Titel:
Existenzminimum, Besteuerung und Kindergeld
Normenketten:
EStG § 66 Abs. 3
VO (EG) Art. 68 Abs. 3, Art. 81
GG Art. 20 Abs. 1
FGO § 115
Leitsatz:
§ 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 ist verfassungsgemäß. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antragstellung, Einkommen, Kindergeldantrag, Familienkasse, Sechsmonatsfrist, Verfahren, Existenzminimum
Rechtsmittelinstanz:
BFH München, Urteil vom 11.07.2024 – III R 34/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33083
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob die Familienkasse zu Recht die Festsetzung von Kindergeld für den Streitzeitraum unter Berufung auf § 66 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) in der damals geltenden Fassung abgelehnt hat.
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Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und Mutter von B (geb. ... 2002) sowie von C. Vom Kindsvater ist die Klägerin seit 29.02.2016 geschieden. Beide Söhne lebten im Streitzeitraum bei der Klägerin in Rumänien. Der Kindsvater lebte ebenfalls in Rumänien. Die Klägerin ist seit längerem in Deutschland – so auch im Klagezeitraum – als Saisonarbeiterin tätig.
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Mit Schreiben vom 01.02.2019 stellte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin für B einen „unbefristeten, formlosen Kindergeldantrag, der sämtliche Anspruchszeiträume bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids umfasst“. Ein deutsches Antragsformular und weitere Unterlagen (Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung 2018 und 2019, Familienstandsbescheinigung) wurden im weiteren Verfahrensgang vorgelegt. Der Antrag wurde dahingehend konkretisiert, dass Kindergeld vom 05.02.2018 bis 07.12.2018 und vom 26.01.2019 bis 14.11.2019 – die Zeiträume der Tätigkeit in Deutschland – begehrt werde.
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Mit Bescheid vom 29.01.2021 lehnte die Familienkasse den Antrag für den Zeitraum Februar 2018 bis Juli 2018 unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 19.02.2020 (III R 66/18) zu § 66 Abs. 3 EStG ab. Für die übrigen Zeiträume wurde Kindergeld unter Anrechnung der rumänischen Leistungen bewilligt.
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Der Einspruch der Klägerin vom 08.02.2021 gegen den Ablehnungsbescheid wurde mit Einspruchsentscheidung vom 26.03.2021, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, als unbegründet zurückgewiesen. Die Kindergeldfestsetzung sei für den Zeitraum von Februar 2018 bis Juli 2018 zu Recht abgelehnt worden, nachdem vom BFH klargestellt worden sei, dass § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. vom 23.06.2017 das Festsetzungsverfahren betreffe und die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung begrenze. Da der Kindergeldantrag erst am 05.02.2019 bei der Familienkasse eingegangen sei, sei eine Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum ausgeschlossen. Mit Urteil vom 09.09.2020 (III R 37/19) habe der BFH zudem unmissverständlich klargestellt, dass § 66 Abs. 3 EStG nicht verfassungswidrig sei.
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Am 15.04.2021 hat die Klägervertreterin Klage erhoben.
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Mit Beschlüssen vom 21.05.2021 und 09.03.2022 ist das Ruhen des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Parallelverfahren 5 K 258/21 und dem sich anschließenden Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde angeordnet worden. Mit Beschluss vom 19.10.2022 ist das Verfahren wiederaufgenommen worden.
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Aufgrund des BFH-Beschlusses vom 14.07.2022 (III R 28/21), nach dem Feststellungen dazu zu treffen sind, ob im Heimatland eines Anspruchsberechtigten oder einer anderen berechtigten Person ein die Frist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG wahrender Antrag gestellt worden ist, hat die beklagte Familienkasse im streitigen Verfahren am 28.11.2022 ein Auskunftsersuchen hierzu nach Vorschlag des Gerichts an den zuständigen Träger in Rumänien übersandt.
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Die rumänische Behörde hat am 27.12.2022 mit „F002 – Antwort zur Entscheidung über die Zuständigkeit“ bezüglich der Klägerin und ihrer Kinder wie folgt mitgeteilt:
„Since 2007, when the state allowance began to be paid by our institution, there has not been another request. The state allowance for the child B was paid from 01.2007 to 30.06.2020, with 01 July 2020 – it stopped – he finished his high school studies. For the child C from 01.2007 to 31.05.2022 – he stopped on 01 June 2022 – he finished his high school studies. We were not informed about the cross-border situation. Thank you.”
