordnungsgemäßer Therapieumsetzung und guter Blutzuckereinstellung wohl keine wesentliche körperliche Funktionsbeeinträchtigung durch die Diabeteserkrankung gedroht hätte. (Rn. 35 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diabetes mellitus als wesentliche körperliche Behinderung, wenn Ketoazidosen aufgrund nicht ordnungsgemäßer Therapieumsetzung auftreten, Vorrangige Verpflichtung des Sozialhilfeträgers bzw. des Trägers der Eingliederungshilfe, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe, Krankheit, Erstattungsanspruch, Subsidiarität, Zuständigkeit, Diabetes mellitus Typ 1, Insulin, vollstationäre Wohnform, Rehabilitationsträger
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33786
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten, die er im Zeitraum vom 15.10.2018 bis zum 11.04.2019 für die vollstationäre Unterbringung des Leistungsberechtigten … (R.) im … aufgewandt hat, einschließlich der damit zusammenhängenden Fahrtkosten.
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Bei dem am … geborenen Leistungsberechtigten wurde im Mai 2017 die Erkrankung Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert. Es ist ein Grad der Behinderung von 50 v. H. mit Merkzeichen „H“ (hilflos) festgestellt (Bescheid vom 13.06.2018 – Klägerakte Blatt 101).
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Im Zeitraum vom 09.06.2018 – 15.06.2018 wurde der Leistungsberechtigte wegen einer schweren Ketoazidose (d.h. eines langanhaltenden absoluten lnsulinmangels) im Universitätsklinikum … stationär behandelt. Laut Schreiben der Klinik vom 18.06.2018 (Beklagtenakte Blatt 16) war der HbA1c-Wert (Langzeitlnsulinwert) mit 11% deutlich erhöht. Dies erlaube einen Rückschluss auf die Qualität der Blutzuckereinstellungen in den letzten Wochen und Monaten. R. habe angegeben, die Therapie auf Grund schulischen Stress nicht umgesetzt zu haben. Er habe selten bis gar nicht den Blutzucker gemessen und Insulin gespritzt. Zu Hause gebe es keine festen Strukturen wie gemeinsame Mahlzeiten. Fehlende Therapieumsetzung könne zu dauerhaften gesundheitlichen Schädigungen bis hin zur geistigen Behinderung oder Tod führen. R. sei bereits vom 13.11. – 21.11.2017 wegen einer schweren Ketoazidose in Behandlung gewesen. In der ärztlichen Stellungnahme regte das Universitätsklinikum … bei dem Beklagten geeignete ambulante Jugendhilfemaßnahmen gem. §§ 27 ff. Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) an. Die Familie des Leistungsberechtigten benötige dringend Hilfe bei der Umsetzung der Therapievorgaben. Bei der Diabetestherapie nehme der Patient eine entscheidende Rolle ein, da er die wesentlichen Therapiemaßnahmen in seinem Alltag dauerhaft und eigenverantwortlich umsetzen müsse. Es bestehe der Eindruck, dass der Leistungsberechtigte bei der häuslichen Therapieumsetzung überwiegend bis ganz auf sich alleine gestellt sei und wenig Unterstützung oder Kontrolle erfahre. Die Mutter sei im Schichtdienst bei einem ambulanten Pflegedienst tätig und habe wenig Zeit. Auch der stationäre Aufenthalt sei schwierig gewesen, da Absprachen, die getroffen worden seien, wie z.B. das gemeinsame Kontrollieren der Blutzuckerwerte, langfristig nicht verfolgt worden seien.
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Fehlende Therapieumsetzung könne zu dauerhaften gesundheitlichen Schädigungen oder im schlimmsten Fall zum Tod führen.
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Der Beklagte lud am 01.08.2018 zu einem „runden Tisch“ unter Beteiligung des Leistungsberechtigten selbst, dessen Eltern, des psychiatrischen und sozialen Dienstes sowie des behandelnden Arztes. Es wurden der Umzug des Leistungsberechtigten von der Mutter zum Vater sowie grundlegende Therapieregeln (mindestens viermal tägliches Blutzuckermessen, regelmäßiges Applizieren von Insulin zu jedem Essen und zur Korrektur) vereinbart. In einem Telefonat mit dem Beklagten am 13.08.2018 gab der behandelnde Arzt an, dass sich der Leistungsberechtigte auch nach dem Umzug nicht an die vereinbarten Therapiemaßnahmen halte. Zur Verhinderung weiterer Blutzuckerentgleisungen müsse nun möglichst schnell eine stationäre Unterbringung in einer geeigneten Klinik oder Einrichtung eingeleitet werden.
