Inhalt

OLG München, Beschluss v. 21.02.2023 – 16 UF 963/22
Titel:

Entzug der elterlichen Sorge bei körperlicher Züchtigung nach syrischem Heimatrecht

Normenketten:
GG Art 6
BGB § 1666, § 1666a
Leitsätze:
1. Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.  (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Bei der Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungswegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
3. Lässt sich eine erhebliche Gefährdung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen, hängt die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines auf die Trennung des Kindes von den Eltern gerichteten Entzugs des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666 a BGB von der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs in das Elternrecht ab. Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinn verlangt bei diesem Vorgehen keine weitere, eine höhere Sicherheit des Schadenseintritts erfordernde Prognose. Verfassungsrechtlich kommt es darauf an, dass der entsprechende Eingriff sich als geeignet, erforderlich und angemessen erweist. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bereits zum früheren Recht, als sich das Recht der elterlichen Sorge noch nach der übereinstimmenden Staatsangehörigkeit von Eltern und Kindern richtete, war anerkannt, dass die Ausübung von übermäßiger körperlicher Züchtigung auch dann Maßnahmen gemäß § 1666 BGB, die mit einer Trennung des Kindes von der Familie verbunden sind, rechtfertige, wenn das Heimatrecht des Kindes das Recht der Eltern zur körperlichen Züchtigung des Kindes umfasst. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Elternrecht, Syrien, Entzug der elterlichen Sorge, Schutz des Elternrechts, Verhältnismäßigkeit, körperlicher Züchtigung, Heimatrecht, Jugendamt, Jugendhilfe, Beschwerde
Vorinstanz:
AG Landshut, Beschluss vom 04.08.2022 – 2 F 476/21
Fundstellen:
FamRZ 2023, 952
BeckRS 2023, 3357
LSK 2023, 3357

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Landshut vom 04.08.2022, Az.: 2 F 476/21 wird in Ziffer 1 dahingehend abgeändert, dass den Beschwerdeführern hinsichtlich der Betroffenen zu 5), F. S., geboren am ... 2008, zusätzlich folgende Rechte entzogen werden:
- Regelung schulischer Angelegenheiten
- Behördenangelegenheiten
- Vermögenssorge
Auch soweit den Beschwerdeführern diese Rechte entzogen werden, wird Ergänzungspflegschaft angeordnet. Als Ergänzungspfleger wird das Stadtjugendamt der Stadt L. bestellt.
2. Dem Beschwerdeführer S. A. wird untersagt, bis 19.12.2024 Kontakte zu der Betroffenen zu 5), F. S., geboren …2008, ohne vorherige Zustimmung des Ergänzungspflegers aufzunehmen.
3. Ziffer 3 des Beschlusses des Amtsgerichts – Familiengericht – Landshut vom 04.08.2022, Az.: 2 F 476/21 wird aufgehoben.
4. Im Übrigen wird die Beschwerde der Beschwerdeführer zurückgewiesen.
5. Der Beschwerdeführer S. A. wird darauf hingewiesen, dass für jeden Fall der zu vertretenden Zuwiderhandlung gegen das Kontaktverbot gemäß Ziffer 2 Ordnungsgeld in Höhe von jeweils bis zu 25.000,00 € und für den Fall dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft für eine Dauer von bis zu 6 Monaten angeordnet werden kann. Verspricht die Anordnung von Ordnungsgeld keinen Erfolg, so kann das Gericht sofort Ordnungshaft für eine Dauer von bis zu 6 Monaten anordnen. Weiterhin kann das Gericht zur Vollstreckung unmittelbaren Zwang anordnen, wenn die Festsetzung von Ordnungsmitteln erfolglos geblieben ist, die Festsetzung von Ordnungsmitteln keinen Erfolg verspricht oder eine alsbaldige Vollstreckung unbedingt geboten erscheint. Die Festsetzung dieser Ordnungsmittel kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Beschwerdeführer die Betroffene zu 5), F. S., ohne vorherige Zustimmung des Ergänzungspflegers an oder vor ihrer Wohnung, in der Schule oder am Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz aufsucht oder auf sonstige Weise einen persönlichen Kontakt zu der Betroffenen zu 5) herstellt.
6. Die Beschwerdeführer tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
7. Der Verfahrenswert wird für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beschwerdeführer (im Folgenden Eltern genannt) sind verheiratet. Aus ihrer Ehe sind die im Rubrum genannten sechs Kinder hervorgegangen.
2
Bis 2008 hat die Familie in Syrien gelebt. 2008 zog die Familie nach Libyen. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der wahre Geburtszeitpunkt der Betroffenen zu 5), F. S., – im Folgenden Betroffene genannt – nicht der ... 2008, sondern der ... 2006 ist. An diesem Tag wurde die Beschwerdeführerin A. M. N. (im folgenden Mutter genannt) von der Betroffenen durch Kaiserschnitt in D., S., entbunden. Die Geburtsurkunde sei, so die Angaben der Mutter gegenüber dem Bezirkskrankenhaus L., im Jahr 2008 in Libyen umdatiert worden.
3
Im Jahr 2017 sind die Eltern mit den betroffenen Kindern über Italien nach Deutschland geflohen. Letztlich wurde ihnen dort in L. das Haus Anwesen S.straße 34 zugewiesen, in dem sie auch derzeit leben.
4
In Deutschland gelang es der Betroffenen zunächst gut, die deutsche Sprache zu erlernen und sich in der Schule zu integrieren.
5
Der Betroffenen, die damals noch ein Kind war, wurden jedoch alsbald viele Aufgaben für die Versorgung der Familie übertragen. Die Betroffene berichtet insoweit, dass Y. sie quasi als seine Mutter ansehe, da sie bereits im Alter von 9 Jahren diesen versorgt habe.
6
Demgegenüber hatten die Eltern größere Schwierigkeiten, sich in Deutschland zu integrieren. Den Wunsch der Betroffen, sich mit Freundinnen und Freunden zu treffen, wie das ihre deutschen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden auch taten, lehnten sie ab. Zu Anfang des Jahres 2021 kam es zu erheblichen Spannungen zwischen den Eltern, unter anderem auch im Zusammenhang damit, dass sich der Beschwerdeführer S.A.(im Folgenden Vater genannt) einer weiteren Frau zugewandt hatte.
7
Gegenüber der Betroffenen kam es aufgrund unterschiedlicher Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen zu Drohungen und Übergriffen seitens des Vaters.
8
Als dieser letztlich damit drohte, vier von sechs der Kinder ins Ausland zu entführen, wandte sich die Mutter an das Jugendamt.
9
Das Amtsgericht – Familiengericht – Landshut leitete zwei Verfahren ein. Im Verfahren 2 F 78/21 verpflichtete sich die Mutter, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten und ein Kontaktverbot gegen den Vater durchzusetzen. Im Hinblick auf diese Zusagen sah das Amtsgericht – Familiengericht – L. davon ab, weitere sorgerechtsbeschränkende Maßnahmen zu ergreifen.
10
Im Verfahren 2 F 151/21 erwirkte die Mutter gegenüber dem Vater am 12.02.2021 eine einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz, durch die ihr die vormals gemeinschaftliche Wohnung zur alleinigen Nutzung mit den Kindern zugewiesen und gegen den Vater ein Kontaktverbot ausgesprochen wurde.
11
In der Folgezeit gelang es allerdings der Mutter nicht, diese Zusagen einzuhalten. Spätestens am 04.06.2021 kehrte der Vater mit seiner Lebensgefährtin, die er nach islamischen Recht geheiratet hatte, in die Wohnung zurück, nachdem er sich aber auch schon vorher zu nicht genau bekannten Zeitpunkten dort aufgehalten hatte. Die Rückkehr des Vaters mit der Lebensgefährtin und die daraus folgenden Spannungen zwischen den Eltern stellten für die Betroffene eine erhebliche Belastung dar.
12
Anlass für die Einleitung des anhängigen Verfahrens war unter anderem, dass der Vater gegenüber der Betroffenen Gewalt angewandt hatte.
13
Im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zwischen der Mutter und der damaligen (weiteren) Lebensgefährtin des Vaters wurde letzterer auch gegenüber der Betroffenen handgreiflich. Bei der Untersuchung im Kinderkrankenhaus St. M. wurde folgender Befund erhoben: „Multiple Prellmarken im Gesicht – Nasenrückenhämatom, Nase jedoch stabil, derzeit kein Hinweis auf Fraktur; rötliche ringförmige Prellmarke unter dem rechten Auge, druckschmerzhaft, strichförmiger Ausläufer in Richtung Schläfe. Hämatom links unter dem Auge mit leichter Schwellung und über rechter Augenbraue Hämatom; rechter Ringfinger MCP; zwei frische Ritzspuren rechter Unterarm, nicht entzündet, multiple Narben von alten Ritzspuren beidseits an Unterarmen und Unterschenkeln.“ Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht vom 25.05.2021 verwiesen.
14
Im Vorfeld der Untersuchung hatte die Betroffene hinsichtlich der Ursachen für die Verletzungen im Gesichtsbereich widersprüchliche Angaben gemacht. Ursprünglich hatte sie erklärt, diese Verletzungen dadurch erhalten zu haben, dass ihr Vater sie geschlagen habe. Diese Äußerung modifizierte sie dahingehend, dass sie von der Treppe gefallen sei.
15
In dem Bericht der Kinderklinik St. M. befindet sich folgende zusammenfassende Beurteilung: „In der kinderschutzmedizinischen Untersuchung fanden sich oben beschriebene Verletzungen, welche sich durch den von der Patientin beschriebenen Unfallhergang nicht erklären lassen. Bei einem Treppensturz würde man auch an anderen Körperstellen außer dem Gesicht Verletzungen und Hämatome erwarten. Gewalt durch Dritte kann nicht ausgeschlossen werden. Zusätzlich finden sich bei F. frische Ritzspuren, welche auf eine erneute akute Belastungssituation hindeuten.“
16
Das Amtsgericht – Familiengericht – Landshut hat daraufhin durch einstweilige Anordnung, Az. 2 F 545/21, den Eltern die elterliche Sorge vorläufig entzogen und das Stadtjugendamt L. als Vormund bestellt. Nach Anhörung der Beteiligten und der Kinder wurde diese einstweilige Anordnung durch Beschluss vom 20.07.2021 bestätigt. Das Stadtjugendamt der Stadt L. brachte die Kinder in unterschiedlichen Einrichtungen unter.
17
In der Folgezeit entzogen sich insbesondere die Betroffene, aber auch ihre Schwester N., wiederholt der Fremdunterbringung. Letztlich stimmte der Vormund der Rückkehr der beiden älteren Töchter zu den Eltern unter der Bedingung zu, dass ein Schutzkonzept eingehalten werde. Am 11.08.2021 bzw. 27.08.2021 kehrten die Töchter daher in den elterlichen Haushalt zurück. Da sich die Eltern als kooperativ erwiesen, hat das Oberlandesgericht München durch Beschluss vom 20.10.2021, 16 UF 870/21, die einstweilige Anordnung des Amtsgerichts – Familiengericht – vom 20.07.2021 aufgehoben. In der Folgezeit kehrten auch die jüngeren Geschwister in den elterlichen Haushalt zurück. Bereits am 07.02.2022 musste die Betroffene allerdings wiederum in Obhut genommen werden, da der Vater erneut gegenüber dieser übergriffig geworden war. In welchem Umfang dies geschah, ist zwischen den Beteiligten streitig. Die Betroffene war allerdings wiederholt in den Einrichtungen, in denen sie aufgenommen wurde, abgängig. Sie kehrte am 28.02.2022 zu den Eltern zurück.
18
Bereits im Zusammenhang mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung hatte das Amtsgericht – Familiengericht – L. auch ein Hauptsacheverfahren wegen Kindeswohlgefährdung eingeleitet. Grundlage hierfür ist der Bericht der Stadt L. vom 06.05.2021 über eine Gefährdung des Kindeswohls, da der Vater entgegen der Zusage der Mutter mit seiner neuen Lebensgefährtin in die Familienwohnung zurückgekehrt sei.
