Titel:
Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung nach Kroatien – psychische Erkrankung
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Einem Asylantragsteller mit posttraumatischer Belastungsstörung und wiederkehrenden schweren depressiven Episoden, verbunden mit Suizidalität droht bei einer Rückkehr nach Kroatien jedenfalls im Fall seiner Anerkennung als international Schutzberechtigter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung. (Rn. 23, Rn. 34, Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Kroatien, Abschiebungsanordnung nach Kroatien, Verstoß gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK für anerkannt Schutzberechtigte mit behandlungsbedürftigen Erkrankungen wie schweren depressiven Episoden mit Suizidalität und Posttraumatischer, Belastungsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, schwere depressive Episoden, Suizidalität, menschenrechtswidrige Behandlung, anerkannte international Schutzbedürftige, Gesundheitssystem, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32826
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziff. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2023 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen eine Abschiebungsanordnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nach Kroatien.
2
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste laut eigenen Angaben am 23. April 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 22. Mai 2023 einen förmlichen Asylantrag.
3
Am 2. Mai 2023 stellte das Bundesamt für den Antragsteller zwei Eurodac-Treffer für Kroatien (Kategorie 1 und Kategorie 2, beide vom 22.4.2023 in …*) fest.
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Im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am 22. Mai 2023 gab der Antragsteller an, sein Herkunftsland am 19. April 2023 verlassen zu haben und über Bosnien, Kroatien, Slowenien und weitere unbekannte Länder am 23. April 2023 nach Deutschland eingereist zu sein. In Kroatien habe er sich vom 21. bis 23. April 2023 in einer Schleuserunterkunft aufgehalten. Er habe in keinem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt.
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Bei seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 24. Mai 2023 gab der Antragsteller an, dass er zusammen mit drei Männern und einer schwangeren Frau zu Fuß von Bosnien nach Kroatien gereist sei. In Kroatien seien sie festgenommen und zu einer Polizeiwache gebracht worden. Das Fahrzeug sei geschlossen gewesen. Bei der Festnahme sei Gewalt gegen sie angewendet worden. Er wisse nicht, in welchem Ort die Polizeiwache gewesen sei. Sie hätten drei oder vier Stunden in einem Container warten müssen. Dann sei eine Polizistin gekommen und habe sie gefragt, wohin sie wollen würden. Sie hätten gesagt, ihr Ziel sei Deutschland. Nachdem sie Fingerabdrücke abgegeben und verschiedene Dokumente unterschrieben hätten, seien sie zu einem Busbahnhof gebracht worden. Über Slowenien und Österreich seien sie nach Deutschland gelangt. Er habe in Kroatien keinen Asylantrag gestellt. Er habe in Kroatien gesehen, wie dort Flüchtlinge behandelt würden. Ihnen sei ihr ganzes Geld abgenommen worden, sie hätten in der ganzen Zeit keine Verpflegung erhalten und seien von den Polizisten auch verspottet worden. Die Gesetze in Kroatien würden nicht funktionieren, sein Leben würde in Kroatien nicht sicher sein. Nach Erkrankungen gefragt, gab der Antragsteller an, dass ihm oft schwarz vor Augen werde und er dann alles nur verschwommen sehe. Er sei deshalb in ärztlicher Behandlung, ihm lägen aber keine Nachweise vor. Er müsse Schmerztabletten und Tropfen, deren Namen er nicht wisse, einnehmen.
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Aufgrund der festgestellten Eurodac-Treffer hatte das Bundesamt am 23. Mai 2023 ein Wiederaufnahmegesuch nach der Dublin-III-VO an die kroatischen Behörden gerichtet, welches die kroatischen Behörden mit Schreiben vom 6. Juni 2023 auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO annahmen.
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Mit Bescheid vom 30. Juni 2023 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, (Ziffer 2) und die Abschiebung des Antragstellers nach Kroatien angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Antragsteller mit am 6. Juli 2023 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schreiben Klage erhoben (AN 14 K 23.50440) und den vorliegenden Eilrechtsschutzantrag gestellt. Zur Begründung trug der Antragsteller sinngemäß vor, dass nicht Kroatien, sondern Deutschland als Erstankunftsland zähle und somit sein Asylverfahren durchführen müsse. Außerdem würde bei ihm eine erhebliche Stresssymptomatik auftreten.