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Der Sozialdienst des Universitätsklinikums … nahm daraufhin am 13.08.2018 Kontakt zum … auf, einem Vollzeitheim mit integrierter Tagesbetreuung u.a. für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige ab der Einschulung bis zur Beendigung der schulischen Laufbahn mit einer wesentlichen körperlichen Behinderung im Sinne des § 53 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), die bereits allein aufgrund ihrer körperlichen Behinderung der Eingliederungshilfe in einer vollstationären Wohnform mit integrierter Tagesbetreuung bedürfen (Beklagtenakte, Blatt 34).
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In der fachärztlichen Stellungnahme des Universitätsklinikums vom 17.08.2018 (Klägerakte, Blatt 29) wurde festgestellt, dass eine dauerhafte stationäre Unterbringung des Leistungsberechtigten medizinisch dringend indiziert sei. Die kurzfristig möglichen ambulanten Betreuungsmaßnahmen seien bereits ausgeschöpft. Auch nach den getroffenen Maßnahmen befänden sich die Blutzuckerwerte und der HbA1c-Wert außerhalb des Zielbereichs. Der Leistungsberechtigte besitze eine sehr schlechte gesundheitliche Prognose, da aufgrund der unzureichenden Therapieumsetzung einerseits akute Stoffwechselentgleisungen mit lebensgefährlicher Ketoazidose drohten, andererseits unter fehlender Besserung der Therapieumsetzung langfristig diabetologische Folgeerkrankungen zu erwarten seien. Grundlage für die fehlende Umsetzung sei ein Akzeptanzproblem des Leistungsberechtigten bezüglich seiner Krankheit.
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Am 02.10.2018, eingegangen am selben Tag, beantragten die sorgeberechtigten Eltern des Leistungsberechtigten beim Beklagten die Gewährung von geeigneten Sozialleistungen, insbesondere die vollstationäre Unterbringung des Leistungsberechtigten im …, um dort die Mittlere Reife zu erreichen und Unterstützung im Umgang mit der vorliegenden Behinderung zu erhalten. Dem Antrag war der Behindertenausweis des Leistungsberechtigten beigefügt.
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Der Beklagte leitete den Antrag am 02.10.2018, eingegangen am 05.10.2018, an den Kläger gem. § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) weiter, da eine körperliche Behinderung vorliege und daher die vorrangige Leistungsverpflichtung des Klägers gem. § 10 Abs. 4 SGB VIII gegeben sei.
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Die Eltern stellten beim Kläger Antrag auf Eingliederungshilfe für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) mit unterschriebenen Formblatt vom 24.10.2018 (gewünschte Leistung Diabetes-Internat, …, Beginn der Leistung 15.10.2018).
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Laut ärztlicher Stellungnahme des Dr. med. Sch (Fachbereichsleiter Gesundheit und Reha.I des …*) vom 10.12.2018 seien seitens der Universitätsklinik … bereits folgende Maßnahmen eingeleitet worden: ein ambulanter Pflegedienst, eine Fallkonferenz unter Einbeziehung des Jugendamts, eine Unterstützung durch den psychologischen Fachdienst der Universitätsklinik … und eine engmaschige Anbindung an die Diabetes-Ambulanz. Es seien umfangreiche Schulungsmaßnahmen auch mit den Eltern erfolgt. Trotz Gewebezuckermessgerätes sei der Blutzucker nur ein bis zweimal pro Tag im häuslichen Umfeld gemessen worden. Durch die seit 15.10.2018 engmaschige Betreuung (Begleitung durch Fachpersonal bei Gewebe- und Blutzuckermessungen bis zu siebenmal pro Tag, Überwachung der Nahrungsaufnahme, exakte Dosierung des Kurzzeitinsulins, pädagogische Betreuung, ärztliche Visite und zweimal tägliche Beratung durch eine Diabetesberaterin) habe der HbA1c-Wert auf 8,3% gesenkt werden können. Eine Selbständigkeit sei in der kurzen Zeit durch den Patienten nicht erlernt worden. Aus ärztlicher Sicht gehöre der Leistungsberechtigte zum berechtigten Personenkreis nach §§ 53, 54 SGB XII. Die Betreuung im Rahmen der stationären Eingliederungshilfe sei medizinisch dringend erforderlich.