19
Am 27.04.2022 wurde das Gutachten der Sachverständigen S. vorgelegt. Die Sachverständige kam hinsichtlich der jüngeren Geschwister zu dem Ergebnis, dass sich diese gut entwickelt hätten und eine Kindeswohlgefährdung nicht bestehe. Demgegenüber kam die Gutachterin hinsichtlich der Betroffenen zu dem Ergebnis, dass bei einem Verbleib im elterlichen Haushalt ohne geeignete Hilfemaßnahmen eine Gefährdung für die Entwicklung bestehe. In Bezug auf die Betroffene kam die Gutachterin zu folgenden Befund:
„Die älteste Tochter F. besucht aktuell die Schule nicht mehr. Sie zieht sich oft in ihrem Zimmer zurück und zeigt eine depressive Symptomatik und selbstverletzendes Verhalten. Hier ist dringend eine psychiatrische Abklärung notwendig.
Die familiären Konflikte bestehen hauptsächlich zwischen F. und ihrem Vater. F. ist nicht bereit sich den konservativen Regeln des Vaters unterzuordnen. Sie fühlt sich in ihrer Freiheit stark eingeschränkt und leidet stark unter dem kontrollierenden Verhalten des Vaters. Es kam zu zwei Handgreiflichkeiten zwischen dem Vater und F., wobei F. das erste Mal im Krankenhaus behandelt wurde. F. war 2021 und 2022 mehrmals fremduntergebracht, konnte sich jedoch auch in den Jugendhilfeeinrichtungen nicht an die bestehenden Regeln halten und entschied sich daher wieder bei der Familie zu leben.
F. äußert nun den Wunsch, in einer Pflegefamilie zu leben. Sie gibt an, auch bereit zu sein, in eine therapeutische Wohngruppe zu gehen. Der Wille F. zeigt sich während der Begutachtung als nicht stabil. Sie ließ sich mehrmals freiwillig in Obhut nehmen, ging dann aber freiwillig wieder nach Hause zurück. F. scheint starke Schwierigkeiten mit ihrem Regelverhalten und ein großes Bedürfnis nach Freiheit zu haben, was sowohl zu Hause als auch in den Einrichtungen zu Problemen führt.“
20
Hinsichtlich der Eltern erhob die Sachverständige folgenden Befund:
„Ferner ergab die Begutachtung, dass grundsätzlich die Erziehungskompetenz beider Eltern gegeben ist. Es konnten keine Hinweise auf erhebliche Beeinträchtigungen der Erziehungseignung während des Begutachtungszeitraums festgestellt werden.
Es ergaben sich jedoch Hinweise auf geringfügige Einschränkungen der Erziehungskompetenz bei der Mutter in den Bereichen: Erkennen und Fördern von F. Bedürfnissen. Herr S. Erziehungskompetenz ist ebenfalls eingeschränkt im Bereich der Erziehungsmethoden. Herr S. ist überbehütend und stark kontrollierend und schränkt F. damit stark in ihrer Autonomieentwicklung ein. Herrn S. fehlen zudem funktionale Strategien um in Konfliktsituationen adäquat mit F. umzugehen und die Situation zu lösen.“
21
Zusammenfassend kam die Gutachterin zu folgendem Ergebnis:
„Zusammenfassend führt die Begutachtung zu dem Ergebnis, dass aus sachverständiger Sicht für die Kinder Ri., R., Y., M. und N. aktuell keine Gefährdung beim Verbleib im gemeinsamen elterlichen Haushalt besteht. Bei der ältesten Tochter F. besteht keine akute Gefährdung, jedoch ist nicht auszuschließen, dass F. Entwicklung beim Verbleib im elterlichen Haushalt ohne geeignete Hilfemaßnahme gefährdet ist.
Es wird daher empfohlen, die Maßnahme des Erziehungsbeistandes fortzuführen und zudem erneut eine Familienhilfe für die Eltern zu installieren, um vor allem mit Herrn S. alternative Handlungsstrategien in Konfliktsituationen und adäquate Erziehungsmethoden zu entwickeln.“
22
Herr Dipl.-Ökonom C. K. hatte die Eltern seit Sommer 2021 unterstützt. Er ist im Rahmen des Projekts „L. schafft das“ tätig. Er unterstützte die Familie bei der Abwicklung wirtschaftlicher, finanzieller und von Behördenangelegenheiten, aber auch im Zusammenhang mit der Erziehung und Betreuung der Kinder. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht vom 08.07.2022 verwiesen.
23
Im Rahmen seiner Tätigkeit war es allerdings nicht möglich, die Konzepte des Herrn K. mit den Zielen und Handlungsstrategien einer sozialpädagogischen Familienhilfe und eines Erziehungsbeistandes zu vereinbaren. Hinsichtlich aller Kinder sah die Sachverständige insoweit allerdings Handlungsbedarf. Sie empfahl, zumindest eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Herrn K. und den seitens des Jugendamtes angebotenen Hilfen durch Sozialpädagogische Familienhilfe und Erziehungsbeistandschaft vorzunehmen. Die Sachverständige kam zu folgender Handlungsempfehlung:
„Es wird daher empfohlen, die Maßnahme des Erziehungsbeistandes fortzuführen und zudem erneut eine Familienhilfe für die Eltern zu installieren, um vor allem mit Herrn S. alternative Handlungsstrategien in Konfliktsituationen und adäquate Erziehungsmethoden zu entwickeln.
Eine gelungene Zusammenarbeit mit einer Familienhilfe kann aus aktueller Sicht nur eingeschränkt mit den Werten von Herrn K. entstehen. Zum einen muss festgehalten werden, dass Herr K. wie beschrieben, eine große Ressource darstellt und die Familie bei der Bewältigung des Alltags unterstützt. Zum anderen nimmt er den Eltern durch die Übernahme vieler elterlicher Aufgaben die Möglichkeit, eigene Kompetenzen zu entwickeln, und neigt aufgrund seines emotionalen Engagements für die Familie zu grenzüberschreitendem Verhalten. Eine Zusammenarbeit zwischen ambulanter Jugendhilfe und Herrn K. mit klarer Abgrenzung der jeweiligen Kompetenz und Handlungsbereiche ist als zielführend anzusehen.“
24
In der Folgezeit verschlechterte sich die psychische Situation der Betroffenen weiter. Herr K. stellte sie deswegen am 02.05.2022 zur ambulanten Untersuchung im Bezirkskrankenhaus Landshut (Jugendpsychiatrie) vor. Dort wurde sie allerdings bereits am 03.05.2022 wieder entlassen.
