Titel:
Suchtkranker Jugendlicher – Arrest wegen Weisungsverstoßes
Normenkette:
JGG § 10, § 11
Leitsätze:
1. Hat ein Jugendlicher sein Einverständnis zu einer Weisung nach § 10 Abs. 2 JGG gegeben, befolgt er jedoch die Weisung nicht, ist dies der Rücknahme des Einverständnisses gleichzusetzen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Weisung, die in § 10 JGG nicht genannt ist, dürfen die Voraussetzungen explizit normierter Weisungen nicht unterlaufen werden. Folglich ist für eine Abstinenzweisung mit Urinkontrolle wenigstens die Zustimmung des Erziehungsberechtigten erforderlich, bei deren Fehlen die Weisung unzulässig ist. (Rn. 14 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine arrestbewährte Abstinenzweisung gegenüber einem schwer Suchtkranken, die dieser aufgrund seiner Sucht nicht einzuhalten imstande ist, kann nicht verhältnismäßig sein. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Weisung, eine bestimmte Anzahl von Urinkontrollen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu erbringen, verstößt gegen das Erfordernis der Bestimmtheit, wenn sie weder die Stelle, bei der die Kontrollen durchzuführen ist, noch den Beginn der Frist bezeichnet. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Verhängung von Jugendarrest wegen Weisungsverstoß nach § 11 Abs. 3 JGG bedarf der Ermessensausübung, die sich an § 2 Abs. 1 JGG zu orientieren hat. (Rn. 22 und 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Jugendstrafrecht, Suchtkranker, Weisung, Weisungsbestimmtheit, Zustimmung, Verhältnismäßigkeit, Ungehorsamsarrest, Ermessensausübung
Vorinstanz:
AG Miesbach, Beschluss vom 02.10.2023 – 6 3 VRJs 44/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33353
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Miesbach vom 02.10.2023 wird dieser aufgehoben.
2. Die Weisung an den Beschwerdeführer aus dem Urteil des AG Miesbach vom 26.04.2023, sich des Konsums illegaler Drogen zu enthalten und dies durch Drogenscreenings nachzuweisen, wird aufgehoben.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
1
Mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendrichter – Miesbach vom 26.04.2013 wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln angewiesen, 16 Stunden soziale Dienste abzuleisten, an drei Beratungsgesprächen zur Suchtberatung teilzunehmen sowie sich des Konsums illegaler Drogen zu enthalten und dies durch Vorlage von bis zu drei Drogenscreenings binnen eines Jahres nach Aufforderung des Gerichts nachzuweisen.
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Die Verhängung der Abstinenzweisung sowie des Abstinenznachweises begründet das Amtsgericht ausschließlich damit, dass die Weisung „ausreichend aber auch erforderlich [sei], um die Angeklagten (sic!) dazu zu bringen, zukünftig keinerlei Straftaten mehr zu begehen.“
3
Die Erfüllung der Arbeitsweisung wies der Beschwerdeführer am 05.06.2023 nach. Die Erfüllung der Beratungsweisung wies er am 22.06.2023 nach. Mit Eingang vom 11.08.2023 reichte er das Ergebnis eines Drogenscreenings ein, welches ein positives Ergebnis für Cannabinoide aufwies. Am 13.09.2023 wurde der Beschwerdeführer vom Jugendrichter angehört. Ausweislich des „Protokolls“ der Anhörung gab er an, etwas gegen seinen Cannabiskonsum tun zu wollen.
4
Mit dem Beschluss vom 02.10.2023, dem Verurteilten zugestellt am 10.10.2023, hat das Amtsgericht Miesbach wegen schuldhafter Nichterfüllung einer gerichtlichen Auflage bzw. Weisung Ungehorsamsarrest in Höhe von 1 Freizeitarrest gemäß §§ 11 Abs. 3, 15 Abs. 3 JGG verhängt. Der Beschluss wurde damit „begründet“, dass dem Beschwerdeführer mit Urteil des Amtsgerichts aufgegeben wurde, sich des Konsums illegaler Drogen zu enthalten und dies dem Gericht durch Screenings nachzuweisen. Gleichwohl sei das vorgelegte Screening vom 07.08.2023 positiv im Hinblick auf Cannabinoide.