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Der Sozialpädagogisch-Medizinische Dienst (SMD) des Klägers befürwortete mit Schreiben vom 03.01.2019 die Aufnahme des Leistungsberechtigten in das …, um dessen Gesundheitszustand zu stabilisieren, ihm eine für ihn angepasste Einführung in den Umgang mit seiner Erkrankung zu ermöglichen und ihm zudem eine uneingeschränkte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (insb. Schule) zu ermöglichen.
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Mit Bescheid vom 27.03.2019 gewährte der Kläger als zweitangegangener Rehabilitationsträger im Rahmen des § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX rückwirkend zum 15.10.2018 bis zum Ablauf des Schuljahres 2018/2019 (26.07.2019) für die Betreuung im … Hilfe zum Lebensunterhalt in Einrichtungen, Hilfe zum Lebenshalt in Form eines angemessenen Barbetrags, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zum Besuch einer Förderschule (Internat) und Familienheimfahrten.
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Diesen Bescheid übersandte der Kläger dem Beklagten mit Schreiben vom 28.03.2019, eingegangen am 03.04.2019, und beantragte zugleich die Kostenerstattung, da keine Behinderung, sondern eine Erkrankung vorliege und die Unterbringung in der Einrichtung aufgrund der häuslichen Verhältnisse nötig geworden sei. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der insulinpflichtige Diabetes keine wesentliche körperliche Behinderung im Sinne des § 53 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX sei. Es handele sich um eine schwere Erkrankung. Nach Durchsicht der Unterlagen habe man nicht feststellen können, dass kognitive Einschränkungen bestehen würden, um nicht einen konsequenten Umgang mit der Erkrankung erlernen zu können. Der Leistungsempfänger sei im häuslichen Umfeld auf sich alleine gestellt. Auf Grund der Nichteinhaltung von Absprachen sei es zu einem notfallmäßigen stationären Klinikaufenthalt gekommen. Im Schuljahr 2017/2018 habe es Schulfehlzeiten von ca. 5 Monaten gegeben. Der SMD habe daher die Aufnahme in ein Internat des … (Asthma- und Diabeteszentrum) befürwortet, um den Gesundheitszustand mit Hilfe einer geregelten Wohnheimstruktur zu stabilisieren. Der Bezirk habe die Internatskosten als zweitangegangener Rehabilitationsträger übernommen. Da eine Zuständigkeit des Bezirks nicht gesehen werde, mache man eine Kostenerstattung nach § 104 SGB X geltend.
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Der Leistungsberechtigte befand sich im Zeitraum vom 15.10.2018 – 12.04.2019 im … lm Entlassungsbericht des … vom 30.06.2019 wurde eine Senkung des HbA1c- Wertes auf 6,8% (letzte Messung Mitte März 2019) festgestellt. Es sei jedoch zu bezweifeln, dass die Therapieumsetzung im häuslichen Umfeld erfolgreich fortgesetzt würde.
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Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 21.10.2019, eingegangen beim Kläger am 22.10.2019, die Kostenerstattung ab und verwies auf ein beim Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht eingeholtes Rechtsgutachten vom 18.10.2019.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 10.02.2021, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 18.02.2021, Klage erhoben und beantragt,
- 1.
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Der Beklagte wird verpflichtet, die in der Zeit vom 15.10.2018 – 11.04.2019 aufgewendeten Kosten der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII in Höhe von 27.931,76 € zu erstatten.
- 2.
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Weiter wird Verzinsung in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Klageeingang beantragt.