25
In der Nacht vom 07. auf den 08.05.2022 hatte die Betroffene sodann einen Suizidversuch mit Hilfe der Einnahme von Tabletten unternommen. Sie wurde deswegen zunächst im Kinderkrankenhaus St. M. intensivmedizinisch behandelt und anschließend in die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Bezirks N. überführt, wo sie bis 25.05.2022 stationär behandelt wurde.
26
In der Folgezeit war die Betroffene wiederum mehrfach abgängig, teilweise wohl aus Angst vor der Schule, teilweise auch weil sie der Begutachtung und gegebenenfalls stationären Aufnahme in das Bezirkskrankenhaus L. entgehen wollte. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht des Jugendamtes der Stadt L. vom 06.07.2022 verwiesen. Am 21.07.2022 hat das Amtsgericht – Familiengericht – L. die Eltern, das Jugendamt und den Verfahrensbeistand gehört. Der Vater lehnte eine sozialpädagogische Familienhilfe ab. Ein Schutzkonzept sei nicht erstellt worden. Die Verfahrensbeiständin berichtete von einer wenig strukturierten Situation im elterlichen Haushalt, als sie mit den Eltern und den Kindern sprechen wollte. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Vermerk vom 21.07.2022 verwiesen.
27
Die Kinder hatte das Amtsgericht – Familiengericht – L. bereits am 29.06.2021 angehört. Durch Beschluss vom 04.08.2022 hat das Amtsgericht – Familiengericht – L. den sorgeberechtigten Eltern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Zuführung zur medizinischen Behandlungen, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII und das Recht zur Regelung des Umgangs für die Betroffene entzogen und insoweit die Bereiche der elterlichen Sorge auf das Stadtjugendamt Landshut als Ergänzungspfleger übertragen. Weiterhin hat es die Eltern verpflichtet, bei dem Stadtjugendamt L. eine sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen und mit dieser zusammenzuarbeiten sowie die Zusammenarbeit mit Herrn K. zu beenden. Zur Begründung führte das Amtsgericht – Familiengericht – L. aus, dass die Betroffene erhebliche psychische Probleme habe. Die Eltern seien extrem sprunghaft in ihrem Verhalten und nicht in der Lage, auf diese Probleme einzugehen. Sie seien mit der Erziehung der Betroffenen überfordert. Daher sei bzgl. der Betroffenen ein Teilentzug der elterlichen Sorge erforderlich, dies auch vor dem Hintergrund der möglicherweise erforderlichen Unterbringung der Betroffenen zur stationären Behandlung im Bezirkskrankenhaus L.
28
Hinsichtlich der übrigen Kinder sei demgegenüber die Weisung, ambulante Hilfe zur Erziehung in Form sozialpädagogischer Familienhilfe in Anspruch zu nehmen und die Zusammenarbeit mit Herrn K. in sorgerechtlicher Hinsicht zu beenden, ausreichend. Hierdurch könnte der Hilfebedarf der Eltern bei der Erziehung der übrigen Kinder gedeckt werden. Die Autonomie der Eltern könnte dadurch gestärkt werden. Dem stehe die Tätigkeit von Herrn K. entgegen, der den Eltern all diese Aufgaben abgenommen habe. Erschwerend komme hinzu, dass dieser die Kooperation mit dem Jugendamt beeinträchtigt habe.
29
Der Beschluss wurde der Verfahrensbevollmächtigten der Eltern am 08.08.2022 zugestellt. Gegen den Beschluss haben diese mit Schriftsatz vom 07.09.2022, begründet mit Schriftsatz vom 04.11.2022, Beschwerde eingelegt.
30
Sie beantragen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – L. aufzuheben, da sich die Situation verbessert habe und daher keine Kindeswohlgefährdung mehr bestehe.
31
Das Amtsgericht – Familiengericht – L. hatte im August 2022 ebenfalls die Erstellung eines Gutachtens zu Frage, ob die Unterbringung der Betroffenen zur psychiatrischen Behandlung erforderlich sei, in Auftrag gegeben. Zur Durchführung dieser Begutachtung sollte sich die Betroffene im Bezirkskrankenhaus L. vorstellen. Dem hat sich die Betroffene zunächst entzogen, indem sie zu einer Freundin nach Passau geflüchtet ist. Erst als sie gehört habe, so das Gutachten des Bezirkskrankenhauses L. vom 25.10.2022, dass es ihrer Mutter schlecht gehe, sei sie freiwillig nach L. zurückgekehrt und habe sich dort auch der Begutachtung gestellt. Auch der Begutachtung entzog sich die Betroffene noch einmal in der Zeit vom 26.09.2022 bis 05.10.2022. Das Gutachten konnte sodann am 25.10.2022 fertiggestellt werden. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass eine Unterbringung nach § 1631 b BGB zur Abwendung einer Gefahr für das Wohl der Betroffenen nicht erforderlich sei, sondern auch eine hochfrequente Betreuung durch familienunterstützende Maßnahme ausreichend sei. Eine psychotherapeutische Anbindung sei nicht erforderlich, werde aber empfohlen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 25.10.2022 verwiesen. Die Betroffene hat in der Folgezeit regelmäßig die Schule besucht und bei den Eltern gelebt. Im Hinblick auf diese positive Entwicklung empfahlen das Jugendamt und der Verfahrensbeistand, den in das Sorgerecht eingreifenden Beschluss aufzuheben.