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Der Antragsteller legte mehrere Arztbriefe (vom 29.6.2023, 17.7.2023 und 7.8.2023) des Klinikums …, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, über mehrere stationäre Aufenthalte vor, aus denen ersichtlich ist, dass der Antragsteller seit Ende Juni 2023 wiederholt an mittelgradigen und schweren depressiven Episoden, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. insb. Arztbriefe vom 17.7.2023 und 7.8.2023), schädlichem Alkoholgebrauch und wiederkehrender Suizidalität leidet; es habe auch schon mehrere Suizidversuche in der Vergangenheit gegeben. Dem Antragsteller wurde bei Entlassung stets eine medikamentöse Therapie verschrieben (zuletzt: Quetiapin 25 mg, Mirtazapin 30 mg, vgl. Arztbrief vom 7.8.2023, S. 3), die er jedoch nicht immer regelmäßig eingenommen habe. Auf diese Arztbriefe wird hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen.
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Der Antragsteller beantragt,
seine Abschiebung nach Kroatien außer Vollzug zu setzen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
12
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakten Bezug genommen.
14
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.
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Der vom Antragsteller gestellte Antrag, seine Abschiebung nach Kroatien auszusetzen, ist nach § 88 VwGO sachgerecht als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids nach § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen. Dieser Antrag ist statthaft nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG, da die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgerecht gestellte Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin abgewogen wird. Grundlage ist dabei die anhand einer summarischen Prüfung erfolgende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (BVerwG, B. v. 7.7.2020 – 7 VR 2/10 u.a. – juris Rn. 20; B. v. 23.1.2015 – 7 VR 6/14 – juris Rn. 8).
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Nach diesem Maßstab ist der Antrag begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage war anzuordnen, da nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein vorzunehmenden summarischen Prüfung eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass dem Antragsteller in Kroatien jedenfalls nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes aufgrund seiner Erkrankungen eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht. Die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete Abschiebung des Antragstellers nach Kroatien ist daher voraussichtlich rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Mitgliedstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend wohl nicht gegeben.
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1. Das Bundesamt ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass Kroatien an sich der nach der Dublin-III-VO für das Asylverfahren des Antragstellers zuständige Mitgliedsstaat ist.
21
Vorliegend ist Kroatien zur Wiederaufnahme des Antragstellers verpflichtet. Ausweislich des vom Bundesamt festgestellten Eurodac-Treffers der Kategorie 1 hat der Antragsteller zuerst in Kroatien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, über den noch nicht entschieden wurde. Die kroatischen Behörden haben gemäß Art. 20 Abs. 5 Uabs.1 Dublin-III-VO ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Antragstellers auf das fristgemäße Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts hin (Art. 23 Abs. 1, 2 Dublin-III-VO) erklärt. Dies zieht die Verpflichtung Kroatiens nach sich, den Antragsteller wiederaufzunehmen und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen. Auf die Zuständigkeit Kroatiens gemäß den Kriterien von Kapitel III der Dublin-III-VO – und somit auch auf den Vortrag des Antragstellers, dass er in Kroatien zwar mehrere Dokumente unterschrieben, aber keinen Asylantrag gestellt habe, – kommt es daher grundsätzlich nicht an (vgl. EuGH, U.v. 2.4.19 – C-582/17 und C-583/17 – juris).
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Die Antragsgegnerin ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständig geworden, denn diese wurde durch den vorliegenden, fristgerecht gestellten Antrag unterbrochen und läuft erst mit der Ablehnung des Antrags erneut an (vgl. Art. 29 Abs. 1 Uabs. 1 Dublin-III-VO a.E.).
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2. Dem Antragsteller droht jedoch wegen seiner psychischen Erkrankungen nach einer Rückkehr nach Kroatien jedenfalls im Fall seiner Anerkennung als international Schutzberechtigter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Seiner Abschiebung nach Italien steht daher ein rechtliches Hindernis entgegen; die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung ist deswegen nach der gebotenen summarischen Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Die Frage, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen während des laufenden Asylverfahrens systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO aufweisen, die die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung mit sich bringen, kann daher offengelassen werden.
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a) Mit Urteil vom 19. März 2019 (Az. C-163/17) hat der Europäische Gerichtshof die Maßstäbe – aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters von Art. 4 GRCh für Asylsuchende und Anerkannte in gleicher Weise – für Rückführungen im Dublin-Raum präzisiert. Aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darf ein Asylsuchender hiernach grundsätzlich immer in den Mitgliedstaat rücküberstellt werden, der nach der Dublin-III-VO für die Bearbeitung seines Antrags zuständig ist bzw. ihm bereits Schutz gewährt hat, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände für längere Zeit dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. des insoweit inhaltlich gleichen Art. 3 EMRK verstößt, das heißt seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. dazu VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 38). Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich entschieden, dass die mit der Überprüfung einer Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-VO befassten Gerichte auch zu prüfen haben, ob den jeweiligen Asylsuchenden in dem anderen Mitgliedstaat nach positivem Abschluss des Asylverfahrens eine gegen Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung droht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Tenor Nr. 3 und Rn. 88-90).