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Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass der Kläger für die vollstationäre Unterbringung im … nicht zuständig gewesen sei, weil die Voraussetzungen einer Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII nicht vorlägen. Allein die Erkrankung des Leistungsberechtigten an Diabetes mellitus Typ 1 führe zu keiner wesentlichen körperlichen Behinderung i.S.v. § 53 SGB XII, § 2 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 1 der EingIiederungshilfe-Verordnung. Zwar sei durch die Erkrankung eine körperliche Beeinträchtigung gegeben. Diese sei jedoch durch ein konsequentes Diabetesmanagement und Compliance beherrschbar, die aufgetretenen schweren Ketoazidosen hierdurch vermeidbar. Ursache für die durch die Non-Compliance bedingten Einschränkungen sei eher eine seelische Behinderung in Form von körperlich nicht begründbaren Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Das Konzept der Einrichtung … sei gerade auf eine Entwicklungsförderung und -begleitung der Persönlichkeit und die Unterstützung im Umgang mit dem Krankheitsmanagement ausgerichtet. Es läge daher eine Maßnahme der Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII vor, für die der Beklagte allein zuständig sei. Ein Vorrang der Sozialhilfe i.S.v. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII bestünde mangels Konkurrenzsituation nicht. Ausweislich der Kostenaufstellung habe man im Zusammenhang mit der Unterbringung des Leistungsberechtigten im … nebst Fahrtkosten insgesamt 27.931 ‚76 € aufgewendet.
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Der Beklagte beantragte im Schriftsatz vom 05.03.2021
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Der Antrag sei aufgrund der fehlenden sachlichen Zuständigkeit des Beklagten zu Recht gem. § 14 SGB IX an den Kläger weitergeleitet werden. Eine Abweichung der seelischen Gesundheit i.S.v. § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII sei im ärztlichen Gutachten der Kinder- und Jugendklinik … vom 18.06.2018 nicht thematisiert worden. Daher sei eine weitere Teilhabeprüfung gem. § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII vom Beklagten vor der Weiterleitung nicht vorgenommen worden. Auch der SMD des Klägers habe im Gutachten vom 03.01.2019 keine seelische Behinderung festgestellt. Entgegen § 14 SGB IX habe der Kläger während der Leistungsgewährung auch keine aussagekräftigen Gutachten zu einer seelischen Behinderung i.S.v. § 35a SGB VIII eingeholt, die bloße Annahme einer solchen begründe die Zuständigkeit der Jugendhilfe gem. § 85 SGB VIII nicht. Es wird auf das Rechtsgutachten des Deutschen Vereins für Jugendhilfe und Familienrecht Bezug genommen. Selbst wenn dennoch eine Maßnahme i.S.v. § 35a SGB VIII feststellbar sei, lägen aufgrund der Erkrankung mit Diabetes und des vorgelegten Behindertenausweises jedenfalls zugleich die Voraussetzungen einer Eingliederungshilfe für körperlich behinderte Menschen nach § 53 SGB XII vor. Dies zeige auch die individuelle Leistungsvereinbarung im Bayerischen Rahmenvertrag nach § 79 Abs. 1 SGB XII, wonach für die Aufnahme im … eine wesentliche körperliche Behinderung im Sinne der Eingliederungshilfe vorliegen müsse. Diabetes mellitus sei unter Nr. 2.1 der Leistungsvereinbarung ausdrücklich als eine körperliche Behinderung benannt, die den betroffenen Personenkreis in seiner Entwicklung und Teilhabe beeinträchtige. Die Eingliederungshilfe für körperlich behinderte Menschen nach § 53 SGB XII gehe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII den Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII vor. Eine sachliche Zuständigkeit des Beklagten sei nicht gegeben, weshalb die Kostenerstattung nach § 16 SGB IX i.V.m. § 104 SGB X abgelehnt werde.
