Titel:
Verzicht auf die mündliche Anhörung beim Bewährungswiderruf
Normenkette:
StPO § 453 Abs. 1 S. 4
Leitsatz:
Auf eine mündliche Anhörung zum beantragten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung kann ausnahmsweise verzichtet werden, wenn der Verurteilte bereits zu seinen Verstößen gegen die Abstinenzweisung mündlich angehört wurde und kurze Zeit danach weiter gegen die Bewährungsauflagen verstößt. In diesem Fall erscheint erneute mündliche Anhörung der Verurteilten, der bereits auf den drohenden Bewährungswiderruf hingewiesen wurde, als bloße Förmelei. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bewährungswiderruf, Abstinenzweisung, mündliche Anhörung, Verzicht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32729
Tenor
I. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 28.03.2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Verurteilte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
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1. Der zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 03.12.2019 (Az.: 4 Ds 207 Js 120163/19), rechtskräftig seit 11.12.2019, wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte mit Beleidigung zur Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. In dem Urteil wurde zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt, dass er die Tat in alkoholbedingter Enthemmung begangen hatte.
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Nachdem der Beschwerdeführer bereits am 23.12.2019 erneut (wegen Diebstahls) straffällig geworden und deswegen durch seit 24.07.2020 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 16.07.2020 zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50,00 € verurteilt worden war, wurde die Bewährungszeit durch Beschluss vom 13.10.2020 um ein Jahr verlängert.
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In der Folge wurde der Beschwerdeführer durch Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 28.06.2021 (Az.: 4 Ds 603 Js 111133/21), rechtskräftig seit 02.09.2021, wegen Beleidigung mit übler Nachrede zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten sowie durch Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 21.04.2021 (Az.: 41 Ds 209 Js 101458/21), rechtskräftig seit 04.08.2021, wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt.
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Aufgrund dieser beiden Verurteilungen wurde die bereits verlängerte Bewährung aus der Verurteilung vom 03.12.2019 durch Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 29.10.2021, rechtskräftig seit 30.12.2021, widerrufen. Die Strafe wurde ab dem 20.01.2022 in der Justizvollzugsanstalt K. vollzogen.
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2. Mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 25.10.2021, rechtskräftig seit 05.11.2021, wurden die beiden Freiheitsstrafen von 4 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 28.06.2021 und von 5 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 21.04.2021 zu einer Gesamtstrafe von 7 Monaten zusammengeführt. Diese wurde ab 22.10.2021 ebenfalls in der Justizvollzugsanstalt K. vollstreckt.
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3. Mit seit 16.04.2022 rechtskräftigem Beschluss vom 31.03.2022 setzte die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen die weitere Vollstreckung der Strafreste der beiden Freiheitsstrafen ab 16.5.2022 zur Bewährung aus. In dem Beschluss wurde der Beschwerdeführer u.a. angewiesen, keine alkoholischen Getränke und illegalen Betäubungsmittel zu sich zu nehmen und sich nach näherer Weisung durch seinen Bewährungshelfer bis zu viermal im Quartal Alkoholkontrollen zu unterziehen und Haar- oder Urinproben auf Betäubungsmittelrückstände untersuchen zu lassen (Ziffer 4.c. des Bewährungsbeschlusses). Zudem wurde er angewiesen, zum nächstmöglichen Zeitpunkt nach seiner Haftentlassung eine ambulante Alkoholtherapie anzutreten, ordnungsgemäß durchzuführen und nur mit Zustimmung der Bewährungshilfe und der Strafvollstreckungskammer abzubrechen (Ziffer 4.d. des Bewährungsbeschlusses). Solange eine Kostenzusage für die vorgenannte Therapie nicht gesichert ist, wurde er angewiesen, sich einer Suchtselbsthilfegruppe anzuschließen und Kontakt mit der Suchtberatung aufzunehmen (Ziffer 4.e. des Bewährungsbeschlusses). Der Beschwerdeführer wurde am 13.05.2022 entlassen.
