Titel:
Anträge auf Kindergeld in Rumänien
Normenketten:
EStG § 32, § 66 Abs. 3
FGO § 100 Abs. 1, § 115
GG Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
VO Nr. 883/2004 Art. 81
Leitsatz:
§ 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 ist nicht verfassungswidrig. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antragstellung, Kindergeld, Heimatland, Geburt des Kindes, Sechsmonatsfrist, Verfassungsmäßigkeit, Familienkasse, Ausschlussfrist, Diskriminierung, Rumänien
Rechtsmittelinstanz:
BFH München vom -- – III R 33/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 33082
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob die Familienkasse zu Recht die Festsetzung von Kindergeld für den Streitzeitraum unter Berufung auf § 66 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) in der damals geltenden Fassung abgelehnt hat.
2
Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige. Ihre beiden Töchter B (geb. xx.xx.2000) und C (geb. xx.xx.2007) sowie der Ehemann und Kindsvater lebten in den Jahren 2018 und 2019 durchgängig in Rumänien. Die Klägerin war als Saisonarbeiterin in Deutschland tätig.
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Mit Schreiben vom 16.04.2019 stellte die Klägervertreterin für die beiden Töchter der Klägerin einen „unbefristeten, formlosen Kindergeldantrag, der sämtliche Anspruchszeiträume bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids umfasst“. Ein deutsches Antragsformular und weitere Unterlagen (u.a. Einkommensteuerbescheid 2018 und 2019, Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung 2018 und 2019) wurden im weiteren Verfahrensgang vorgelegt.
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Mit Bescheid vom 16.11.2020 lehnte die Familienkasse den Antrag für den Zeitraum Januar bis März 2018 unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 19.02.2020 III R 66/18 zu § 66 Abs. 3 EStG ab.
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Der Einspruch der Klägerin vom 03.12.2020 wurde mit Einspruchsentscheidung vom 08.04.2021, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, als unbegründet zurückgewiesen. Die Kindergeldfestsetzung sei für den Zeitraum von Januar bis einschließlich März 2018 zu Recht abgelehnt worden, nachdem vom BFH klargestellt worden sei, dass § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. vom 23.06.2017 das Festsetzungsverfahren betreffe und die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung begrenze. Da der Kindergeldantrag erst am 16.04.2019 bei der Familienkasse eingegangen sei, sei eine Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum ausgeschlossen. Mit Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19 habe der BFH zudem unmissverständlich klargestellt, dass § 66 Abs. 3 EStG nicht verfassungswidrig sei.
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Am 15.04.2021 hat die Klägervertreterin Klage erhoben.
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Mit Beschluss vom 14.05.2021 ist das Ruhen des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Parallelverfahren 3 K 1589/20 (zur Nachfolgenorm § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG) angeordnet worden. Mit Beschluss vom 08.11.2022 ist das Verfahren nach dem Zurückverweisungsbeschluss des BFH vom 14.07.2020 III R 28/21 wiederaufgenommen worden. Nach Auffassung des BFH (III R 28/21) ist das Finanzgericht Nürnberg im dortigen Verfahren zwar zu Recht davon ausgegangen, dass ein mutmaßlich bei Geburt des Kindes im November 2007 in Rumänien gestellter Antrag schon deshalb nicht unter die Antragsgleichstellung fallen könne, weil die VO (EG) Nr. 883/2004 erst am 01.05.2010 in Kraft getreten sei. Allerdings hätte das Finanzgericht Feststellungen dazu treffen müssen, ob im Heimatland des Klägers (Rumänien) vom Kläger oder einer anderen berechtigten Person ein die Frist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG wahrender Antrag gestellt worden sei.
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Diesen Ausführungen des BFH folgend hat die beklagte Familienkasse im Verfahren 3 K 471/21 am 14.11.2022 folgendes Auskunftsersuchen an die rumänische Behörde gestellt, auf das wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen wird:
„Wurde nach dem 01.05.2010 bis zum 30.09.2018 ein Antrag auf Familienleistungen für die Monate Januar 2018 bis März 2018 gestellt? Falls ein solcher Antrag gestellt wurde, wann wurde dieser gestellt? Bitte übersenden Sie eine Kopie des Antrags. Wurde der grenzüberschreitende Sachverhalt bis zum 30.09.2018 Ihnen gegenüber angezeigt? Bitte übersenden Sie eine Kopie der Mitteilung.“
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In dem Auskunftsersuchen wurden die Klägerin als antragstellende Person, der Ehemann der Klägerin und die gemeinsamen Kinder D (geb. xx.xx.1997), B (geb. xx.xx.2000) und C (geb. xx.xx.2007) bezeichnet.
