Titel:
Erfolgreiches Eilverfahren gegen Abschiebung in die Türkei
Normenketten:
VwGO § 52, § 123 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 S. 2, § 71 Abs. 4, Abs. 7 S. 1
VwVfG § 23 Abs. 1, § 51 Abs. 1 Nr. 1-3
GVG § 184
Asylverfahrens-RL Art. 40 Abs. 2
Anerkennungs-RL Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Der Erlass eines negativen Asylbescheides ohne vorherige Stellungnahmemöglichkeit des Antragstellers verletzt dessen Verfahrensrechte. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes unterscheidet im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem ersten Antrag auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die pauschale Zurückweisung von Dokumenten, weil diese lediglich in Kopie vorgelegt und nicht übersetzt wurden, verstößt gegen die aus Art. 3 EMRK folgenden Verfahrensgarantien, woraus die Verpflichtung des Bundesamts folgt, die Relevanz der Dokumente für das Wiederaufgreifen des Verfahrens unter Einbeziehung aller Informationen zur individuellen Situation des Antragstellers und der generellen Verhältnisse im Herkunftsland sorgfältig zu würdigen. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylfolgeantrag, Herkunftsland Türkei, Einstweiliger Rechtsschutz (erfolgreich), Asylverfahren, unzulässiger Asylfolgeantrag, Einstweiliger Rechtsschutz, örtliche Gerichtszuständigkeit, Abschiebehaft, Abschiebung, Wohnsitznahmeverpflichtung, Wiederaufnahme des Asylverfahrens, Anhörung, Beweismittel, Strafurteil, Haftbefehl, Zurückweisung von Dokumenten, Gerichtssprache, Übersetzung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33279
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die Abschiebung des Antragstellers bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorläufig nicht vollzogen werden darf.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
1
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen eine auf Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gestützte Abschiebung in die Türkei.
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Von 2016 bis 2018 durchlief der Antragsteller ein Asylverfahren im Bundesgebiet (Az. …). Der Asylantrag vom 28. Juni 2016 wurde im Wesentlichen damit begründet, dass ihm seitens der türkischen Sicherheitsbehörden unterstellt worden sei, die Partei YPS unterstützt zu haben und er darüber hinaus keinen Militärdienst leisten wolle, weil er dann gezwungen sei, auf Kurden zu schießen. Mit Bescheid vom 18. Juni 2018 entschied das Bundesamt, dass dem Antragsteller weder die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt noch Asyl oder subsidiärer Schutz gewährt werde und dass keine Abschiebungsverbote vorlägen. Weiter wurde dem Antragsteller die Abschiebung angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung verhängt. Die gegen diesen Bescheid am 4. Juli 2018 erhobene Klage wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 30. August 2019 (M 1 K 18.32651) rechtskräftig abgewiesen. In der mündlichen Verhandlung am 27. August 2019 gab der Antragsteller an, die Partei HDP bei Protestaktionen unterstützt zu haben. Hiervon gebe es auf seinem Facebook-Account auch Fotos. Dort würde er sich auch politisch zur Situation der Kurden äußern. Das Gericht war hingegen weder von einer Gruppenverfolgung – aufgrund der kurdischen Volkszugehörigkeit – noch von einer individuellen Verfolgung des Klägers überzeugt. Letzteres vor allem deshalb, weil gegen den Antragsteller mit Blick auf seine vermeintliche Unterstützung der YPS kein Haftbefehl erlassen wurde und er trotz polizeilicher Kontrollen mittels Flugzeug aus der Türkei ausgereist war. Auch sei kein Anhaltspunkt dafür gegeben gewesen, dass der Kläger gezielt Gegenstand staatlicher Repressalien wegen seiner Sympathie für die HDP gewesen wäre. Auch durch die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei werde der Antragsteller nicht asylerheblich berührt.
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Mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 18. Februar 2021 wurde der Antragsteller ab dem 4. März 2021 dem Landkreis Landsberg am Lech zugewiesen und die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der …str. 131, … … ausgesprochen.
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Am 15. Juni 2021 wurde der Antragsteller in die Türkei abgeschoben.