32
In der Folgezeit kam es allerdings wiederum zu einem gewalttätigen Verhalten des Vaters gegenüber der Betroffenen. Er warf ihr vor, dass sie nicht ausreichend auf ihren jüngeren Bruder aufgepasst habe, so dass dieser eine Wand beschmiert habe. Außerdem warf er ihr die Benutzung ihres Mobiltelefons vor. Die Betroffene wandte sich daraufhin an die Ergänzungspflegerin und die Erziehungsbeiständin. Diese veranlassten die Vorstellung der Betroffenen in der Notfallambulanz des Kinderkrankenhauses L. Dort wurde folgender Befund erhoben: „Multiple alte Ritzspuren an Unterarmen beidseits, Zustand nach Ritzspur im Dekolletee links, multiple kleine Narben an Unterschenkeln, teilweise auch an Oberschenkeln beidseits bei Zustand nach unklarem Ausschlag und Kratzen; …; Schädel: Druckschmerz rechts parietal temporal (Anprall gegen Wand anamnestisch), Hämatom linkes Jochbein dunkelblau/braun verfärbt, circa 5 cm Durchmesser.“
33
Es wird folgende Beurteilung abgegeben:
„Es präsentiert sich ein 14-jähriges Mädchen mit deutlich sichtbarem Hämatom im Bereich der linken Wange passend zum anamnestisch erhobenen Verletzungshergang mit Schlagen der Rückseite der linken Hand durch den Vater. F. wirkt differenziert und teilweise auch distanziert beim Schildern der Situation.“
34
In der Folgezeit wurde die Betroffene in eine Bereitschaftspflegefamilie aufgenommen.
35
Der Ergänzungspfleger hat die Erweiterung seines Aufgabenkreises beantragt, um die erforderliche Hilfe und Unterstützung für die Betroffene beantragen zu können und um für diese ein Taschengeldkonto einzurichten.
36
Verfahrensbeistand und Jugendamt unterstützen die Erweiterung des Teilentzugs der elterlichen Sorge.
37
Die Betroffene äußerte den Wunsch, in der Bereitschaftspflegefamilie bleiben zu dürfen. Sollte dies nicht möglich sein, wünscht sich die Betroffene, in einer Wohngruppe für Jugendliche zu leben. Die elterliche Sorge sollte daher durch die Ergänzungspflegerin, Frau E., weiterhin in dem bisherigen Umfang ausgeübt werden, wobei sie es gut fände, wenn Frau E. auch die Aufgaben Schule, Ausbildung, Behördenangelegenheiten übertragen würden. Die Menschen, zu denen sie am meisten Vertrauen habe, seien Frau E., die Pflegemutter und Frau S., der Erziehungsbeistand.
38
Die Eltern streiten ab, dass der Vater F. verletzt habe. Diese habe sich die Verletzung selbst beigebracht. Im Übrigen konnten sie sich mit einer Erweiterung des Teilsorgeentzugs nicht einverstanden erklären. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Vermerk über die Verhandlung vom 08.02.2023 sowie über die Anhörung der Betroffenen, F. S., verwiesen.
II.
39
Die Beschwerde ist zulässig, aber nur begründet, soweit die Beschwerdeführer die Aufhebung von Ziffer 3 des Beschlusses des Amtsgerichts – Familiengericht – L. vom 04.08.2022 erstreben. Im Übrigen sind ihnen weitere Teilbereiche der elterlichen Sorge zu entziehen, weil dies erforderlich ist, um weitere Gefahren für das Wohl der Betroffenen abzuwenden.
40
1. Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Zurückweisung der Beschwerde und die Erstreckung des Teilentzugs der elterlichen Sorge auf weitere Bereiche liegen vor. Insbesondere hat der Senat gemäß § 68 Abs. 5 FamFG die Betroffene im Beisein des Verfahrensbeistandes persönlich gehört. Weiterhin hat der Senat gemäß § 68 Abs. 5, § 160 FamFG die Eltern erneut persönlich gehört. Schließlich wurde auch für das Beschwerdeverfahren gemäß § 158 Abs. 2 Nr. 1 FamFG die Bestellung von Frau Rechtsanwältin G.-S. als Verfahrensbeistand für die Betroffene aufrechterhalten.
41
2. Zu Recht hat das Amtsgericht – Familiengericht – Landshut hinsichtlich der Betroffenen den sorgeberechtigten Eltern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Zuführung zu medizinischen Behandlungen, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach § 27 ff. SGB VIII und das Recht zur Regelung des Umgangs entzogen.
42
Gemäß § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB sind diese Maßnahmen zu erstrecken auf die Regelung schulischer Angelegenheiten, die Regelung der Ausbildung und die Regelung von Behördenangelegenheiten sowie die Vermögenssorge. Außerdem ist gemäß § 1666 Abs. 3 Nr. 4 BGB gegen den Vater das Verbot anzuordnen, ohne vorherige Zustimmung der Ergänzungspflegerin Kontakt zu der Betroffenen aufzunehmen.
43
Der Senat verkennt nicht, dass für Eingriffe in das Recht der elterlichen Sorge, die mit einer Trennung des Kindes von den Eltern verbunden sind, sehr hohe verfassungsrechtliche Anforderungen gelten. Diese hat das Amtsgericht – Familiengericht – Landshut bei Erlass der Entscheidung vom 04.08.2022 beachtet.
44
Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Zudem darf eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Bei der Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Dem wird bei der Anwendung von § 1666 BGB einvernehmlich dadurch Rechnung getragen, dass an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts desto geringere Anforderungen zu stellen sind, je schwerer der drohende Schaden wiegt. Zudem sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen. Diese Folgen müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert.
45
Lässt sich eine erhebliche Gefährdung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen, hängt die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines auf die Trennung des Kindes von den Eltern gerichteten Entzugs des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666 a BGB von der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs in das Elternrecht ab. Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinn verlangt bei diesem Vorgehen keine weitere, eine höhere Sicherheit des Schadenseintritts erfordernde Prognose. Verfassungsrechtlich kommt es darauf an, dass der entsprechende Eingriff sich als geeignet, erforderlich und angemessen erweist (vgl. hierzu die Rechtsprechung zusammenfassend BVerfG Beschluss vom 21.09.2020, FamRZ 2021, 104).