25
Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre etwa dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O., Rn. 92, unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S./Belgien und Griechenland; vgl. auch BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris).
26
Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O., Rn. 93.). Es lässt sich allerdings nicht völlig ausschließen, dass ein Asylsuchender oder Schutzberechtigter nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die im Fall der Überstellung bedeuten würden, dass er sich aufgrund besonderer Verletzlichkeit unabhängig von seinem Willen und persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O.).
27
b) Anerkannte Flüchtlinge erhalten in Kroatien eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, subsidiär Schutzberechtigte für drei Jahre (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 128).
28
Schutzberechtigte sind ab der Schutzgewährung zur Arbeit in Kroatien berechtigt. Als besonders großes Hindernis für eine erfolgreiche Integration insbesondere in den Arbeitsmarkt wird allerdings der Mangel an Sprachkenntnissen angesehen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S.125 f., S. 141 f.). Es besteht ein erheblicher Mangel an Sprachkursen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S.125). Ein durch das Kroatische Wissenschafts- und Erziehungsministerium auf den Weg gebrachtes, vom EU-Flüchtlingsfonds finanziertes Projekt zur besseren Integration von Schutzberechtigten in die kroatische Gesellschaft und den Arbeitsmarkt, das insbesondere einen Sprachkurs umfasste, wurde durch eine Entscheidung des Kroatischen Innenministeriums vom September 2022 beendet (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 141 f.). Es gibt allerdings einige Sprachkurse verschiedener Stufen von Nichtregierungsorganisationen, die auch anerkannt Schutzberechtigten offenstehen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 90, 128). Verschiedene Nichtregierungsorganisationen sowie die Kroatische Agentur für Arbeit unterstützen darüber hinaus anerkannt Schutzberechtigte bei der Arbeitssuche und bei der Integration in die kroatische Gesellschaft (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 126 ff., S. 143; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kroatien, Stand: 14.4.2023, S. 13 f.).
29
In Kroatien existierte ein Aktionsplan zur Integration anerkannt Schutzberechtigter, der von 2017 bis 2019 gültig war, der aber nie in die Praxis umgesetzt wurde. Ein neuer Plan, der die Jahre 2020 bis 2022 abdecken sollte, war bis Ende 2022 nicht verabschiedet worden (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S.121). Grundlegende Informationen für anerkannt Schutzberechtigte finden sich in einem Führer des kroatischen Regierungsbüros für Menschenrechte und die Rechte nationaler Minderheiten aus dem Jahr 2019, der in sieben Sprachen erhältlich ist und 2022 aktualisiert wurde. Daneben stellen auch weitere staatliche Stellen sowie die IOM, der UNHCR und verschiedene Nichtregierungsorganisationen Informationen für Schutzberechtigte zur Verfügung (AIDA, Country Report Croatia, 2021 update, S.122 ff.).
30
Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben Zugang zum kroatischen Schulsystem wie kroatische Staatsangehörige. Probleme bestehen insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Vorbereitungsklassen für die kroatische Sprache und auf mangelnde Vorbereitung und personelle Ausstattung in den Schulen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 144 f.). Daneben unterstützen Nichtregierungsorganisationen Schulkinder beim Erlernen der Sprache und der Bewältigung des Schulstoffs und ihre Eltern bei der Kommunikation mit der Schule (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 145).
31
Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, die nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um sich selbst eine Unterkunft zu beschaffen, haben zwei Jahre lang einen Anspruch auf kostenfreie Unterbringung gegen den kroatischen Staat, den sie bei den kroatischen Sozialbehörden geltend machen müssen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 139). Sofern keine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt oder im Eigentum des kroatischen Staates verfügbar ist, können anerkannte Schutzberechtigte zwei Jahre lang in den Aufnahmezentren bleiben. Nach Ablauf der zwei Jahre haben Schutzberechtigte nur noch nach Maßgabe des Gesetzes über Sozialleistungen Anspruch auf eine Unterkunft; in der Praxis bleiben Schutzberechtigte auch über die zweijährige Frist hinaus in den Aufnahmezentren bis eine passende Wohnung für sie gefunden wird (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 139 f.). Wenn Schutzberechtigte über finanzielle Mittel verfügen, sind sie gegenüber der zuständigen Sozialbehörde verpflichtet, bereits während der ersten zwei Jahre zu den Kosten der Unterkunft beizutragen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 139). Wohnungen für Schutzberechtigte werden nicht zentral in Zagreb angemietet, um eine Isolierung oder „Ghettobildung“ unter Schutzberechtigten zu vermeiden. Nach Ablauf der zweijährigen Frist ist es angesichts bestehender Wohnungsknappheit und hoher Mieten sowie zögerlicher Vermietung für anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich äußerst schwierig, eine Wohnung zu finden (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S.140 f.). Verschiedene Nichtregierungsorganisationen leisten Unterstützung bei der Wohnungssuche und teils wurden 2022 einzelne Monatsmieten bedürftiger Schutzberechtigter übernommen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 141).
32
Anerkannte Schutzberechtigte ohne Arbeit sind in Kroatien nicht krankenversichert, haben aber einen Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung auf staatliche Kosten im gleichen Umfang wie gesetzlich Pflichtversicherte (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 147 f.). In der Praxis besteht hier häufig das Problem, dass die behandelnden Ärzte und Ärztinnen darüber nicht informiert sind. Anerkannt Schutzberechtigte, die eine Arbeit haben, sind dagegen krankenversichert. Anders als kroatische Staatsangehörige können arbeitende Schutzberechtigte ihre Familien nicht in den Krankenversicherungsschutz einbeziehen. Deren Behandlungskosten werden weiterhin vom kroatischen Staat getragen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 148). Werden Medikamente benötigt, dann hat die Apotheke eine Rechnung an den Kroatischen Krankenversicherungsfonds zu schicken, der sie, wenn die Verschreibung korrekt ist, an das Kroatische Gesundheitsministerium weiterleitet. Befindet sich das Medikament auf der Liste der Basismedikamente, wird die Rechnung vollständig vom Gesundheitsministerium übernommen. Steht es dagegen auf der Ergänzungsliste, werden die Kosten zwischen dem Ministerium und der betreffenden Person geteilt (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 148).
33
Daneben haben anerkannt Schutzberechtigte im gleichen Umfang wie kroatische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialleistungen (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S.146), wobei manche Ansprüche aus dem Sozialsystem je nach lokaler und regionaler Selbstverwaltung variieren können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kroatien, Stand: 14.4.2023, S. 12). Gewährt wird unter anderem ein Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten für Bedürftige („guaranteed minimum benefit“). Dieser wird anerkannt Schutzberechtigten gewährt, die kein Einkommen haben, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Er beläuft sich bei Familien auf monatlich 480 Kuna (63 EUR) pro Erwachsenem und 320 Kuna (42 EUR) pro Kind. Daneben gibt es auch einmalige Unterstützung („one-time assistance“), wenn einmalig außerordentliche Kosten anfallen wie bei der Geburt eines Kindes, bei der Erziehung eines Kindes oder der Notwendigkeit, grundlegende Haushaltsgegenstände zu erwerben. Der reguläre Höchstbetrag beläuft sich hier pro Haushalt auf 3.500 Kuna (458 EUR) (vgl. https://welcomm-europe.eu/croatia/welfare/, zuletzt besucht am 21.7.2023; AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 147. Die genauen aktuellen Beträge sind mit Unsicherheit behaftet, denn die verfügbaren Quellen berücksichtigen noch nicht, dass in Kroatien 2023 der Euro eingeführt wurde.). Bedürftige, die den „guaranteed minimum benefit“ beziehen, können außerdem auf Unterstützung bei den Wohnkosten („housing allowance“) zurückgreifen bis zu einer Höhe von maximal der Hälfte des gewährten „guaranteed minimum benefit“ (vgl. https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1104& langId=en& intPageId=4464, zuletzt besucht am 21.7.2023). Als weitere Sozialleistungen stehen unter anderem Zuschüsse für Energiekosten und diverse Dienstleistungen der sozialen Fürsorge zur Verfügung (AIDA, Country Report Croatia, 2022 update, S. 147). Berichten zufolge waren die gewährten Sozialhilfeleistungen allein in der Vergangenheit allerdings nicht ausreichend, um den Lebensunterhalt zu decken (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kroatien, Stand 18.5.2020, S. 16).b)
34
c) Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung geht das Gericht, insbesondere aufgrund der vorgelegten Arztbriefe davon aus, dass der Antragsteller unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) und wiederkehrenden schweren depressiven Episoden (ICD-10: F32.2) leidet. Die Diagnosen sind aus den vorgelegten Arztbriefen ersichtlich und für diese Diagnosen spricht auch die in den Arztbriefen festgehaltene Medikation mit zuletzt Quetiapin und Mirtazapin. Lägen diese oder ähnliche Erkrankungen nicht vor, so wäre eine derartige Medikamentengabe bzw. Empfehlung nicht erfolgt. Der Antragsteller musste allein im Zeitraum von Ende Juni 2023 bis Anfang August 2023 dreimal stationär aufgenommen werden. Bei der zweiten und dritten Aufnahme gab er jeweils an, die zuvor verordneten Medikamente nicht regelmäßig eingenommen zu haben, teils gab er als Grund hierfür Lieferschwierigkeiten in der Apotheke an. Nach summarischer Prüfung ist daher davon auszugehen, dass der Antragsteller ohne zuverlässige Einnahme der verordneten Medikamente wieder rückfällig schwer depressiv und suizidal werden würde, sodass dann erneute stationäre Aufnahmen zur Verhinderung einer Selbstschädigung erforderlich würden.