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Gegen den Beschluss wendet sich der Verurteilte mit Schreiben vom 09.10.2023, eingegangen beim Amtsgericht am 09.10.2023. Die Beschwerde wird insbesondere damit begründet, dass die Verhängung des Ungehorsamsarrests erzieherisch nicht geboten sei. Der Beschwerdeführer setze sich intensive mit seinem Betäubungsmittelkonsum auseinander und nehme freiwillig weitere Termine zur Drogenberatung wahr. Zudem wurde ein negatives Drogenscreening vom 28.09.2023 beigefügt. Mit Schreiben vom 13.10.2023 wurde die Beschwerdebegründung ergänzt. Die Verteidigerin des Beschwerdeführers trägt darin vor, dass es dem Beschwerdeführer nicht so leicht gefallen sei, sich des Konsums von Cannabis zu enthalten, wie er das ursprünglich nach seiner Verurteilung gedacht habe. Dem Schriftsatz waren zwei weitere negative Drogenscreenings beigefügt.
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Der Beschwerde hat das Amtsgericht Miesbach unter Bezugnahme auf die weiter zutreffenden „Gründe“ aus dem Beschluss vom 02.10.2023 nicht abgeholfen.
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Die Staatsanwaltschaft hat beantragt,
die zulässige Beschwerde „aus den zutreffenden Gründen des Beschlusses vom 02.10.2023“ als unbegründet zu verbescheiden.
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Die Beschwerde des Verurteilten ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO.
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Die Verhängung des Ungehorsams Arrest war rechtsfehlerhaft, da die zugrunde liegende Weisung unverhältnismäßig und unbestimmt und somit rechtswidrig war, der Beschluss zudem nicht begründet war und ein Ermessensnichtgebrauch vorlag.
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Ungehorsamsarrest kann unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 JGG verhängt werden. Diese lagen hier nicht vor.
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1. Nach § 11 Abs. 3 S. 1 JGG kann Jugendarrest verhängt werden, wenn der Jugendliche Weisungen schuldhaft nicht nachkommt.
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Die Verhängung von Ungehorsamsarrest setzt zunächst die Zulässigkeit der entsprechenden Weisung voraus. Die Zulässigkeit muss dabei auch im Zeitpunkt der Verhängung des Arrestes bestehen. Daran fehlt es, wenn der Verurteilte allein einer gemäß § 10 Abs. 2 S. 2 mit seiner Zustimmung erteilten Weisung, sich einer heilerzieherischen Behandlung durch einen Sachverständigen oder einer Entziehungskur zu unterziehen, verstoßen hat. Die Nichtbefolgung ist insofern mit der Rücknahme der Zustimmung gleichzusetzen, sodass die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Weisung nachträglich entfällt.
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Weitere Voraussetzung ist, dass der Verurteilte der Weisung schuldhaft, also vorsätzlich oder fahrlässig, nicht nachgekommen ist. Auf das Verschulden sind die allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze anzuwenden. Das schuldhafte Verhalten ist in dem den Arrest anordnenden Beschluss konkret festzustellen (BeckOK JGG/Gertler, 31. Ed. 1.11.2023, JGG § 11 Rn. 20-23).
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2. Die dem Arrest zugrunde gelegte Abstinenzweisung mit Urinkontrollen hätte nur unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 JGG verhängt werden dürfen. Denn inhaltlich handelt es sich um eine Weisung, die suchttherapeutischen Charakter hat.
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Nach § 10 Abs. 2 JGG kann dem Jugendlichen nur mit Zustimmung des Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters auferlegt werden, sich einer Entziehungskur zu unterziehen. Ferner ist anerkannt, dass bei einer sog. allgemeinen Weisung, die weder im Katalog nach § 10 Abs. 1 JGG noch in Abs. 2 konkret aufgeführt ist, die jeweiligen Voraussetzungen explizit normierter Weisungen nicht unterlaufen werden dürfen. So war es auch hier. Mit Entziehungskur im Sinne der Vorschrift sind nicht nur stationäre, sondern auch ambulante Angebote gemeint, vgl. Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 10 Rn. 55. Die Abstinenzweisung und die Kontrollweisung haben sowohl das gleiche Ziel, als auch die gleiche Eingriffsintensität wie eine (ambulante) Entziehungskur im Sinne von § 10 Abs. 2 JGG. Die Abstinenz ist das Ziel jeder Entziehungskur und deren Kontrolle ist ein Teil vieler stationärer und ambulanter Therapiekonzepte beim Substanzmissbrauch.