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Der Kläger verwies mit Schreiben vom 16.04.2021 auf den Arztbrief des Universitätsklinikums … vom 29.11.2017, in welchem ausgeführt worden sei, dass weder die Mutter noch der Leistungsberechtigte verlässliche Angaben zur Insulinberechnung hätten machen können. Das Klinikum … habe bei einem Aufenthalt vom 14.02. bis 20.02.2018 ebenfalls eine Entgleisung auf Grund Incompliance der Familie festgestellt. Das Universitätsklinikum sei an das Jugendamt am 18.06.2018 herangetreten, um die Notwendigkeit und Situation der fehlenden Therapieumsetzung zu schildern. Auch dem weiteren Schreiben des Universitätsklinikums vom 17.08.2018 sei zu entnehmen, dass keine Motivation zur Messung der Blutzuckerwerte erkennbar gewesen sei. Der Leistungsberechtigte sei nicht bereit gewesen, seine Erkrankung zu akzeptieren. Da eine ambulante psychologische Therapie aufgrund der langen Wartezeiten und den dadurch drohenden Entgleisungen aus ärztlicher Sicht nicht in Betracht gekommen sei, sei eine stationäre Betreuung mit engmaschiger Überwachung dringend angeraten worden. Es handele sich um keine körperliche Behinderung, da die Diabeteserkrankung mit Sicherheit beherrschbar und einstellbar gewesen wäre, wenn der Leistungsberechtigte sich nicht innerlich vollständig dagegen gesperrt hätte. Die Ursache hierin ließe eher auf eine seelische Behinderung in Form von körperlich nicht begründbaren Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen schließen. Dem Entlassbericht des … vom 30.06.2019 sei ebenfalls zu entnehmen, dass die Therapietreue als sehr schlecht eingeschätzt werde, da sich der Leistungsberechtigte nicht wirklich an die ärztlichen Vorgaben zur Verbesserung und Akzeptanz gehalten habe, was ebenfalls einen Rückschluss auf eine seelische Behinderung zulasse.
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Der Beklagte erwiderte hierauf mit Schreiben vom 26.05.2021, dass zu den wesentlich körperbehinderten Personen solche mit schwer einstellbarem Diabetes mellitus zählen würden. Diese Erkrankung sei eindeutig diagnostiziert worden. Aus welchen Gründen die Einstellung gescheitert sei, spiele eine untergeordnete Rolle. Der Nachweis einer seelischen Behinderung fehle weiterhin. Es hätte hierzu vom Kläger eine fachärztliche Stellungnahme eingeholt werden müssen.
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Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid mit Schreiben vom 19. August 2022 gehört.
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Mit Schreiben vom 03.02.2023 führte der Kläger aus, dass aus seiner Sicht keine (drohende) körperliche Behinderung vorgelegen sei und dass neben der seelischen Behinderung des Leistungsberechtigten ein Erziehungsdefizit der Eltern vorgelegen habe, weshalb die Zuständigkeit beim Beklagten liege. Den ärztlichen Berichten seien keine Hinweise zu entnehmen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit nach den Ketoazidosen dauerhaft (länger als sechs Monate) eingeschränkt gewesen wäre. Es habe auch keine körperliche Behinderung gedroht, da der Entlassbericht des … zeige, dass sich die Werte des Leistungsberechtigten innerhalb nur weniger Wochen deutlich verbessert hätten. Der Leistungsberechtigte habe sich als vorbildlicher Jugendlicher im Diabetesmanagement gezeigt. Zum 10.09.2017 habe noch eine sehr gute Blutzuckereinstellung vorgelegen. Dies werde durch den Bericht des … bestätigt, da die Behandlung dort nach Erstmanifestation zunächst ohne Schwierigkeiten gelungen sei. Der Diabetes sei gut einstellbar gewesen, wäre nicht ab September ein Diabetesakzeptanzproblem entwickelt worden. Es gebe zwar keinen Nachweis einer seelischen Behinderung, es sprächen aber viele Hinweise dafür. Das Universitätsklinikum … habe zudem eine psychologische ambulante Betreuung empfohlen. Es habe ein Erziehungsdefizit der Eltern, insbesondere der alleinsorgeberechtigten Mutter vorgelegen, weshalb das Jugendamt vom Universitätsklinikum … eingeschaltet worden sei. Alleine die drohende seelische Behinderung und das Erziehungsdefizit seien Grundlage der gewährten Hilfe gewesen, nicht aber eine (drohende) körperliche Behinderung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird gemäß § 84 Abs. 1 Satz 3, § 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der geleisteten Aufwendungen in Höhe von 27.931,76 EUR im Rahmen einer Leistungsklage (zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl. LSG NW, U.v. 28.11.2019 – L 9 SO 478/17 – juris Rn. 47).