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Am 26. September 2023 reiste der Antragsteller erneut in das Bundesgebiet ein und wurde von der Bundespolizeidirektion Pirna, Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf (Bundespolizei) noch am selben Tag in Görlitz aufgegriffen. Gegenüber der Bundespolizei gab der Antragsteller bei seiner Befragung an, die Türkei vor einer Woche verlassen und über Serbien bzw. Ungarn in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Weiter gab er an, in der Türkei als Kurde unterdrückt zu werden und dass politische Akten über ihn geführt würden, sodass er nicht in die Türkei zurückkehren könne.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 27. September 2023 (Az. 472 XIV 718/23 B) wurde gegen den Antragsteller Abschiebehaft in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige Büren angeordnet. Gegen den Beschluss legte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 29. September 2023 Beschwerde ein, über die bislang noch nicht entschieden wurde.
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Am 29. September 2023 beantragte der Antragsteller beim Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten. Zur Begründung wurde die Kopie eines Urteils des Strafgerichts Antalya vom 18. Oktober 2021 (Az. …) mit dem Hinweis vorgelegt, dass es sich um „Strafurteile [sic!] wegen politischer Tätigkeit“ handele und weiterer Vortrag im Rahmen der informatorischen Anhörung angekündigt.
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Mit Schreiben des Bundesamtes vom 10. Oktober 2023 wurde der Antragsteller zur erkennungsdienstlichen Behandlung am 11. Oktober 2023 geladen. Daraufhin teilte der Bevollmächtigte nach seinen Angaben noch am selben Tag dem Bundesamt telefonisch mit, dass er an einem etwaigen Anhörungstermin teilnehmen wolle. Mit Telefax vom 11. Oktober 2023 teilte der Bevollmächtigte dem Bundesamt erneut mit, dass er um Absprache eines Anhörungstermins bitte.
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Mit Bescheid vom 11. Oktober 2023 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens als unzulässig ab (Ziff. 1.). Weiter wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 18. Juni 2018 bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten abgelehnt (Ziff. 2.). Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antrag nicht ausreichend begründet worden sei. So sei bereits unklar, ob gegen den Antragsteller eines oder mehrere Urteile ergangen seien. Insbesondere aber seien die Umstände und Hintergründe sowie die Konsequenzen der angeblichen Verurteilung nicht substantiiert worden. So sei bereits nicht vorgetragen worden, inwieweit der Antragsteller politisch aktiv geworden sei. Zudem habe der Antragsteller nach seiner Verurteilung am 18. Oktober 2021 bis zu seiner Ausreise im September 2023 lange Zeit unbehelligt in der Türkei leben können, sodass nicht schlüssig sei, dass ihm nun bei Rückkehr Verfolgung drohe. Auch handele es sich bei dem lediglich als Kopie in türkischer Sprache vorgelegten Dokument nicht um ein geeignetes neues Beweismittel. Von einer informatorischen Anhörung des Antragstellers zu seinem Antrag habe das Bundesamt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles absehen können.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 13. Oktober 2023 beim Verwaltungsgericht München Klage (M 28 K 23.32190) und suchte um einstweiligen Rechtsschutz nach.
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Dem Antragsteller drohe ein Schaden, da er jederzeit in die Türkei abgeschoben werden könne. In der Türkei würden politische Strafverfahren gegen ihn geführt und er habe bei seiner Rückkehr in die Türkei mit Haft zu rechnen. Der Antragsteller habe der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass eine ausführliche Begründung im Rahmen der informatorischen Anhörung erfolgen werde. Der Bevollmächtigte des Antragstellers habe die Antragsgegnerin in einem Telefonat am 11. Oktober 2023 explizit um Absprache eines Anhörungstermins gebeten. Dennoch habe die Antragsgegnerin ohne weitere Ankündigung den streitgegenständlichen Bescheid erlassen und damit das Recht des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzt. Bei dem vorgelegten Urteil des Strafgerichts Antalya handele es sich um ein neues Beweismittel, welches vom Bundesamt nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Der Bevollmächtigte des Antragstellers versicherte zudem unter Rückgriff auf seine Türkischkenntnisse, dass sich aus dem Schriftstück ergebe, dass der Antragsteller wegen Beleidigung des Staatspräsidenten zu einer Freiheitsstrafte von elf Monaten und zwei Tagen verurteilt worden sei. Gegen das Strafurteil sei durch den Antragsteller Berufung eingelegt worden. Darüber hinaus sei gegen den Antragsteller ein weiteres Strafverfahren wegen Terrorpropaganda auf den sozialen Medien anhängig, weil er auf seinem Facebook-Account verschiedene politische Inhalte geteilt habe. In diesem Verfahren sei der Antragsteller am 24. Dezember 2021 durch das Strafgericht Antalya zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten und 22 Tagen verurteilt worden, weil der Antragsteller über seinen Facebook-Account Inhalte über PKK-KCK/ YPD/ PYD/ YPJ geteilt und sich so der Propaganda für eine Terrororganisation strafbar gemacht habe.
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Der Antragsteller beantragt,
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der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO zu untersagen, den Antragsteller vor dem rechtskräftigen Abschluss der beim Verwaltungsgericht München eingereichten Klage, den Antragsteller in die Türkei abzuschieben hilfsweise
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die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, die Mitteilung an die zuständige Ausländerbehörde, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens zurückzunehmen oder außer Vollzug zu setzen.
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Die Antragsgegnerin äußerte sich bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung inhaltlich nicht und beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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1. Das Verwaltungsgericht München ist für die Entscheidung über den Eilantrag örtlich nach § 122, § 80 Abs. 5, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO zuständig.
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Danach ist in asylrechtlichen Streitigkeiten das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat. Während des Asylfolgeantragsverfahrens gilt gemäß § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylG zunächst die letzte räumliche Beschränkung fort, solange keine andere Entscheidung ergeht.
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Mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 18. Februar 2021 wurde der Antragsteller zuletzt ab dem 4. März 2021 dem Landkreis Landsberg am Lech im Regierungsbezirk Oberbayern zugewiesen und die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der …str. 131, … … ausgesprochen, sodass das Verwaltungsgericht München zuständig ist, Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung. Diese Zuweisungsentscheidung findet ihre asylrechtliche Grundlage in Art. 1, 3 und 5 AufnG, § 1 AsylbLG, §§ 7, 9, 11 DVAsyl, §§ 50, 51 AsylG und ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) auch noch nicht nach § 71 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 59a AsylG erloschen, weil sich der Antragsteller nach seiner Wiedereinreise noch keine drei Monate im Bundesgebiet aufhält.
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Eine andere Entscheidung zur räumlichen Beschränkung des Antragstellers ist bislang – soweit ersichtlich – nicht ergangen. Insbesondere handelt es sich bei dem Haftbeschluss des Amtsgerichts Dresden vom 27. September 2023 (Az. 472 XIV 718/23 B) nicht um eine „andere Entscheidung“ i.S.d. § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylG. Allein die Anordnung von Abschiebehaft stellt noch keine zuständigkeitsrelevante Entscheidung dar (VG München, B.v. 21.5.2019 – M 18 E 19.31901; VG Karlsruhe, B.v. 16.7.2018 – A 4 K 6435/18; VG Berlin, B.v. 11.8.1994 – 33 X 953.94 – jeweils juris). Unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen ratio des § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO, eine Konzentration asylrechtlicher Streitigkeiten bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu verhindern (vgl. hierzu ausführlich VG Frankfurt (Oder), B.v. 26.10.2022 – VG 6 K 178/20.A – juris Rn. 6), können andere Entscheidungen i.S.d. § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylG nur Behörden treffen, die für die Durchführung des Asylgesetzes sachlich zuständig sind (VG Darmstadt, B.v. 19.8.2021 – 7 K 1566/21.DA.A – juris Rn. 9). Es kommt daher in der Regel für die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht darauf an, wo der Asylsuchende sich tatsächlich aufhält, sondern allein darauf, wo er sich aufzuhalten hat (BVerwG, B.v. 28.7.1997 – 9 AV 3/97 – juris).
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Auch eine analoge Anwendung des § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO für Fälle, in denen der Asylfolgeantragsteller inhaftiert ist (BayVGH, B.v. 18.1.2001 – 21 S 00.32364 – juris Rn. 8 f.), scheidet hier aus, da es insoweit an einer Regelungslücke fehlt (so auch VG Frankfurt (Oder), B.v. 26.10.2022 – VG 6 K 178/20.A – juris Rn. 5). Zudem stützte sich die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Januar 2001 – 21 S 00.32364 – (juris) wesentlich auf die zwischenzeitlich ersatzlos gestrichene Vorschrift des § 56 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG, wonach in Haftfällen die Aufenthaltsgestattung räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt wurde, in dem sich der Ausländer aufhielt (VG Karlsruhe, B.v. 20.12.2019 – A 19 K 10472/18 – juris Rn. 13).
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Ferner kommt es auch nicht darauf an, ob die Haftentscheidung die asylrechtliche Wohnsitznahmeverpflichtung „vorübergehend außer Kraft“ setzt (so aber VG Frankfurt (Oder), B.v. 26.10.2022 – VG 6 K 178/20.A – juris Rn. 16), denn für die Zuständigkeitsbestimmung genügt die abstrakte Anknüpfung an die asylrechtliche Zuweisungsentscheidung (so im Ergebnis auch VG Darmstadt B.v. 19.8.2021 – 7 K 1566/21.DA.A – juris Rn. 8).
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2. Der zulässige Antrag ist begründet.
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2.1 Die Frage nach der statthaften Antragsart in Fällen, in denen das Bundesamt einen Asylfolgeantrag als unzulässig ablehnt ohne die Abschiebung (erneut) anzudrohen, kann vorliegend offenbleiben, weil wesentliche Vor- oder Nachteile weder mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO noch mit einem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO verbunden sind und in beiden Fällen ein identischer Prüfungsmaßstab anzulegen ist (vgl. Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.7.2023, § 71 AsylG Rn. 38 m.w.N.).
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2.2 Maßgeblich ist insoweit, ob im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (vgl. § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Ernstliche Zweifel in diesem Sinn liegen nur vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die angefochtene Entscheidung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99).
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Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung bestehen derartige ernstliche Zweifel an der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziff. 1 (a) des Bescheides des Bundesamts vom 11. Oktober 2023. In der Folge hält auch die Feststellung in Ziff. 2 des Bescheides, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen, einer rechtlichen Überprüfung voraussichtlich nicht stand (b).
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a) Die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71 AsylG. Gemäß § 71 Abs. 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Erst, wenn in einem ersten Prüfungsschritt diese Voraussetzungen als gegeben erachtet werden, werden in einem zweiten Prüfungsschritt die geltend gemachten asylgerichtlichen Streitgegenstände geprüft.
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Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müssen sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Klägers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 ZPO bestehen (Nr. 3). § 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vorneherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zum begehrten Schutz zu verhelfen. Es genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe bzw. die Geeignetheit der neuen Umstände, sich möglicherweise zu Gunsten des Betroffenen auszuwirken (vgl. BVerfG, B.v. 3.3.2000 – 2 BvR 39/98 – juris Rn. 32 m.w.N.).
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Bei seiner Vernehmung durch die Bundespolizei am 26. September 2023 gab der Antragsteller bereits an, dass in der Türkei politische Akten zu seiner Person geführt würden. Weiter legte er zur Begründung seines Asylfolgeantrags dem Bundesamt über seinen Bevollmächtigten am 29. September 2022 die Kopie eines Urteils des Strafgerichts Antalya (Az. 2020/465) vor und gab an, dass es sich hierbei um eine Verurteilung wegen politischer Tätigkeit handele. Eine ausführliche Begründung sollte nach Auskunft des Bevollmächtigten des Antragstellers in einem noch anzuberaumenden informatorischen Anhörungstermin erfolgen. Hierauf wies der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 11. Oktober 2023 sowie telefonisch ausdrücklich hin. Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens legte der Bevollmächtigte darüber hinaus ein weiteres Strafurteil des Gerichts in Antalya vor, nach dem der Antragsteller am 24. Dezember 2021 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten und 22 Tagen verurteilt wurde, weil der Antragsteller über seinen Facebook-Account Inhalte über PKK-KCK/ YPD/ PYD/ YPJ geteilt und sich so der Propaganda für eine Terrororganisation strafbar gemacht habe. Übersetzungen wurden für die Strafurteile nicht vorgelegt. Der Bevollmächtigte versicherte deren Inhalt jedoch anwaltlich.
31
Vor diesem Hintergrund vermag keines der seitens des Bundesamtes angeführten Argumente gegen die Wiederaufnahme des Asylverfahrens zu überzeugen. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes verletzt der Erlass des streitgegenständlichen Bescheides ohne vorherige Stellungnahmemöglichkeit des Antragstellers dessen Verfahrensrechte (aa). Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 2 VwVfG vor. Der Vortrag des Antragstellers erscheint hinreichend schlüssig (bb) und durch geeignete Beweismittel substantiiert (cc). Da der Antragsteller auch ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen, und die Ausschlussfrist des § 51 Abs. 3 AsylG nicht zur Anwendung kommt (dd), ist der Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet jedenfalls bis zur Entscheidung über die Hauptsache anzuordnen.
32
aa) So ist zunächst festzustellen, dass die Entscheidung des Bundesamtes die Verfahrensrechte des Antragstellers verletzt.
33
Zwar hat der Asylfolgeantragsteller bereits in seinem Antrag die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ergibt und das Bundesamt kann von einer Anhörung nach § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG absehen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Bevollmächtigte eine weitere Begründung angekündigt hat, die sich ausweislich des vorgelegten Strafurteils auch auf Umstände bezog, die erst nach der Abschiebung des Antragstellers eingetreten sind, hätte das Bundesamt dem Antragsteller gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG zumindest Gelegenheit geben müssen, zu den wesentlichen Zulässigkeitsaspekten – hier v.a. die aus Sicht des Bundesamtes fehlende Übersetzung sowie Angaben zur Herkunft des Dokumentes, des zugrundeliegenden Sachverhalts, der Konsequenzen usw. – Stellung zu nehmen (Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.7.2023, § 71 AsylG Rn. 11). Ganz im Gegenteil stützt das Bundesamt seine Entscheidung jedoch ganz wesentlich auf Informationsdefizite, die es selbst durch die Verkürzung der Verfahrensrechte des Antragstellers herbeigeführt hat.
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bb) Der Vortrag des Antragstellers ist auch hinreichend schlüssig.
35
In seinem Asylerstverfahren berief sich der Antragsteller bereits darauf, in der Türkei politisch verfolgt zu werden, da ihm die Unterstützung oppositioneller Parteien unterstellt würde. Die gerichtlich bestätigte Ablehnung seines Asylantrags war insbesondere auch darauf gestützt, dass er seine Verfolgung nicht hinreichend glaubhaft machen konnte, z.B. durch Vorlage entsprechender Haftbefehle (VG München, U.v. 30. August 2019 – M 1 K 18.32651 – n.v.). Dass der Antragsteller nunmehr daran festhält in der Türkei verfolgt zu sein und zusätzlich eben jene Dokumente vorlegt, deren Fehlen im Erstverfahren ausschlaggebend war und die erst nach seiner Abschiebung verfügbar wurden, ist nicht nur schlüssig, sondern erscheint auch als geeigneter Grund das Asylverfahren wiederaufzunehmen. Dem steht es nicht entgegen, dass der Bevollmächtigte im Schriftsatz vom 29. September 2023 auf mehrere „Strafurteile“ verwies, dann allerdings nur eine Urteilskopie vorlegte. Hieraus – wie das Bundesamt – Zweifel an der Schlüssigkeit des Vortrags herleiten zu wollen, ist schlechterdings unvertretbar. Denn auch das zuerst vorgelegte Urteil vom 18. Oktober 2021 allein hätte das Bundesamt zumindest veranlassen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen. Ob es sich bei den abgeurteilten Sachverhalten um eine nachträgliche Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG handelt oder die vorgelegten Urteile vielmehr als neue Beweise für die im ersten Asylverfahren vorgetragene Verfolgung dienen, § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, kann im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens dahingestellt bleiben, da beide Varianten zur Wiederaufnahme des Asylverfahrens führen würden. Die insoweit bestehende Unsicherheit führt entgegen der Auffassung des Bundesamtes nicht zur Unschlüssigkeit des Vortrags, sondern es wäre vielmehr am Bundesamt gewesen – im Zweifel durch einfaches Nachfragen – festzustellen, welcher Wiederaufgreifensgrund hier konkret geltend gemacht wird.
