Inhalt

OLG München, Beschluss v. 26.05.2023 – 2 Ws 357/23
Titel:

Eröffnungsbeschluss bei verbundenen Verfahren durch schlüssige Willenserklärung des Gerichts

Normenkette:
StPO § 206a, § 207
Leitsätze:
1. Ein Verbindungsbeschluss allein bewirkt die Eröffnung in der Regel auch dann nicht, wenn das führende Verfahren bereits eröffnet ist oder später eröffnet wird (BGH BeckRS 2020, 23531). Zur Eröffnung des Hauptverfahrens genügt jedoch die schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Verbindungsbeschluss, mit dem eine neue Anklage zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung mit einer bereits eröffneten und terminierten Sache verbunden wird, dokumentiert hinreichend den Willen des Gerichts, diese Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen (vgl. OLG Hamburg BeckRS 2019, 5437 Rn. 14–18 mwN). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verbindung, Eröffnungsbeschluss
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 02.05.2023 – 28 NBs 474 Js 150725/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32727

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft München I wird der Beschluss des Landgerichts München I vom 02.05.2023 aufgehoben.

Gründe

I.
1
Unter dem 17.08.2022 erhob die Staatsanwaltschaft München I im Verfahren 148 Js 140294/22 Anklage gegen den Verurteilten wegen mehrerer Verstöße gegen Weisungen der Führungsaufsicht zum Strafrichter des Amtsgerichts München. In der Zuleitungsverfügung wurde bereits darauf hingewiesen, dass in Kürze im Verfahren 474 Js 150725/22 Anklage zum Amtsgericht München – Schöffengericht wegen sexueller Nötigung und weiteren Delikten gegen den Verurteilten erhoben werden würde. Eine Verbindung der beiden Verfahren wurde angeregt.
2
Unter dem 30.08.2022 erhob die Staatsanwaltschaft München I sodann im Verfahren 474 Js 150725/22 Anklage gegen den Verurteilten zum Amtsgericht München – Schöffengericht.
3
Mit Verfügung vom 16.09.2022 übersandte der Strafrichter die Akten des Verfahrens 844 Ds 148 Js 1402947/22 an das Schöffengericht mit der Bitte um Prüfung der Übernahme.
4
Mit Beschluss vom 09.11.2022 ließ das Schöffengericht unter dem Aktenzeichen 852 Ls 474 Js 150725/22 die Anklage der Staatsanwaltschaft vom 30.08.2022 zu Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Mit Verfügung vom selben Tage bestimmte es wiederum unter dem Aktenzeichen 852 Ls 474 Js 150725/22 Termin zur Hauptverhandlung auf den 01.02.2023.
5
Mit Beschluss vom 20.12.2022 unter dem Aktenzeichen 852 Ls 474 Js 150725/22 wurde das Verfahren 844 Ds 148 Js 140294/22 durch das Schöffengericht übernommen; die Verfahren 852 Ls 474 Js 150725/22 und 844 Ds 148 Js 140294/22 wurden „zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden“, wobei erstgenanntes Verfahren führt. Mit Verfügung vom 16.01.2023 wurden die für das Verfahren 844 Ds 148 Js 140294/22 benannten Zeugen zum Hauptverhandlungstermin geladen.
6
In der Hauptverhandlung vom 01.02.2023 wurden die Anklageschriften beider Verfahren verlesen und über beide Anklagen verhandelt. Mit Urteil vom selben Tage wurde der Verurteilte wegen der den beiden Anklagen zugrunde liegenden Taten zur Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 6 Monaten verurteilt.
7
Die Staatsanwaltschaft legte mit Schreiben vom 01.02.2023, eingegangen am 02.02.2023, der Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.02.2023, eingegangen am selben Tage, Berufung gegen das Urteil ein.
8
Mit Verfügung vom 23.02.2023 äußerte die Vorsitzende der Berufungskammer Bedenken, ob hinsichtlich der Anklage im Verfahren 844 Ds 148 Js 140294/22 ein wirksamer Eröffnungsbeschluss vorliegt und gab der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Verfügung vom 30.03.2023 vertrat die Staatsanwaltschaft die Meinung, dass zumindest vom Vorliegen eines konkludenten Eröffnungsbeschlusses auszugehen sei. Mit Beschluss vom 02.05.2023 stellte die Berufungskammer das Verfahren „hinsichtlich der dem Angeklagten mit Anklage vom 17.08.2022 (ursprünglich 148 Js 140294/22) zur Last gelegten Taten gemäß § 206a StPO ein“.
9
Gegen diesen am 03.05.2023 zugestellten Beschluss legte die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 09.05.2023, eingegangen am selben Tage, sofortige Beschwerde ein und begründete diese zugleich. Die Generalstaatsanwaltschaft legte die Akten dem Senat am 16.05.2023 vor und vertrat das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft.
II.
10
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig und in der Sache begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
11
1. Gegen den Einstellungsbeschluss nach § 206a Abs. 1 StPO ist nach dessen Abs. 2 das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft. Diese wurde auch formgerecht (§ 306 Abs. 1 StPO) binnen einer Woche ab der Bekanntmachung des Beschlusses durch dessen Vorlegung (§§ 311 Abs. 2, 35 Abs. 2 S.1, 41 S.1 StPO) eingelegt und erweist sich mithin insgesamt als zulässig.
12
2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Denn ein Verfahrenshindernis, das eine Einstellung nach § 206a StPO nach sich ziehen würde, lag nicht vor.
13
a) Nach § 206a StPO kann das Gericht das Verfahren einstellen, wenn sich nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis herausstellt. Ein solches stellt grds. auch das Fehlen eines – in der Berufungsinstanz nicht mehr nachholbaren (BGH NJW 1985, 1720) – Eröffnungsbeschlusses dar.
14
b) Nach § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Aus Gründen der Rechtsklarheit ist bei verbundenen Strafsachen grundsätzlich ausdrücklich schriftlich über die Eröffnung hinsichtlich jeder einzelnen Anklage zu entscheiden; ein Verbindungsbeschluss allein bewirkt die Eröffnung in der Regel auch dann nicht, wenn das führende Verfahren bereits eröffnet ist oder später eröffnet wird (BGH NStZ-RR 2020, 354 m.w.N.). Zur Eröffnung des Hauptverfahrens genügt jedoch die schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen. In Fällen, in denen das den Eröffnungsbeschluss enthaltende Schriftstück diesen Willen nicht sicher erkennen lässt, kann aus anderen Urkunden oder Aktenbestandteilen eindeutig hervorgehen, dass der zuständige Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens tatsächlich beschlossen hat (st. Rspr.; s. BGH, Beschluss vom 17.09.2019 – 3 StR 229/19, NStZ 2020, 236 f. mwN).
15
c) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Mit Beschluss vom 09.11.2022 hat das Gericht zunächst die Anklage vom 30.08.2022 im Verfahren 852 Ls 474 Js 150725/22 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Schöffengericht eröffnet. Mit Verfügung vom selben Tage hat es Termin zur Hauptverhandlung auf den 01.02.2023 bestimmt.
16
Am 20.12.2022 beschloss das Gericht sodann nicht lediglich die Verfahrensverbindung: vielmehr verband es die Verfahren 852 Ls 150725/22 und 844 Ds 148 Js 140294/22 „zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung“. Hierdurch jedoch brachte das Gericht unzweideutig seinen Willen zum Ausdruck, auch das bis dato noch nicht eröffnete Verfahren nun in die Hauptverhandlung zu überführen, mithin notwendigerweise das Hauptverfahren auch hinsichtlich dieses Verfahrens zu eröffnen. Denn andernfalls wäre eine „gemeinsame Verhandlung und Entscheidung“ gar nicht möglich. Folgerichtig erging sodann auch am 16.01.2023 eine entsprechende Ladungsverfügung hinsichtlich der dieses Verfahren betreffenden Zeugen.
17
Aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles ist daher in dem Verbindungsbeschluss „zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung“ der jedenfalls schlüssige Eröffnungsbeschluss in Bezug auf das Verfahren 844 Ds 148 Js 140294/22 zu erblicken. Ein Verbindungsbeschluss, mit dem eine neue Anklage zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung mit einer bereits eröffneten und terminierten Sache verbunden wird, dokumentiert hinreichend den Willen des Gerichts, diese Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 04.04.2019 – 2 Rev 7/19, BeckRS 2019, 5437 Rn. 14 – 18 mwN).
18
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Formulierung des Protokolls, derzufolge „die Anklage vom 30.08.2022 und 17.08.2022 mit Eröffnungsbeschluss … vom 09.11.2022 zur Hauptverhandlung zugelassen … wurde“. Zwar ist diese Aussage objektiv unzutreffend. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts begründet diese Formulierung jedoch keine Zweifel dahingehend, „dass die Eröffnungsentscheidung durch den Amtsrichter für die Anklage vom 17.08.22 tatsächlich nicht getroffen, sondern versehentlich übersehen worden ist“. Vielmehr liegt nahe, dass das Schöffengericht gerade vom Vorliegen einer Eröffnungsentscheidung ausgegangen ist, wie es sie am 20.12.2022 durch den Verbindungsbeschluss „zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung“ getroffen hatte. Die spätere falsche Bezeichnung im Protokoll vermag hieran nichts mehr zu ändern.
19
c) Nach alledem liegt ein Verfahrenshindernis nicht vor, so dass für die entsprechende (Teil-) Einstellung des Verfahrens kein Raum war. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin war der Einstellungsbeschluss daher aufzuheben.
20
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.