35
Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass seit 2021 anerkannte Schutzberechtigte vermehrt in kleineren Städten außerhalb des Ballungsraums Zagreb untergebracht werden, da es im Ballungsraum schwer ist, Wohnraum für Schutzberechtigte zu finden. Die Gemeinden, in denen eine Wohnung für Schutzberechtigte angemietet wird, sind dabei oft nicht auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet (AIDA, Country Report Croatia, 2021 update, S. 134). Das kroatische Gesundheitssystem deckt zwar theoretisch auch die Behandlung chronischer psychiatrischer Erkrankungen ab. In der Praxis ist dieser Bereich des Gesundheitswesens aber unterentwickelt und auch für kroatische Staatsangehörige praktisch unerreichbar, insbesondere für unterprivilegierte Schichten. Für Flüchtlinge besteht normalerweise nur mit Mediation und Begleitung von Freiwilligen und Mitarbeitern von NGOs Zugang zu psychiatrischen Behandlungsleistungen im öffentlichen System (SFH, Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Croatia, Dezember 2021, S. 15). Daneben ist in vielen Arztpraxen und Apotheken mangels klarer Handlungsanweisungen nicht bekannt, wie Behandlungsleistungen und Medikamente bei anerkannt Schutzberechtigten abgerechnet werden können. Deswegen wird ihnen häufig kein Zugang zur Behandlung eröffnet oder, wenn dies doch erfolgt, wird ihnen eine Rechnung für die Behandlung ausgestellt, ohne dass dies notwendig wäre, die sie nicht bezahlen können (SFH, Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Croatia, Dezember 2021, S. 15).
36
Im Falle des Antragstellers besteht daher eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass er nach einer etwaigen Anerkennung als Schutzberechtigter nicht im Großraum Zagreb, sondern außerhalb in der kroatischen Provinz untergebracht wird. Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge bei Arzt- oder Behördenbesuchen unterstützen könnten, sind hier oft nicht verfügbar. In dieser Situation besteht nach der Auskunftslage eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller entweder bereits keinen Zugang zu der notwendigen psychiatrischen Behandlung und den notwendigen Medikamenten bekommt, oder aber, dass er diesen Zugang zwar bekommt, ihm die entsprechenden Kosten aber in Rechnung gestellt werden. Der Antragsteller hätte zwar auch einen Kostenerstattungsanspruch gegen den kroatischen Staat bzw. den Kroatischen Krankenversicherungsfonds. Allerdings steht gerade in kleineren Ortschaften zu befürchten, dass die dortigen Apotheken über die für anerkannt Schutzberechtigte geltenden Abrechnungsregelungen nicht informiert sind, so dass der Antragsteller seine Medikamente nur bekommen könnte, wenn er sie selbst bezahlen würde.
37
Nach den oben dargestellten Verhältnissen für anerkannt Schutzberechtigte in Kroatien bestehen aber erhebliche Zweifel daran, dass der Antragsteller ausreichend Einkommen (und ggf. Sozialleistungen) zur Finanzierung nicht nur eines Existenzminimums, sondern zusätzlich dieser (eigentlich nicht vom Antragsteller) zu tragenden Behandlungs- und Medikamentenkosten erwirtschaften könnte. Ohne die Medikamente oder stationäre Behandlungen dürfte dem Antragsteller nach summarischer Prüfung aber eine Verelendung, mithin eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung in Kroatien drohen.
38
3. Nach summarischer Prüfung ist daher die Überstellung des Antragstellers nach Kroatien aus rechtlichen Gründen unmöglich und deshalb die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides verfügte Abschiebungsanordnung nach Kroatien rechtswidrig. Die aufschiebende Wirkung der Klage war daher anzuordnen. Ob der Bescheid tatsächlich rechtswidrig ist, bleibt der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
39
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
40
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.