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Die Klägervertreterin hat zur Begründung der Klage im Wesentlichen vorgetragen, dass zwar für den vor Mai 2005 geborenen Sohn die Antragstellung bei Geburt keine Wirkung entfalten könne, aber die Begrenzung auf die Sechsmonatsfrist verfassungswidrig sei; ebenso sei das Verfahren europarechtswidrig, da EU-Bürger insoweit diskriminiert würden.
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Die Klägerin, vertreten durch die Prozessbevollmächtigte, beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Familienkasse vom 29.01.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 26.03.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, an die Klägerin Kindergeld für das Kind B für den Zeitraum von Februar 2018 bis Juli 2018 in Höhe von 194 € abzüglich rumänischer Familienleistungen in Höhe von 84 RON zu leisten.
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Hilfsweise werde aufgrund des grenzüberschreitenden Bezugs und der Frage der Diskriminierung von EU-Bürgern eine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof angeregt.
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Falls keine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof erfolge, werde die Zulassung der Revision beantragt, da die Frage grundsätzliche Bedeutung für eine Vielzahl weiterer Verfahren habe und die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Sechsmonatsfrist weiterhin ungeklärt sei.
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Die Familienkasse hat beantragt,
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Für den Fall des Unterliegens wird die Zulassung der Revision beantragt.
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Sie verweist auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und vertritt die Auffassung, dass die Ablehnung des Antrags auf Kindergeld für den Sohn der Klägerin nach § 66 Abs. 3 EStG zu Recht erfolgt sei. Aus der Bescheinigung des rumänischen Trägers gehe hervor, dass seit 2007 in Rumänien kein weiterer Antrag auf Familienleistungen für die Söhne der Klägerin gestellt und auch kein grenzüberschreitender Sachverhalt dort angezeigt worden sei.
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO).
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie die dem Gericht überlassene elektronisch geführte Kindergeldakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet. Die Familienkasse hat die Festsetzung von Kindergeld für den Sohn B der Klägerin für den Streitzeitraum Februar 2018 bis Juli 2018 im Hinblick auf die gesetzliche Regelung in § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 zurecht abgelehnt. Die Klägerin ist dadurch nicht in ihren Rechten verletzt, § 100 Abs. 1 FGO. § 66 Abs. 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung ist weder verfassungs- noch europarechtswidrig.
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1. § 66 Abs. 3 EStG wurde durch das Gesetz vom 23.06.2017 zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz, StUmgBG, BGBl I 2017, 1682) angefügt. Gemäß § 52 Abs. 49a Satz 11 EStG (2023) ist er auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen. Danach wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag eingegangen ist.
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Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BFH betrifft § 66 Abs. 3 EStG i. d. F. des Gesetzes vom 23.06.2017 nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren und begrenzt die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung (z.B. BFH-Urteile vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704; vom 09.09.2020 III 37/19, BFH/NV 2021, 449, vorgehend FG Nürnberg, Urteil vom 08.05.2019 3 K 193/19).
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2. Da der Kindergeldantrag der Klägerin am 05.02.2019 und damit nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 bei der Familienkasse einging, findet § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 Anwendung. Aufgrund dieses Antrags kann daher – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – Kindergeld rückwirkend nur für die Monate ab August 2018 festgesetzt werden. Die Entscheidung der Familienkasse, die beantragte Kindergeldfestsetzung für die Monate Februar 2018 bis Juli 2018 abzulehnen, entspricht daher dem Gesetz.
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3. Es liegt auch kein fristwahrender Antrag auf Familienleistungen oder eine fristwahrende Anzeige eines grenzüberschreitenden Sachverhalts in Rumänien vor.