36
cc) Schließlich ist auch die Zurückweisung der Urteilskopien durch das Bundesamt als ungeeignet, weil diese lediglich als Kopie und in türkischer Sprache vorgelegt worden seien, rechtswidrig.
37
In fremder Sprache abgefasste Urkunden sind nicht etwa deshalb von vornherein ungeeignet, weil die Verfahrenssprache Deutsch ist (§ 23 Abs. 1 VwVfG, § 184 GVG). Wird eine erforderliche Übersetzung nicht beigebracht, ist die Urkunde unter Umständen von Amts wegen zu übersetzen (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 71 AsylG Rn. 27 f.).
38
Die pauschale Zurückweisung der Dokumente, weil deren Echtheit nicht überprüft werden könne, verstößt zudem gegen höherrangiges Recht.
39
So hat der EuGH entschieden, dass Art. 40 Abs. 2 Richtline 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller nach Maßgabe der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem ersten Antrag auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag unterscheidet, sodass die Beurteilung der Tatsachen und Umstände zur Stützung dieser Anträge in beiden Fällen gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie erfolgen muss (EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-921/19 – juris Rn. 40).
40
Daraus folgt, dass jedes vom Antragsteller zur Stützung seines Antrags auf internationalen Schutz vorgelegte Dokument als Element dieses Antrags anzusehen ist, das gemäß Art. 4 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen ist, und dass infolgedessen die Unmöglichkeit, die Echtheit dieses Dokuments zu bestätigen, oder das Fehlen jedweder objektiv überprüfbarer Quelle für sich genommen den Ausschluss eines solchen Dokuments von der Prüfung, die die Asylbehörde gemäß Art. 31 der Asylverfahrensrichtlinie vornehmen muss, nicht rechtfertigen kann. Was einen Folgeantrag betrifft, kann die fehlende Bestätigung der Echtheit eines Dokuments daher nicht dazu führen, von vornherein die Unzulässigkeit dieses Antrags festzustellen, ohne dass die Frage geprüft wird, ob dieses Dokument eine neue Erkenntnis oder ein neues Element darstellt und ob es gegebenenfalls erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Qualifikationsrichtlinie als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist (EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-921/19 – juris Rn. 44 f.).
41
Die pauschale Zurückweisung von Dokumenten, weil diese lediglich in Kopie vorgelegt und nicht übersetzt wurden, verstößt nach der jüngsten Rechtsprechung des EGMR darüber hinaus auch gegen die aus Art. 3 EMRK folgenden Verfahrensgarantien (EGMR, U.v. 24.10.2023 – 23048/19 – Rn. 77 ff.). Hieraus folgt die Verpflichtung des Bundesamts, die Relevanz der Dokumente für das Wiederaufgreifen des Verfahrens unter Einbeziehung aller Informationen zur individuellen Situation des Antragstellers und der generellen Verhältnisse im Herkunftsland sorgfältig zu würdigen (EGMR, a.a.O.)
42
dd) Da die strafrechtlichen Verurteilungen erst nach Abschiebung des Antragstellers in die Türkei erfolgten, trifft ihn an der verspäteten Geltendmachung kein Verschulden, § 51 Abs. 2 VwVfG. Die Ausschlussfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG findet wegen des unionsrechtlichen Vorrangs von Art. 40 Asylverfahrensrichtlinie keine Anwendung (EuGH, U.v. 9.9.2021 – C-18/20 – juris).
43
3. Da bereits die Unzulässigkeitsentscheidung erheblichen rechtlichen Zweifeln begegnet, stellt sich auch die Feststellung in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids bzgl. des Fehlens von Abschiebungsverboten als voraussichtlich rechtswidrig dar, da sie verfrüht ergangen ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21).
44
Dem (gerichtskostenfreien, § 83b AsylG) Antrag war deshalb stattzugeben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).