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Dem Kläger steht gegen den Beklagten kein Erstattungsanspruch in Höhe von 27.931,76 EUR nach § 16 Abs. 1 SGB IX (welcher auf § 14 Abs. 4 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beruht – Ulrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., Stand: 27.12.2022, § 16 Rn. 3) zu, der gegenüber den sonstigen Erstattungsregeln nach §§ 102-105 SGB X vorrangig wäre. Zum Verhältnis der Erstattungsansprüche hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 22.06.2017 – 5 C 3/16 – juris Rn. 10 Folgendes ausgeführt: „Gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX erstattet für den Fall, dass nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, dieser Rehabilitationsträger dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften. Ist der Erstattungsanspruch aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX einschlägig, so stellt er sich zwar grundsätzlich gegenüber sonstigen Erstattungsregelungen, insbesondere den allgemeinen Erstattungsansprüchen aus den §§ 102 ff. SGB X, als die diesen vorgehende, speziellere Regelung dar. Denn die Norm, die grundsätzlich auch im Falle einer Beteiligung von zwei Rehabilitationsträgern gleicher Art Anwendung findet (BSG, Urteile vom 20. April 2010 – B 1/3 KR 6/09 R – NZS 2011, 137 Rn. 11 und vom 22. Juni 2010 – B 1 KR 33/09 R – juris Rn. 14), räumt dem zweitangegangenen Rehabilitationsträger, der auf der Grundlage des § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX geleistet hat, einen privilegierten Erstattungsanspruch gegen den materiellrechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein (vgl. BSG, Urteile vom 26. Juni 2007 – B 1 KR 34/06 R – BSGE 98, 267 Rn. 19, vom 28. November 2007 – B 11a AL 29/06 R – SozR 4-3250 § 14 SGB IX Nr. 2 Rn. 17, vom 20. Oktober 2009 – B 5 R 44/08 R – BSGE 104, 294 Rn. 16 und vom 10. Juli 2014 – B 10 SF 1/14 R – EuG 2015, 89 <92>).“
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Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erstattet ein Rehabilitationsträger einem anderen Rehabilitationsträger diejenigen Aufwendungen, die diesem bei der Erbringung von Leistungen nach § 14 Abs. 2 Satz 4 SGB IX, für die der erstattungspflichtige Rehabilitationsträger insgesamt bzw. bei mehrfacher Zuständigkeit vorrangig zuständig ist, entstanden sind.
31
Der Kläger hat zwar aufgrund eines weitergeleiteten Antrags nach § 14 Abs. 2 Satz 4 SGB IX geleistet, sodass § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB IX grundsätzlich als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Es fehlt allerdings an einer vorrangigen Leistungsverpflichtung des Beklagten. Denn die vollstationäre Unterbringung des Leistungsberechtigten im … erfüllte jedenfalls auch die Voraussetzungen einer Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (im Folgenden: § 53 SGB XII a.F.), für die der Kläger zuständig war.
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2. Der Kläger war dem Leistungsberechtigten gegenüber gemäß §§ 53 ff. SGB XII a.F. zur Leistung verpflichtet. Insbesondere war der Leistungsberechtigte aufgrund der ernsthaft zu erwartenden weiteren Ketoazidosen und diabetologischen Folgeerkrankungen von einer körperlich wesentlichen Behinderung nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB XII a.F. zumindest bedroht.
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a) Nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderung Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Von einer Behinderung bedroht sind nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB XII a.F. Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Der Kreis körperlich wesentlich behinderter Menschen i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. wird in § 1 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV – gültig bis zum 31.1.2019) konkretisiert. Dazu gehören nach § 1 Nr. 3 EinglHV insbesondere Personen, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs in erheblichem Umfang eingeschränkt ist.
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b) Diese Voraussetzungen lagen hinsichtlich des Leistungsberechtigten vor.