46
Bereits zum früheren Recht, als sich das Recht der elterlichen Sorge noch nach der übereinstimmenden Staatsangehörigkeit von Eltern und Kindern richtete, war anerkannt, dass die Ausübung von übermäßiger körperlicher Züchtigung auch dann Maßnahmen gemäß § 1666 BGB, die mit einer Trennung des Kindes von der Familie verbunden sind, rechtfertige, wenn das Heimatrecht des Kindes das Recht der Eltern zur körperlichen Züchtigung des Kindes umfasst. Auch die Grenzen, die dieses Recht setzt, sind jedenfalls überschritten, wenn die körperliche Züchtigung zu erheblichen Verletzungen des Kindes führt (BayObLG, FamRZ 1993, 229). Im Übrigen ist es nicht zu beanstanden wenn das Gericht die Überzeugung, dass es zu körperlichen Übergriffen seitens der Eltern gekommen ist, auf Aussagen des Kindes stützt (OLG Brandenburg FamRZ 2021, 281).
47
Nach diesen Maßstäben ist hier eine erhebliche Gefährdung des körperlichen und seelischen Wohls der Betroffenen festzustellen.
48
Das körperliche Wohl der Betroffenen wird dadurch gefährdet und beeinträchtigt, dass der Vater sie in der Vergangenheit wiederholt und massiv geschlagen hat.
49
Bereits im Mai 2020 stellte die damalige Erziehungsbeiständin die Betroffene in der ambulanten Aufnahme des Bezirkskrankenhauses L. vor, da diese aufgrund übergriffigen Verhaltens des Vaters dazu neigte, sich selbst zu gefährden und zu verletzen. Aufgrund erneuten übergriffigen Verhaltens wurde im Februar 2021 gegen den Vater eine Gewaltschutzanordnung erlassen und die Wohnung der Mutter mit den Kindern zur alleinigen Nutzung zugewiesen. Der Vater hielt sich hieran aber nicht, sondern kehrte im Mai, spätestens Anfang Juni 2021 mit seiner neuen Lebensgefährtin, die er nach islamischem Recht als zweite Ehefrau geehelicht hatte, in die Wohnung zurück. Hier kam es zu erheblichen Konflikten zwischen der Lebensgefährtin des Vaters und der Mutter, in die die Betroffene involviert wurde. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurde der Vater auch gegenüber der Betroffenen handgreiflich. Diese zog sich erhebliche Prellungen im Bereich der Augen und der Nase zu, die über die Wange bis hin zum Ohr reichten. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Befundbericht der Kinderklinik St. M. verwiesen.
50
Zu einem erneuten Vorfall kam es am 4. Februar 2022. Aufgrund dieses Vorfalls wurde die Betroffene zunächst in der Kinderklinik St. M. vorgestellt, anschließend wurde sie auswärts untergebracht.
51
Zuletzt wurde der Vater gegenüber der Betroffenen am 19.12.2022 übergriffig. Auch bei dieser Gelegenheit wurde die Betroffene erheblich im Gesichtsbereich verletzt. Sie erlitt ein deutlich sichtbares Hämatom im Bereich der linken Wange, das augenscheinlich von einem Schlag mit der Rückseite der linken Hand herrührte, daneben klagte sie über weitere Beschwerden und Verletzungen im Bereich des Schädels und des linken Jochbeins. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Befundbericht des Kinderkrankenhauses St. M. vom 20.12.2022 verwiesen.
52
Bei einem Verbleib der Betroffenen in der Familie sind weitere Verletzungen der Betroffenen zu befürchten. Innerhalb kurzer Abstände ist der Vater der Betroffenen gegenüber massiv übergriffig geworden. Die Mutter war nicht in der Lage, die Betroffene zu schützen. Im Gegenteil machte sie die Betroffene sogar teilweise für die vom Vater zugefügten Verletzungen verantwortlich.
53
Eine weitere Gefährdung für das körperliche Wohl der Betroffenen ergibt sich aus dem selbstverletzenden Verhalten der Betroffenen. Bereits seit 2020 hat diese sich immer wieder im Bereich der Arme und der Beine mit Hilfe einer Rasierklinge oder anderer Schnittwerkzeuge Verletzungen beigebracht. Anlässlich der Krankenhausaufenthalte konnten zum Teil frische Verletzungen festgestellt werden, die auch unter die Haut gingen und dementsprechend wundärztlich zu versorgen waren. Aus dem Gutachten des Bezirkskrankenhauses L. vom 25.10.2022 ergibt sich, dass das Kind vielfache Narben im Bereich der Unterarme, der Unterschenkel und der Oberschenkel beidseits aufweist, die auf entsprechende Verletzungen zurückzuführen sind.
54
Am 08.05.2022 unternahm die Betroffene einen Suizidversuch mit Hilfe von Tabletten. Sie nahm so viele Tabletten ein, dass sie zunächst im Kinderkrankenhaus St. M. intensivmedizinisch behandelt werden musste. Anschließend wurde sie stationär im Bezirkskrankenhaus Landshut weiter behandelt.
55
Das selbstverletzende Verhalten stand in zeitlich engem Zusammenhang mit der familiären Konfliktlage. Ein besonders schwerer Schnitt war festzustellen, nachdem der Vater mit seiner Lebensgefährtin in die Wohnung zurückgekehrt war. Die Betroffene zeigt außerdem eine depressive Symptomatik, die durch die Eltern nicht adäquat behandelt wurde.
56
Es ist nicht auszuschließen, dass sich bei einer Rückkehr der Betroffenen in den elterlichen Haushalt die Symptomatik wiederum verschlechtert. Die Betroffene hat im Rahmen ihrer Anhörung zu erkennen gegeben, dass sie nunmehr zielstrebig ihre Schulausbildung fortsetzen und dann eine Berufsausbildung ergreifen möchte. Schulische Probleme führte die Betroffene darauf zurück, dass sie einerseits in der Familie überfordert gewesen sei, weil ihr in weitem Umfang die Pflege und Beaufsichtigung ihrer Geschwister übertragen worden war. Aufgrund der Konfliktsituation im elterlichen Haushalt habe sie sich nicht auf die Schule konzentrieren können. Einsicht in diese Problematik hätten die Eltern nicht gezeigt.