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Folglich ist sowohl für die Abstinenzweisung (dazu ebenso Hofener, NStZ 1997, 172, 173) als auch die Weisung zur Abgabe von Urinproben zur Abstinenzkontrolle die Zustimmung des Erziehungsberechtigten sowie das Einverständnis des über 16-jährigen Jugendlichen zu verlangen. Die auf die Behandlung der Sucht gerichtete Abstinenzweisung und der Abstinenznachweis durch Urinkontrollen dürfen nicht als allgemeine Weisung unter Umgehung von Abs. 2 verhängt werden.
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Ohne die Zustimmungserklärung, von deren Fehlen hier mangels anderer Anhaltspunkte auszugehen ist, war die Weisung unzulässig und daher gesetzwidrig.
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3. Neben der zwingenden Einholung der Zustimmung der Erziehungsberechtigten bzw. dem Einverständnis des Jugendlichen sind für die Rechtmäßigkeit und insbesondere Verhältnismäßigkeit der Verhängung einer Abstinenzweisung der Umfang des Substanzmittelmissbrauchs und die Fähigkeit des Jugendlichen zur Abstinenz zumindest soweit festzustellen, wie dies im Rahmen eines jugendrichterlichen Massenverfahrens erwartbar ist.
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Eine arrestbewährte Abstinenzweisung gegenüber einem schwer Suchtkranken, die dieser aufgrund seiner Sucht nicht einzuhalten im Stande ist, kann nicht verhältnismäßig sein. Deswegen ist festzustellen, wie lange und in welchem Umfang der Jugendliche Betäubungsmittel konsumiert und inwiefern Anzeichen für Abhängigkeit erkennbar sind. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass es im Rahmen derartiger Massenverfahren verfehlt wäre, in jedem Fall einen Sachverständigen zu beteiligen. Doch ist zumindest durch Befragen des Jugendlichen, der Beteiligung der JGH und der Verlesung etwaiger Akten, die Betäubungsmittelkonsum belegen, eine gewisse Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Insbesondere auch der Umstand, dass der Jugendliche bereits wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln auffällig geworden war, ließ es möglich erscheinen, dass hier ein gewisser Grad der Abhängigkeit vorlag. Hier ergibt sich demgegenüber kein Hinweis auf Feststellungen in diese Richtung.
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4. Die Weisung war zudem unbestimmt.
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Es fehlte die Angabe derjenigen Stelle, bei welcher die Urinkontrolle durchzuführen ist, vgl. dazu OLG Frankfurt a. M. Beschluss vom 11.9.2023 – 7 Ws 168/23. Diese wurde weder im Urteil noch in der von der Rechtspflegerin am 02.08.2023 versandten Aufforderung zur Abgabe der Urinkontrolle (Bl. 8 des VH) benannt. Weiter ist die Bezeichnung „binnen eines Jahres“ unbestimmt, weil der Beginn der Frist nicht bezeichnet ist.
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5. Im Übrigen war der Beschluss auch aufzuheben, weil das notwendige Ermessen gem. § 11 Abs. 3 JGG nicht ausgeübt wurde. Das Amtsgericht hat den ihm zustehenden Ermessensspielraum offensichtlich vollständig verkannnt: Es lag ein Ermessensausfall bzw. Ermessensnichtgebrauch vor.
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Denn auch bei Vorliegen der Voraussetzungen müsste der Jugendarrest nach Abs. 3 nicht angeordnet werden (“kann“). Die hier stattdessen vorzunehmende Ermessensentscheidung ist an § 2 Abs. 1 zu orientieren. Dabei müssen die Unzuträglichkeiten und Nachteile bedacht werden, die beim Jugendarrest generell sowie speziell beim Nichtbefolgungsarrest bestehen (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 11 Rn. 19).
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Daran fehlte es. Das Amtsgericht hat die Anordnung des Arrestes einzig mit dem Verstoß gegen die Abstinenzweisung (zu deren Rechtmäßigkeit s.o.) begründet, als wäre die Anordnung des Arrestes damit zwingend.
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6. Die Kammer hat zudem eine eigene Entscheidung nach § 11 Abs. 2 JGG getroffen und die Weisungen bewusst nicht geändert, sondern aufgehoben. Die Anordnung der Abstinenz und deren Kontrolle waren zwar möglicherweise zum Zeitpunkt des Urteils erzieherisch geboten, hierzu fehlten jedoch die Feststellungen. Ausgehend von den mittlerweile erfolgten Urinkontrollen und der freiwilligen Teilnahme an weiteren Beratungsgesprächen erscheint aktuell jedenfalls eine Weisung in diese Richtung entbehrlich
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7. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.