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aa) Die Erkrankung mit Diabetes mellitus Typ 1 stellt eine Fehlfunktion eines inneren Organs i.S.v. § 1 Nr. 3 EinglHV dar. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in das … am 15.10.2018 war auch mit hoher Wahrscheinlichkeit i.S.v. § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB XII zu erwarten, dass der Leistungsberechtigte infolge dieser Erkrankung in erheblichem Umfang in seinem körperlichen Leistungsvermögen eingeschränkt sein würde. Denn aufgrund der unstreitigen kaum bis nicht vorhandenen Therapieumsetzung durch den Leistungsberechtigten war zu erwarten, dass es wie in der Vergangenheit zu lebensbedrohlichen Ketoazidosen sowie diabetologischen Folgeerkrankungen (insb. Erblindung, Nierenschäden, Nierentransplantation) aufgrund eines erhöhten HbA1c-Wertes kommen könnte, wenn nicht alsbald geeignete Maßnahmen zur besseren Blutzuckereinstellung ergriffen würden (ärztliche Stellungnahme des Universitätsklinikums … vom 18.06.2018; ärztliche Stellungnahme des … vom 10.12.2018 – Behördenakte des Klägers, BI. 27 f).
36
bb) Nicht maßgeblich ist dagegen, dass bei ordnungsgemäßer Therapieumsetzung und guter Blutzuckereinstellung wohl keine wesentliche körperliche Funktionsbeeinträchtigung durch die Diabeteserkrankung gedroht hätte. Denn nach Auffassung des Gerichts ist auch die voraussichtliche Therapietreue des Leistungsberechtigten in die Prognose nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB XII a.F. einzustellen. Dafür spricht zum einen der Wortlaut des § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB XII a.F. Dieser differenziert nicht danach, ob die drohende Behinderung im (körperlichen) Zustand des Leistungsberechtigten selbst angelegt ist oder erst durch dessen fehlende Therapietreue verursacht wird. Ist im Einzelfall aufgrund konkreter Tatsachen zu erwarten, dass der Leistungsberechtigte die verordnete Therapie nicht befolgen wird, so handelt es sich auch insoweit um einen Kausalfaktor, der das tatsächliche Geschehen beeinflusst und daher in die Prognose einzubeziehen ist. Eine körperliche Behinderung kann bei Vorliegen entsprechender konkreter Tatsachen für die Annahme einer zukünftigen fehlenden Therapietreue daher nicht mit derselben Wahrscheinlichkeit vermieden werden, mit der der Eintritt der Behinderung droht. Soweit in der Rechtsprechung hierzu eine andere Ansicht vertreten wird (z.B. LSG BW, U.v. 7.11.2019 – L 7 SO 1832/18 – BeckRS 2019, 29099 unter Verweis auf LSG LSA, B.v. 24.04.2017 – L 8 SO 50/16 B ER; LSG BW, U.v. 16.6.2021 – L 2 SO 718/19 – BeckRS 2021, 43821 Rn. 60) ist auszuführen, dass in diesen Fällen der Hilfeempfänger in der Lage war, seine Diabetesbehandlung zu überwachen und zu beobachten. Der Diabetes war somit gut einstellbar, da eine rasche Normalisierung der Blutzuckerwerte erreicht werden konnte. Nach den Arztberichten im zu entscheidenden Fall des LSG Baden-Württemberg vom 7.11.2019 war die mangelnde Therapiecompliance darauf zurückzuführen, dass eine Selbstverletzung in Form einer emotional-instabilen Persönlichkeitsakzentuierung vorlag. Solche Feststellungen fehlen hier in Bezug auf den Leistungsberechtigten und hätten vom beweispflichtigen Kläger getroffen werden müssen. Es liegen dem Kläger auch keine Berichte vor, dass der Diabetes mellitus beim Leistungsberechtigten gut einstellbar gewesen wäre. Laut Ausführungen des Arztes Dr. med. Sch im Schreiben vom 10.12.2018 (Ärztlicher Direktor des …*) erfolgten folgende Maßnahmen: Begleitung durch Fachpersonal bei Gewebs- und Blutzuckermessungen bis zu siebenmal pro Tag, Überwachung der Nahrungsaufnahme, exakte Dosierung des Kurzzeitinsulins, psychologische und pädagogische Betreuung, ärztliche Visite, zweimal tägliche Beratung durch Diabetesberaterin. Hierdurch habe der HbA1c-Wert auf 8,3% gesenkt werden können, was ein Wert im befriedigenden Bereich sei. Die hierzu notwendige fachliche Begleitung, Anleitung und Kontrolle könne nur im Rahmen einer entsprechenden Einrichtung aufrechterhalten werden. Eine Selbständigkeit habe in der kurzen Zeit (zwei Monate) nicht erlernt werden können. Durch die engmaschigen Kontrollen lägen 55% der Werte innerhalb des Zielbereichs, 33% oberhalb des Zielbereichs und 12% unterhalb des Zielbereichs. (Auch nach Ansicht des Ärztlichen Direktors des … lagen die Voraussetzungen des §§ 53 und 54 SGB XII vor.) Dass es sich bei der Einstellung des Diabetes um eine lang anhaltende Beeinträchtigung gehandelt hat, ist dem Entlassbericht des Dr. med. Sch vom 30.06.2019 zu entnehmen: Obwohl der C-Peptidwert noch auf eine gewisse eigene Insulinproduktion hinweise, habe nur durch eine sehr engmaschige Betreuung (Begleitung durch Fachpersonal bei Gewebs- und Blutzuckermessungen bis zu siebenmal pro Tag, Überwachung der Nahrungsmittelaufnahme, exakte Dosierung des Kurzzeitinsulins und Gabe von Langzeitinsulin sowie psychologische- und pädagogische Betreuung, wöchentliche ärztliche Visiten, tägliche Beratung durch die Diabetesberaterin) der HbA1c-Wert auf 6,8% (Messung Mitte März 2016) gesenkt werden können, was einem guten Wert bei Jugendlichen entspreche.