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Die rumänische Behörde antwortete am 22.12.2022 unter Beifügung einer Aufstellung der für die Kinder der Klägerin ab Geburt geleisteten Zahlungen des rumänischen Staates (übersetzt wie folgt):
„Die Familie bezog Kindergeld und Erziehungsgeld, nach dem rumänischen Gesetz, ohne uns über die Änderung der Umstände zu informieren. Anbei senden wir Ihnen die Zahlungsaufstellungen zu.“
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Die Beteiligten haben im Hinblick auf das weiterhin anhängige Verfahren 3 K 1589/20 angeregt, das Verfahren 3 K 471/21 erneut ruhend zu stellen. – Das Verfahren 3 K 1589/20 ruht derzeit, um die Antwort der zuständigen rumänischen Behörde abzuwarten. – Mit Schreiben vom 09.03.2023 hat das Gericht die Klägervertreterin gebeten, die Erfolgsaussichten ihrer Klage im Hinblick auf die Stellungnahme der rumänischen Behörde zu prüfen und bis 27.03.2023 mitzuteilen, ob und ggf. mit welcher Begründung sie gleichwohl daran festhalten wolle.
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Die Klägervertreterin hat erklärt, zwar seien beide Kinder vor Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 am 01.05.2010 geboren, weshalb nach dem Urteil des BFH vom 14.07.2022 III R 28/21 ein im Heimatland gestellter Antrag nicht unter die Antragsgleichstellung nach der Verordnung fallen könne, es werde aber weiterhin die Verfassungsmäßigkeit der Sechsmonatsfrist und die Europarechtswidrigkeit des Verfahrens gerügt.
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Die Klägervertreterin hat sinngemäß beantragt, den Ablehnungsbescheid vom 16.11.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.04.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, für den Zeitraum von Januar bis März 2018 für die Kinder B und C jeweils Kindergeld i.H.v. 194 € monatlich abzüglich rumänischer Familienleistungen i.H.v. 84 RON monatlich zugunsten der Klägerin festzusetzen und an diese auszuzahlen.
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Hilfsweise werde aufgrund des grenzüberschreitenden Bezugs und der Frage der Diskriminierung von EU-Bürgern eine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof angeregt.
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Falls keine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof erfolge, werde die Zulassung der Revision beantragt, da die Frage grundsätzliche Bedeutung für eine Vielzahl weiterer Verfahren habe und die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Sechsmonatsfrist weiterhin ungeklärt sei.
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Die Familienkasse hat beantragt,
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Sie ist weiterhin der Auffassung, dass ein im Heimatland gestellter Antrag auf Familienleistungen nicht als Antrag auf Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat gelten könne, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorgelegen habe oder ersichtlich gewesen sei.
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Laut dem BFH-Urteil III R 28/21 reiche es in Fällen, in denen im anderen Mitgliedstaat laufend Leistungen bezogen würden, für die Annahme eines Antrags zwar aus, wenn gegenüber dem zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaates der durch die Tätigkeit in Deutschland entstandene grenzüberschreitende Sachverhalt innerhalb der Sechsmonatsfrist angezeigt worden und somit die Durchführung des Koordinierungsverfahrens möglich gewesen wäre. Dies sei im Streitfall jedoch nicht gegeben. Dem rumänischen Träger sei weder von der Klägerin noch von ihrem Ehemann die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Deutschland mitgeteilt worden.
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Die Regelung des § 66 Absatz 3 EStG sei verfassungsmäßig (siehe Beschluss des BFH vom 22.09.2022 III R 21/21).
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, § 90 Abs. 2 FGO.
Gründe
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Das Gericht konnte in der Sache entscheiden. Das Klageverfahren im Hinblick auf das – selbst ruhende – Verfahren 3 K 1589/20 erneut ruhend zu stellen, erschien untunlich, zumal im Streitfall die rumänische Behörde bereits mitgeteilt hat, dass die Familie der Klägerin jeweils seit Geburt der Kinder dort Kindergeld und Familienleistungen bezogen habe ohne die rumänische Behörde von der Änderung der Verhältnisse (Arbeitsaufnahme der Klägerin in Deutschland) zu informieren. Es kann hier also kein „die Frist […] wahrender Antrag“ auf Durchführung eines Koordinierungsverfahrens vorliegen.
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Die Klage ist unbegründet. Die Familienkasse hat die Festsetzung von Kindergeld für die beiden Töchter der Klägerin für den Streitzeitraum Januar bis März 2018 im Hinblick auf die gesetzliche Regelung in § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 zurecht abgelehnt. Die Klägerin ist dadurch nicht in ihren Rechten verletzt, § 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). § 66 Abs. 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung ist weder verfassungs- noch europarechtswidrig.
§ 66 Abs. 3 EStG wurde durch das Gesetz vom 23.06.2017 zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz, StUmgBG, BGBl I 2017, 1682) angefügt. Gemäß § 52 Abs. 49a Satz 11 EStG (2023) ist er auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen. Danach wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag eingegangen ist.
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Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BFH betrifft § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren und begrenzt die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung (z.B. BFH-Urteile vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704; vom 09.09.2020 III 37/19, BFH/NV 2021, 449, vorgehend FG Nürnberg, Urteil vom 08.05.2019 3 K 193/19).
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Da der Kindergeldantrag der Klägerin am 16.04.2019 und damit nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 bei der Familienkasse einging, findet § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 Anwendung. Aufgrund dieses Antrags kann daher – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – Kindergeld rückwirkend nur für die Monate ab Oktober 2018 festgesetzt werden. Die Entscheidung der Familienkasse, die beantragte Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis März 2018 abzulehnen, entspricht dem Gesetz.
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Die bei Geburt der Kinder in Rumänien gestellten Anträge auf Kindergeld und Familienleistungen sind kein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. des § 66 Abs. 3 EStG. Denn die die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierende VO Nr. 883/2004 trat erst am 01.05.2010 in Kraft, so dass eine fristwahrende Weiterleitung nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 im Jahre 2006 noch nicht in Betracht kam.
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Weitere Anträge wurden nach Auskunft der rumänischen Behörde nicht gestellt; ihr wurde auch die Änderung der Verhältnisse (Arbeitsaufnahme der Klägerin in Deutschland) nicht mitgeteilt. Es kann hier also kein „die Frist […] wahrender Antrag“ auf Durchführung eines Koordinierungsverfahrens vorliegen.
§ 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 ist nicht verfassungswidrig. Auch dies hat der BFH bereits mehrfach entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 09.09.2020 III 37/19, BFH/NV 2021, 449 m.w.N.). Der Senat teilt diese Auffassung (vgl. etwa FG Nürnberg, Urteil vom 08.05.2019 3 K 193/19, juris). Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sich ergebende Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungswegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz gebietet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (BVerfG-Beschluss vom 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174). Nach geltendem Recht wird das Existenzminimum von Kindern durch den Kinderfreibetrag (§ 32 EStG) oder das Kindergeld (§§ 62 ff. EStG) von der Einkommensteuer freigestellt. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Ansprüche bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, ihre Realisierung an die Beachtung von Fristen, auch von materiell-rechtlichen Ausschlussfristen, zu knüpfen. Schon im Interesse einer verlässlichen Haushaltsplanung muss es dem Gesetzgeber erlaubt sein, das Erlöschen von Ansprüchen innerhalb angemessener Frist vorzusehen (BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293) und etwa für die rückwirkende Gewährung von Kindergeld eine Ausschlussfrist vorzusehen. Ob eine längere Antragsfrist zweckmäßiger wäre, hat der Senat nicht zu entscheiden.
27
Der Senat kann auch nicht erkennen, dass die Norm zu einer mittelbaren Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten führt. Sie gilt für alle Kindergeldberechtigten, unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben und worauf der Kindergeldanspruch beruht.
28
Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der in § 115 FGO genannten Gründe vorliegt. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, da der BFH über alle hier streitigen – insbesondere auch die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 66 Abs. 3 FGO i.d.F. des Gesetzes vom 23.06.2017 – bereits entschieden hat. Die Entscheidung des Gerichts beruht auf dieser BFH-Rechtsprechung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.