Titel:
Umdeutung einer Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag nach Anklageerhebung
Normenkette:
StPO § 117, § 126
Leitsätze:
1. Nach § 117 Abs. 2 S. 1 StPO gilt der Vorrang des Haftprüfungsverfahrens – und damit die Unzulässigkeit der Beschwerde – nur dann, wenn die Beschwerde neben dem Haftprüfungsverfahren betrieben wird. Solange ein Haftprüfungsverfahren nicht anhängig ist, bleibt die Beschwerde gegen den Haftbefehl stets statthaft. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine nach Anklageerhebung eingelegte Haftbeschwerde gegen einen vom Ermittlungsrichter erlassenen Haftbefehl ist in einen an das nunmehr für Haftentscheidungen nach § 126 Abs. 2 StPO zuständige Gericht gerichteten Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO umzudeuten. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Haftprüfung, Haftbeschwerde, Umdeutung, Anklageerhebung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32730
Tenor
I. Eine Beschwerdeentscheidung des Senats ist derzeit nicht veranlasst.
II. Die Akten werden der Kammer zur Entscheidung über die in einen Haftprüfungsantrag umzudeutende Beschwerde vom 19. September 2023 zurückgereicht.
Gründe
1
Die Staatsanwaltschaft M. I führt gegen den Angeschuldigten ein umfangreiches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Betruges in Millionenhöhe. Auf ihren Antrag hin hat das Amtsgericht München – Ermittlungsrichter – unter dem 04.08.2022 (Az.: ER II Gs 9140/22) einen Haftbefehl gegen den Angeschuldigten erlassen, aufgrund dessen er am selben Tag festgenommen wurde und sich seither in Untersuchungshaft befindet.
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Unter dem 28.03.2023 hatte die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten und zwei weitere Mitangeschuldigte Anklage zur Großen Stafkammer des Landgerichts München I erhoben.
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Einen mit Schriftsatz vom 24.05.2023 gestellten Antrag auf mündliche Haftprüfung hat der Angeschuldigte im Termin vom 20.06.2023 zurückgenommen.
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Mit Schriftsatz vom 19.09.2023 ließ der Angeschuldigte durch seinen Verteidiger Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 04.08.2022 einlegen und die Aufhebung des Haftbefehls beantragen; mit der Haftbeschwerde wurde ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz gerügt.
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Unter dem 26.09.2023 erließ die Kammer einen Beschluss, durch den „Der Haftbeschwerde … nicht abgeholfen“ werde. Die Akten wurden sodann unter Vermittlung der Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
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Zwischenzeitlich hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 28.09.2023 die Anklage vom 28.03.2023 zurückgenommen und wegen der gleichen Sachverhalte unter dem 28.09.2023 eine neue Anklageschrift eingereicht, die – wie auch die Rücknahmeverfügung – am 04.10.2023 bei der Kammer eingegangen ist.
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Eine Entscheidung des Senats ist derzeit nicht veranlasst. Vielmehr waren die Akten der Kammer zur Entscheidung über die in einen Haftprüfungsantrag umzudeutende Beschwerde zurückzureichen.
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1. Durch die Anklageerhebung unter dem 28.03.2023 ist nach § 126 Abs. 2 S. 1 StPO ein Zuständigkeitswechsel eingetreten. Die Kammer ist daher nun erstinstanzlich für die vom Gericht zu treffenden Entscheidungen zuständig.
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a) Zwar gilt im Grundsatz, dass ein Beschuldigter ein Wahlrecht hat, ob er einen Haftprüfungsantrag (§ 117 Abs. 1 StPO) stellen oder eine Haftbeschwerde (§ 304 StPO) gegen den Haftbefehl einlegen möchte. Nach § 117 Abs. 2 S. 1 StPO gilt der Vorrang des Haftprüfungsverfahrens – und damit die Unzulässigkeit der Beschwerde – nur dann, wenn die Beschwerde neben dem Haftprüfungsverfahren betrieben wird. Solange ein Haftprüfungsverfahren nicht anhängig ist, bleibt die Beschwerde gegen den Haftbefehl stets statthaft (MüKo-Böhm, StPO, 2. Aufl. 2023, Rn. 29 zu § 117; KK-Graf, StPO, 9. Aufl. 2023, Rn. 1 und 8 zu § 117; OLG München, BeckRS 2022, 31786).
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b) Etwas anderes gilt indessen, wenn es nach § 126 Abs. 2 StPO durch Anklageerhebung zu einem Zuständigkeitswechsel hinsichtlich der vom Gericht in erster Instanz zu treffenden Entscheidungen gekommen ist. Denn solange das nunmehr mit der Sache befasste Gericht noch keine eigene erstinstanzliche (Haft-) Entscheidung getroffen hat, liegt auch noch kein tauglicher Anfechtungsgegenstand für eine Beschwerde vor.
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Eine nach Anklageerhebung eingelegte Haftbeschwerde gegen einen vom Ermittlungsrichter erlassenen Haftbefehl ist deswegen in einen an das nunmehr für Haftentscheidungen nach § 126 Abs. 2 StPO zuständige Gericht gerichteten Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO umzudeuten (OLG Hamm, BeckRS 2013, 6213; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.08.1994 – 2 Ws 172/94, juris; KK-Gericke, StPO, 9. Aufl. 2023, Rn. 8 a zu § 126; MüKo-Böhm, StPO, 2. Aufl. 2023, Rn. 41 zu § 117 und Rn. 25 zu § 126).
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2. Eine beschwerdefähige Entscheidung der Kammer liegt bislang nicht vor.
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a) Eine Haftprüfungsentscheidung hat die Kammer bislang nicht getroffen. Insbesondere hat der Angeschuldigte einen zuvor unter dem 24.05.2023 gestellten Haftprüfungsantrag im Termin vom 20.06.2023 zurückgenommen, so dass es zu einer beschwerdefähigen Entscheidung der Kammer nicht mehr kommen konnte. Der Beschluss der Kammer vom 26.09.2023 kann auch nicht in eine Entscheidung über den Haftprüfungsantrag umgedeutet werden. Darüber hinaus wurde gegen diese Entscheidung bislang auch kein Rechtsmittel eingelegt, so dass bereits aus diesem Grunde eine Zuständigkeit des Senats nicht in Betracht kommt.
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b) Es ist auch nicht möglich, eine gleichsam konkludente „Übernahme“ des Haftbefehls des Ermittlungsrichters durch die Kammer anzunehmen, etwa indem sie den Angeschuldigten während des Zwischenverfahrens in Haft belassen oder das Haftprüfungsverfahren bis zur Rücknahme seines Antrags am 20.06.2023 durchgeführt hat. Denn bereits aus § 114 Abs. 1 StPO folgt, dass Haftentscheidungen ausdrücklich und hinreichend klar ergehen müssen.
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3. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage vom 28.03.2023 mit Verfügung vom 28.09.2023 zurückgenommen hat. Denn unter demselben Datum hat sie bereits eine neue Anklage bei der Kammer eingereicht, so dass der durch § 126 Abs. 2 StPO herbeigeführte Zuständigkeitswechsel gleichsam nahtlos fortbesteht.
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4. Der entgegen vorgenannten Gründen gleichwohl ergangene Nichtabhilfebeschluss der Kammer ist mithin gegenstandslos. Die Kammer wird daher zunächst eine Haftprüfungsentscheidung zu treffen haben, gegen die dem Angeschuldigten sodann ggf. das Rechtsmittel der Beschwerde zusteht. Zuvor ist eine Zuständigkeit des Senats als Beschwerdegericht nicht gegeben.