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4. Aus dem Erstbericht des Bewährungshelfers vom 14.07.2022 ergibt sich, dass zwei Urinkontrollen vom 15.06.2022 und 08.07.2022 positive Ergebnisse auf Alkohol, Cannabis und Amphetamine erbrachten. Eine ambulante Therapie sei in Planung.
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Im Folgebericht des Bewährungshelfers vom 22.09.2022 wird mitgeteilt, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund der Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin und seiner Berufstätigkeit gegenwärtig nicht in der Lage sehe, eine Therapie durchzuführen. Die Suchtberaterin habe bestätigt, dass die Beantragung der Therapie mangels Motivation des Beschwerdeführers nicht fortgeführt werde. Eine weitere Urinkontrolle sei zwar negativ gewesen; jedoch sei die Probe verdünnt gewesen, weshalb eine Beeinflussung des Ergebnisses nicht ausgeschlossen werden könne.
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Daraufhin hörte die Strafvollstreckungskammer den Beschwerdeführer am 11.10.2022 an und teilte ihm mit, ihm hinsichtlich der Therapie „noch etwas Zeit“ zu geben, „bis er Arbeit/Familie besser organisiert hat“. Weiter „kündigte“ die Strafvollstreckungskammer „ihm aber den Widerruf an, falls nochmal eine UK positiv ist“.
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Mit Bericht vom 07.02.2023 teilte der Bewährungshelfer mit, dass eine Urinkontrolle vom 19.01.2023 hinsichtlich Alkohol positiv gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe dies mit der Einnahme eines alkoholhaltigen Hustensaftes erklärt. Eine Folgekontrolle vom 31.01.2023 sei erneut hinsichtlich Alkohol positiv gewesen.
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Daraufhin beantragte die Staatsanwaltschaft unter dem 22.02.2023 den Widerruf der Strafaussetzung. Zu diesem Antrag wurde dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 02.03.2023 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen gegeben. Mit Schreiben vom 20.03.2023 bat der Beschwerdeführer, von einem Widerruf Abstand zu nehmen und legte eine Bestätigung der Caritas vom 15.03.2023 über dort stattgehabte Beratungsgespräche, eine Kurzbeurteilung seines Arbeitgebers vom 10.03.2023 sowie eine Vaterschaftsanerkennungserklärung vor.
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Mit Beschluss vom 28.03.2023 widerrief die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen die Aussetzung der beiden Strafreste. Der Beschluss wurde ihm am 04.04.2023 zugestellt. Hiergegen ließ der Beschwerdeführer durch Rechtsanwaltsschriftsatz vom 04.04.2023, eingegangen am selben Tage, sofortige Beschwerde einlegen. Diese wurde in der Folge nicht weiter begründet.
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Das Rechtsmittel des Verurteilten ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
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1. Gegen den im Beschlusswege (§ 453 Abs. 1 S.1 StPO) ergehenden Widerruf der Reststrafenaussetzung ist nach § 453 Abs. 2 S.3 StPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft. Diese wurde auch nach § 311 Abs. 2 1. HS StPO fristgerecht binnen einer Woche ab Bekanntmachung des Beschlusses durch dessen Zustellung (§§ 311 Abs. 2 2. HS, 35 Abs. 2 S.1 StPO) sowie formgerecht (§ 306 Abs. 1 StPO) eingelegt und erweist sich damit insgesamt als zulässig.
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2. Der sofortigen Beschwerde ist jedoch in der Sache der Erfolg zu versagen.
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Die dem Verurteilten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung musste widerrufen werden, weil er gröblich und beharrlich gegen seine Bewährungsweisungen verstoßen und dadurch Anlass zur Besorgnis gegeben hat, dass er erneut Straftaten begehen wird (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB).
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a) Ein Weisungsverstoß ist gröblich, wenn aufgrund der Gesamtumstände von einer gesteigerten Erheblichkeit des Verstoßes ausgegangen werden muss. Dies setzt ein vorsätzliches, zumindest aber grob fahrlässiges Verhalten voraus, das für einen objektiven Betrachter nicht mehr nachvollziehbar oder gar verständlich sein darf (vgl. MüKo-Groß/Kett-Straub, StGB, 4. Auflage 2020, § 56 f Rn. 14).
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Hiervon muss vorliegend ausgegangen werden. Der Abstinenzweisung im Bewährungsbeschluss kommt eine herausgehobene Bedeutung zu. Nicht nur wurde einer der Anlasstaten durch eine alkoholbedingte Enthemmung des Beschwerdeführers begünstigt. Aus dem Bericht der Justizvollzugsanstalt vom 02.02.2022 ergibt sich, dass er auch beim Strafantritt positiv auf THC getestet wurde. Eine Kontaktaufnahme mit der Suchtberatung hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden. Da mithin von einer ungeklärten Alkohol- und Betäubungsmittelproblematik auszugehen war und ist, maß die Strafvollstreckungskammer der künftigen Abstinenz des Beschwerdeführers bei gleichzeitiger therapeutischer Unterstützung eine besondere Bedeutung für seine künftige Straffreiheit bei. Vor diesem Hintergrund wiegt es schwer, dass von bislang 6 Urinkontrollen lediglich eine einzige negativ war. Das Ergebnis einer weiteren Kontrolle war nicht aussagekräftig, weil die Probe verwässert war. Vier weitere Proben waren positiv auf Alkohol, davon zwei darüber hinaus auch auf Cannabis und Amphetamine. Hierbei ist besonders negativ zu bewerten, dass schon die erste Urinprobe lediglich einen Monat nach seiner Entlassung dreifach positiv ausfiel. Dies gilt umso mehr, als auch nach der eindringlichen Belehrung durch die Strafvollstreckungskammer und die konkrete Ankündigung des Widerrufs der Strafaussetzung im Rahmen der Anhörung am 11.10.2022 bereits im Januar 2023 erneut eine Urinprobe positiv getestet wurde. Nachweislich längere Phasen der Abstinenz konnten überhaupt nicht belegt werden. Dies erscheint für einen objektiven Betrachter nicht mehr nachvollziehbar und stellt sich mithin als gröblicher Weisungsverstoß dar.
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b) Dieser Weisungsverstoß ist auch beharrlich, d.h. wiederholt und fortgesetzt (MüKo, aaO., Rn. 15 zu § 56 f), da der Beschwerdeführer seit seiner Entlassung am 13.05.2022 von 6 Proben lediglich einmal verwertbar negativ getestet werden konnte, wohingegen 4 Proben positiv ausfielen, zwei davon gleich hinsichtlich dreier Substanzen.
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c) Dieser gröbliche und beharrliche Weisungsverstoß lässt auch besorgen, dass der Beschwerdeführer erneut Straftaten begehen wird. Dies ist dann der Fall, wenn unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Weisungsverstoß zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in einer kausalen Beziehung steht, dass die Gefahr weiterer Straftaten besteht (BVerfG NStZ-RR 2007/338). Dies muss beim Beschwerdeführer angenommen werden. Denn zumindest eine seine Anlasstaten wurde in alkoholbedingter Enthemmung begangen. Dies lässt besorgen, dass er auch künftig unter dem Einfluss von Alkohol und / oder sonstigen Betäubungsmitteln enthemmt sein wird und hierdurch die Begehung weiterer Straftaten begünstigt wird.
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d) Ein Absehen vom Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f Abs. 2 StGB kam nicht in Betracht. Die Strafe aus seiner Verurteilung vom 03.12.2019 war ursprünglich zur Bewährung ausgesetzt worden. Sie musste wegen weiterer Straftaten zunächst verlängert und schließlich widerrufen werden. Dies zeigt, dass mildere Maßnahmen bereits in der Vergangenheit nicht dazu geführt haben, den Beschwerdeführer von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Auch wenn der Senat diesen Umstand nicht in seine Entscheidungsfindung einfließen lässt, sei nicht unerwähnt, dass eine weitere Anklage der Staatsanwaltschaft I. vom 28.02.2023 (Az.: …) gegen den Beschwerdeführer vorliegt, die einen Diebstahl vom 21.02.2023 zum Gegenstand hat.
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e) Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer ist auch nicht deswegen aufzuheben, weil der Beschwerdeführer zu dem Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft und dem Bericht des Bewährungshelfers vom 07.02.2023 nicht erneut mündlich, sondern lediglich schriftlich angehört worden ist.
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(1) Nach § 453 Abs. 1 S.4 StPO soll das Gericht dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben, wenn es über einen Widerruf der Strafaussetzung zu entscheiden hat. Die Ausgestaltung als „Soll-Vorschrift“ macht die mündliche Anhörung damit grds. zwingend, sofern dadurch eine weitere Aufklärung des Sachverhalts möglich erscheint und dem keine schwerwiegenden Gründe entgegenstehen (Nestler in Münchner Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, Rn. 11 zu § 453). Jedoch bleiben hiervon Ausnahmen möglich; anerkannt sind etwa die Fälle, in denen der Verurteilte untergetaucht ist oder auf die mündliche Anhörung verzichtet hat.
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(2) Im vorliegenden Fall dufte die mündliche Anhörung ausnahmsweise unterbleiben. Denn die Strafvollstreckungskammer hat den Beschwerdeführer bereits am 11.10.2022 zu dessen Verstößen gegen die Abstinenzweisung mündlich angehört und der Beschwerdeführer hatte die Gelegenheit, sich im Rahmen dieser Anhörung zu einem drohenden Bewährungswiderruf zu äußern. Dieser wurde ihm vom Vorsitzenden für den Fall auch nur einer weiteren positiven Urinprobe ausdrücklich angekündigt. Binnen nur drei Monaten wurden jedoch erneut zwei weitere Urinproben positiv auf Alkohol getestet. Hierzu sowie zu dem darauf gestützten Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft wurde dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör gewährt, indem er mit Schreiben vom 02.03.2023 über die genannten Umstände informiert wurde und ihm die Gelegenheit eingeräumt wurde, sich hierzu binnen zwei Wochen schriftlich zu äußern. Die Strafvollstreckungskammer war sich auch des Umstandes bewusst, dass das Gesetz grds. eine (erneute) mündliche Anhörung vorsieht, hat von dieser jedoch „aufgrund der bereits erfolgten Anhörung vom 11.10.2022“ ausdrücklich Abstand genommen. Mit Schreiben vom 20.03.2023 hat der Beschwerdeführer zum Sachverhalt Stellung genommen, ohne hierbei jedoch auf die positiven Alkoholtestungen einzugehen.
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Aus alledem ergibt sich, dass der Beschwerdeführer zu dem wiederholten Weisungsverstoß bereits mündlich angehört worden war. Hierbei wurde ihm der Bewährungswiderruf für den Fall eines erneuten Weisungsverstoßes ausdrücklich angekündigt. Binnen nur kurzer Zeit kam es zu zwei weiteren Weisungsverstößen, zu denen sich der Beschwerdeführer äußern konnte und dies auch tat. Vor diesem Hintergrund erscheint eine erneute mündliche Anhörung als bloße Förmelei, die auch eine weitere Sachaufklärung oder eine bessere Verteidigungsmöglichkeit des Beschwerdeführers nicht erkennen lässt. Nur ergänzend sei bemerkt, dass der im Beschwerdeverfahren anwaltlich vertretene Beschwerdeführer gegenüber dem Senat weder das Unterbleiben einer erneuten mündlichen Anhörung gerügt noch weiter zu den Weisungsverstößen Stellung genommen hat.
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Nach alledem entspricht die Widerrufsentscheidung der Strafvollstreckungskammer der Sach- und Rechtslage. Auf die Begründung des Widerrufsbeschlusses wird insoweit ergänzend Bezug genommen.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.