57
Darüber hinaus hat sich die Betroffene im Rahmen der Inobhutnahme, aber auch später, regelmäßig dem pädagogischen Einfluss durch ihre Eltern entzogen. Zuletzt war sie mehrere Wochen mit unbekanntem Aufenthalt abgängig, u.a. deswegen, weil sie sich der Untersuchung im Bezirkskrankenhaus L. entziehen wollte. Beide Eltern haben erklärt, dass sie sich zu keiner pädagogischen Einflussnahme auf die Betroffene in der Lage sähen. Umgekehrt haben sie aber auch keinerlei Bereitschaft erkennen lassen, Hilfsangebote des Jugendamtes wie sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen, sondern diese abgelehnt mit der Folge, dass das Jugendamt nunmehr beantragt, die Anordnung der Inanspruchnahme dieser Hilfe zur Erziehung aufzuheben.
58
Es besteht weiterhin eine Gefährdung für das seelische Wohl der Betroffenen.
59
Diese leidet unter den erheblichen innerfamiliären Konflikten. Ursprünglich war die Betroffene eine gute Schülerin. Es stellten sich dann aber schulische Misserfolge ein, die die Betroffene auch darauf zurückführt, dass sie an sich von den Eltern wahrzunehmende Aufgaben gegenüber ihren Geschwistern übernehmen musste und sich im Rahmen der innerfamiliären Konflikte nicht mehr auf die Schule konzentrieren konnte.
60
Ein weiteres Konfliktfeld besteht darin, dass die Betroffene zwar islamisch konservativ erzogen ist und an diesen Werten auch festhalten möchte, andererseits aber auch die Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen und an dem Leben Jugendlicher, wie es in Deutschland üblich ist, teilhaben möchte. Die hierdurch begründeten Konflikte mündeten immer wieder in Gewalthandlungen des Vaters gegenüber seiner Tochter.
61
Schließlich ergibt sich auch aus der depressiven Symptomatik, die zu selbstschädigendem und zuletzt auch massiv selbstgefährdendem Verhalten geführt hat, eine erhebliche Gefahr für das seelische Wohl der Betroffenen.
62
Wie bereits ausgeführt, sind die Eltern nicht willens bzw. in der Lage, diese Gefahren für die Betroffene abzuwenden.
63
Der Vater setzt sich mit den Ursachen der Gewalt nicht auseinander. Vielmehr streitet dieser sie ab und bezichtigt die Betroffene, die Unwahrheit zu sagen. Seine diesbezüglichen Aussagen werden aber eindeutig durch die vorgelegten Atteste widerlegt. Eine Perspektive, wie er künftig auf Gewalt in der Erziehung verzichten möchte, hat der Vater nicht entwickelt. Selbst niederschwellige Hilfsangebote, wie die Gewährung von sozialpädagogischer Familienhilfe, lehnt er ab. Für die Probleme der Betroffenen macht er die Helfer verantwortlich und behauptet, diese hätten auf die Betroffene Druck ausgeübt, damit diese ihn entsprechender Gewalttaten bezichtige.
64
Auch die Mutter ist nicht in der Lage, die Gefahr für die Betroffene abzuwenden. Sie ist nicht in der Lage sie zu schützen. In ihrem Beisein ist es zu den erheblichen Verletzungen der Betroffenen gekommen. Nach den Schilderungen der Betroffenen hat der Vater zwar aufgehört zu schlagen, als seine frühere Lebensgefährtin bzw. die Mutter gesagt hätten, er solle damit aufhören. Trotzdem sind die erheblichen Verletzungen entstanden. Im Übrigen ist es auch die Mutter, die die Betroffene teilweise dafür verantwortlich macht, dass es zu entsprechenden Gewalthandlungen gekommen ist, weil sich dieses an die Anordnungen des Vaters nicht gehalten habe. Die Mutter ist auch nicht ansatzweise in der Lage dazu, sich gegen den Vater zu behaupten. Obwohl diesem durch Gewaltschutzanordnung des Amtsgerichts Landshut untersagt war, sich der Wohnung zu nähern und diese aufzusuchen und die Mutter die Zusage gegeben hatte, Kontakte des Vaters zu den Kindern zu unterbinden, hat sie es geduldet, dass dieser mit seiner neuen Lebensgefährtin in die Wohnung wieder einzieht und sie die Rolle als zweite Frau neben ihr einzunehmen hatte. Auch hinsichtlich der Mutter war keinerlei Bereitschaft erkennbar, ambulante Hilfen zur Erziehung anzunehmen und deren Empfehlungen umzusetzen. Insoweit ordnet sie sich ebenfalls den Wünschen des Vaters unter.
65
Das Gutachten steht diesem Befund nicht entgegen. Die Gutachterin S. stellte hinsichtlich beider Eltern Beeinträchtigungen hinsichtlich der Erziehungskompetenz fest. Sie führt aus:
„Es ergaben sich jedoch Hinweise auf geringfügige Einschränkungen der Erziehungskompetenz bei der Mutter in den Bereichen Erkennen und Fördern von F. Bedürfnissen. Herr S. Erziehungskompetenz ist ebenfalls eingeschränkt im Bereich der Erziehungsmethoden. Herr S. ist überbehütend und stark kontrollierend und schränkt F. damit stark in ihrer Autonomieentwicklung ein. Herr S. fehlen zudem funktionale Strategien, um in Konfliktsituationen adäquat mit F. umzugehen und die Situation zu lösen. „Hieraus zieht sie folgenden Schluss:
„Bei der ältesten Tochter F. besteht keine akute Gefährdung, jedoch ist nicht auszuschließen, dass F. Entwicklung beim Verbleib im elterlichen Haushalt ohne geeignete Hilfemaßnahme gefährdet ist.
Es wird daher empfohlen, die Maßnahme des Erziehungsbeistandes fortzuführen und zudem erneut eine Familienhilfe für die Eltern zu installieren um vor allem mit Herrn S. alternative Handlungsstrategien in Konfliktsituationen und adäquate Erziehungsmethoden zu entwickeln.“
66
Dieser Empfehlung ist der Vater nicht gefolgt. Insbesondere hat er sich der Unterstützung einer sozialpädagogischen Familienhilfe widersetzt. Das Ergebnis war, dass die Betroffene dem pädagogischen Einfluss der Eltern entglitten ist, sich fast mit Hilfe von Tabletten vergiftet hätte, nicht zu bewegen war, sich zur Untersuchung im Bezirkskrankenhaus Landshut vorzustellen, sondern stattdessen für mehrere Wochen abgängig war und im Ergebnis sich der Vater auch nicht anders zu helfen wusste als das Kind im Dezember 2022 erneut und massiv zu schlagen und dadurch zu verletzen.
67
Der Entzug der Teilbereiche der elterlichen Sorge und die Übertragung auf Frau E. als Ergänzungspfleger sind geeignet und verhältnismäßig. Bereits im Herbst 2022 hatte die Betroffene ihre Schulausbildung wieder aufgenommen und absolviert sie seitdem mit Erfolg.
68
Ein erneuter Abbruch aufgrund der Eskalation im Dezember 2022 konnte dadurch vermieden werden, dass Frau E. und Frau S. die Betroffene in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht haben. Die Betroffene hat großes Vertrauen zu Frau E., Frau S. und zu ihrer Pflegemutter und kann unter diesen Bedingungen ihre Ausbildung gut fortsetzen. Die Betroffene nimmt die Empfehlungen von Frau E. und Frau S. an. Frische selbst zugefügte Verletzungen konnten seitdem nicht mehr beobachtet werden.
69
Der Teilsorgeentzug ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn.
70
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Beeinträchtigungen, die für das Kind durch eine Trennung von seinen Eltern entstehen in Beziehung zu setzen zu den Gefahren, die bei einem Verbleib in der Herkunftsfamilie drohen. Beeinträchtigungen für die Betroffene durch die Aufnahme in die Bereitschaftspflegefamilie und die geplante Aufnahme in eine Jugendwohngruppe sind nicht zu erwarten. Vielmehr entspricht dies dem Willen der Betroffenen. Unter diesen Bedingungen hat sich die Gesamtsituation der Betroffenen verbessert, so dass sie sich wohl fühlt, keine depressiven Symptome mehr festzustellen sind und die Ausbildung zielstrebig und erfolgreich absolviert wird.
71
Die Erstreckung des Entzugs der elterlichen Sorge auf die Teilbereiche Schule, Ausbildung, Behördenangelegenheiten und Vermögenssorge ist erforderlich. Es entspricht der Entwicklung der Betroffenen, dass diese über eigenes Taschengeld verfügen möchte. Hinzukommt, dass sie in absehbarer Zeit auch eigene Einnahmen aus Praktikum oder Ausbildung erzielen wird. Derzeit ist das Vertrauensverhältnis zwischen der Betroffenen und ihren Eltern massiv belastet. Es ist daher erforderlich, dass die Betroffene durch den Ergänzungspfleger bei den Maßnahmen unterstützt wird, die in diesem Zusammenhang erforderlich werden wie der Einrichtung eines Taschengeldkontos.
72
Die Erstreckung auf schulische Angelegenheiten und Ausbildungsangelegenheiten ist erforderlich, damit die wichtigen Entscheidungen für die Betroffene im Zusammenhang mit Schule und Ausbildungsplatz getroffen werden können. Schließlich ist auch die Erstreckung auf Behördenangelegenheiten erforderlich, damit für die Betroffene die Hilfen in Anspruch genommen werden können, die sie im Zusammenhang mit der Bereitschaftspflege, dem Umzug in eine Wohngruppe und der Beantragung sonstiger Leistungen wie BAFöG benötigt.
73
Die Anordnung eines Kontaktverbots stützt sich auf § 1666 Abs. 3 Nr. 4 BGB. Die Betroffene hat im Rahmen der Anhörung zu erkennen gegeben, dass sie es zwar als erforderlich ansieht, nunmehr außerhalb des Elternhauses aufzuwachsen. Auf der anderen Seite äußerte sie auch, wie schnell sie schwach wird, wenn sie von ihren Eltern auf ihren weiteren Verbleib angesprochen wird. Es ist nicht auszuschließen, dass der Vater wiederum aggressiv werden könnte, wenn die Betroffene seine Ansichten nicht teilen sollte, aber auch deren Schwäche auszunützen versuchen könnte, um sie zu einer Rückkehr in den elterlichen Haushalt zu bewegen. Um die weitere Entwicklung der Betroffenen nicht zu gefährden und diese vor künftigen Aggressionen zu schützen, ist es daher notwendig, die Kontaktanbahnung durch den Vater davon abhängig zu machen, dass der Ergänzungspfleger vorher zustimmt. Hierdurch ist gewährleistet, dass insbesondere die Betroffene nicht überrascht wird, sondern sich auf den Kontakt vorbereiten kann – genauso wie sie es kann, wenn sie aus eigenem Wunsch die Familie ihrer Eltern aufsucht. Von der Anordnung eines weitergehenden Kontaktverbots hat der Senat abgesehen. Zwar wäre dieses aufgrund der Gewalthandlungen des Vaters möglich. Ein weitergehendes Kontaktverbot widerspräche aber dem Willen der Betroffenen, die ersichtlich an ihren Eltern und ihrer Familie hängt und einen vollständigen Kontaktabbruch fürchtet.
74
Ziffer 3 des Beschlusses des Amtsgerichts – Familiengericht – L. vom 04.08.2022 war auf Antrag des Jugendamtes aufzuheben. Die Maßnahme verspricht keine Aussicht auf Erfolg, da insbesondere der Vater nicht gewillt ist, dieses Angebot anzunehmen. Im Übrigen ist die pädagogische Unterstützung der Eltern im Bezug auf die Betroffene durch sozialpädagogische Familienhilfe nicht mehr erforderlich, da diese nunmehr außerhalb des Haushalts der Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
75
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
76
Die Festsetzung des Verfahrenswerts beruht auf §§ 40, 45 FamGKG.
77
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung, die auf der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zu den Voraussetzungen für Maßnahmen gemäß §§ 1666, 1666a BGB ergangen ist.