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Auch § 53 Abs. 2 Satz 2 SGB XII a.F., der die Subsidiarität zur vorbeugenden Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach § 47 und § 48 SGB XII normiert, spricht nicht gegen ein solches Verständnis. Die Norm setzt letztlich voraus, dass auch das (vorbeugende) Verhalten des Leistungsberechtigten bei der Prognose berücksichtigt wird. Entscheidend, aber auch ausreichend muss sein, dass eine wesentliche Behinderung i.S.v. § 53 Abs. 2 Satz 1 XII a.F. tatsächlich droht und Aussicht besteht, die drohende Behinderung durch die beantragte Maßnahme zu verhüten (i.E. auch OVG Saarlouis, B.v. 27.8.2009 – 3 A 352/08 – BeckRS 2009, 38930; §§ 53 ff. SGB XII a.F. bejaht bei mehrfachen Ketoazidosen bzw. chronisch unzureichender Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit schlechter Patientenmitarbeit).
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3. Diese vorrangige Zuständigkeit des Klägers zur Leistung entfiele auch dann nicht, wenn neben ihm der Beklagte zur Leistung verpflichtet gewesen sein sollte. Denn bei einer Leistungsverpflichtung des Beklagten wäre der Anwendungsbereich der Konkurrenznorm des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eröffnet (BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 5 C 26/98 – NJW 2000,2688). Dann hätte der Leistungsberechtigte zwei miteinander konkurrierende, auf die vollstationäre Unterbringung im … gerichtete Ansprüche sowohl nach dem SGB XII (Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII a.F.) als auch nach dem SGB VIII (Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII). Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Für die medizinische und die soziale Rehabilitation ebenso wie für die Eingliederung in das Arbeitsleben unterscheidet § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nach der Form der Behinderung, sodass Rehabilitationsleistungen nach dem SGB IX Leistungen des SGB VIII ausschließen, wenn körperliche oder geistige oder wenn sowohl körperliche oder geistige wie seelische Beeinträchtigungen bestehen (Bohnert in BeckOGK, Stand 1.10.2022, SGB VIII, § 10 Rn. 41). Im Ergebnis stellte auch das OVG Saarlouis im Beschluss vom 27.8.2009 – 3 A 352/08 – BeckRS 2009, 38930 bei festgestellter Mehrfachbehinderung (unter Bejahung der Voraussetzungen des § 35a SGB VIII und des § 53 SGB XII – auf Grund eines schweren Diabetes mellitus, der im Zusammenhang mit schlechter Patientenmitarbeit zu einer drohenden körperlichen Behinderung geführt hat) fest, dass ein Vorrang der Eingliederungshilfe gegeben ist (im Ergebnis ebenso VG Bayreuth, U.v. 19.3.2021 – B 10 K 18.776 – unveröffentlicht). Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a SGB VIII war daher nicht einzugehen.
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Mangels Hauptanspruchs steht dem Kläger auch kein Zinsanspruch zu.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, da der Kläger voll unterliegt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.