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Die Beschränkung auf die sechs Monate greift dann nicht ein, wenn bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ein fristwahrender Antrag oder eine entsprechende Anzeige beim zuständigen Träger des anderen Mitgliedsstaats gestellt wird. Das Unionsrecht sieht ein umfassendes Prinzip der europaweiten Antragstellung vor (vgl. BFH-Urteil vom 09.12.2020 III R 73/18, BStBl II 2022, 178). Nach Art. 68 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 v. 29.04.2004 muss ein Kindergeldantrag, der beim nachrangig zuständigen Träger gestellt worden ist, unverzüglich an den vorrangig zuständigen weitergeleitet werden. Dieser bearbeitet den Antrag so, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre. Darüber hinaus ist in Art. 81 VO (EG) Nr. 883/2004 geregelt, dass fristgebundene Anträge, die beim Träger eines Mitgliedstaats zu stellen sind, mit fristwahrender Wirkung beim zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats gestellt werden können. Dabei kann allerdings ein vor Inkrafttreten der VO Nr. 883/2004 gestellter Antrag, z.B. bei Geburt des Kindes, nicht fristwahrend wirken (vgl. BFH-Urteil vom 14.07.2022 III R 28/21, BStBl II, 2023, 32). Daher ist durch ein Auskunftsersuchen gegenüber dem zuständigen Träger des anderen Mitgliedsstaats zu klären, ob eine berechtigte Person während der Ausschlussfrist einen Familienleistungsanspruch für das entsprechende Kind in dessen Heimatland durch einen entsprechenden Antrag gestellt oder eine entsprechende Mitteilung gemacht hat.
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Für den Streitfall ergibt sich nach der eingeholten Auskunft des rumänischen Trägers, dass für das betroffene Kind B seit 2007 kein (weiterer) Antrag auf Familienleistungen gestellt und auch kein grenzüberschreitender Sachverhalt angezeigt wurde. Da die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierende VO Nr. 883/2004 erst am 01.05.2010 in Kraft getreten ist, kommt eine fristwahrende Weiterleitung nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 vor 2007 noch nicht in Betracht.
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Im Streitfall kann also kein „die Frist […] wahrender Antrag“ auf Durchführung eines Koordinierungsverfahrens vorliegen, was somit zu Recht auch zwischen den Beteiligten nicht (mehr) streitig ist.
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4. § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 ist nicht verfassungswidrig. Auch dies hat der BFH bereits mehrfach entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 09.09.2020 III 37/19, BFH/NV 2021, 449 m. w. N.). Der Senat teilt diese Auffassung (vgl. etwa FG Nürnberg, Urteil vom 08.05.2019 3 K 193/19, juris). Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der aus Art. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sich ergebende Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungswegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz gebietet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (BVerfG-Beschluss vom 10.11.1998 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174). Nach geltendem Recht wird das Existenzminimum von Kindern durch den Kinderfreibetrag (§ 32 EStG) oder das Kindergeld (§§ 62 ff. EStG) von der Einkommensteuer freigestellt. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Ansprüche bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, ihre Realisierung an die Beachtung von Fristen, auch von materiell-rechtlichen Ausschlussfristen, zu knüpfen. Schon im Interesse einer verlässlichen Haushaltsplanung muss es dem Gesetzgeber erlaubt sein, das Erlöschen von Ansprüchen innerhalb angemessener Frist vorzusehen (BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293) und etwa für die rückwirkende Gewährung von Kindergeld eine Ausschlussfrist vorzusehen. Ob eine längere Antragsfrist zweckmäßiger wäre, hat der Senat nicht zu entscheiden.
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5. Der Senat kann auch nicht erkennen, dass die Norm zu einer mittelbaren Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten führt. Sie gilt für alle Kindergeldberechtigten, unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben und worauf der Kindergeldanspruch beruht. So betreffen z.B. die vom Bundesfinanzhof zum § 66 Abs. 3 EStG erlassenen maßgeblichen Entscheidungen vom 19.02.2020 (III R 70/18, BStBl II 2020, 707 und III R 66/18, BStBl II 2020, 704; III R 18/19, BFH/NV 2020, 1060; III R 38/19, BFH/NV 2020, 1065) Personen mit einem inländischen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt.
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6. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 115 FGO genannten Gründe vorliegt. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, da es sich um inzwischen ausgelaufenes Recht handelt und der BFH über alle hier streitigen Punkte – insbesondere auch die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 66 Abs. 3 FGO i. d. F. des Gesetzes vom 23.06.2017 – bereits entschieden hat. Die Entscheidung des Senats beruht auf dieser BFH-Rechtsprechung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO.