Titel:
Eilrechtsschutz des Nachbarn gegen Baugenehmigung, Abstandsflächen, Privates Wegegrundstück, Geh- und Fahrtrecht.
Normenketten:
BayBO Art. 6
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 3
Schlagworte:
Eilrechtsschutz des Nachbarn gegen Baugenehmigung, Abstandsflächen, Privates Wegegrundstück, Geh- und Fahrtrecht.
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32559
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az. M 9 K 23.866) der Antragstellerin gegen den Bescheid des Landratsamts Pf. vom 25. Januar 2023 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,-- EUR festgesetzt.
Gründe
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Die Antragstellerin wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses.
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Die Antragstellerin ist die Wohnungseigentümergemeinschaft des Anwesens …Straße 52, … … auf dem Grundstück Fl.-Nr. 869/1, Gemarkung … Ebenfalls im Eigentum der Mitglieder der Antragstellerin steht das westlich daran angrenzende Wegegrundstück Fl.-Nr. 869/8, Gemarkung … Wiederum westlich an dieses Grundstück grenzt das Vorhabengrundstück Fl.-Nr. 866/1, Gemarkung …, an, das derzeit im nördlichen Grundstücksbereich mit einem Wohnhaus bebaut ist. Das genannte Wegegrundstück ist u.a. mit einem Geh- und Fahrtrecht zugunsten des Eigentümers des Vorhabengrundstücks belastet. Es dient der Erschließung sowohl des Vorhabengrundstücks als auch des Grundstücks der Antragstellerin.
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Mit Bescheid vom 31. Januar 2022 erteilte der Antragsgegner den Beigeladenen auf deren Antrag hin einen Vorbescheid für den Neubau eines Wohnhauses mit Garagen und Carport. Abgefragt war die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens. In dem Vorbescheid, auf den im Übrigen ebenso wie auf die genehmigten Bauvorlagen Bezug genommen wird, wurde unter Nr. 4.4.2 ein Hinweis aufgenommen, dass bezüglich der fehlenden Abstandsflächen zu dem Grundstück Fl.-Nr. 869/8, Gemarkung …, mit dem Bauantrag ein Antrag auf Abweichung einzureichen sei.
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Mit hier streitgegenständlichem Bescheid des Antragsgegners vom 25. Januar 2023 wurde den Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses mit Garagen, Carport und Stellplätzen erteilt. Der Abstand des Gebäudes zum östlich angrenzenden Wegegrundstück beträgt – sich von Norden nach Süden leicht verjüngend – etwas mehr als 0,60 m. Die Wandhöhe der an dieser Seite 23,49 m langen Außenwand beträgt 6,14 m, wobei sich an dieser Gebäudeseite zusätzlich Dachgauben mit einer dortigen Wandhöhe von 8,36 m befinden. Im Rahmen der Baugenehmigung erteilte der Antragsgegner eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen. In der Begründung des Bescheids wird dazu ausgeführt, nachbarliche Belange würden nicht unzumutbar beeinträchtigt. Eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung des östlich gelegenen Nachbargrundstücks sei gegeben. Zudem halte das Vorhaben die Abstandsflächen bis zur Wegmitte des Grundstücks Fl.-Nr. 869/8, Gemarkung … ein. Es bestehe eine Dienstbarkeit an diesem Grundstück, weshalb rechtlich gesichert sei, dass die Funktion der Wegeflächen nicht geändert und das Grundstück nicht bebaut werde. Die Beigeladenen verfügten nur über ein sehr schmales Grundstück, welches unter Einhaltung der Abstandsflächen nicht neu bebaubar wäre. Auch das Bestandsgebäude halte die Abstandsflächen nicht ein. Auf den Bescheid wird ebenso wie auf die genehmigten Bauvorlagen im Übrigen Bezug genommen.
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Hiergegen erhob die Antragstellerin mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 23. Februar 2023, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (Az. M 9 K 23.866), über die noch nicht entschieden wurde.
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Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 23. März 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten beantragen,
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die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Landratsamtes Pf.a. d. Ilm vom 25.01.2023, Az.: … … … … …, anzuordnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das genehmigte Bauvorhaben verletze die Antragstellerin in ihren drittschützenden Nachbarrechten. Das Vorhaben halte die erforderlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO nicht ein. Die Abstandsflächentiefe an der östlichen Außenwand an deren südöstlicher Ecke betrage bei einer Wandhöhe von 6,18 m wegen einer Aufschüttung von 0,04 m und unter Berücksichtigung eines Drittels der Dachhöhe von 1,25 m insgesamt 2,97 m und damit 3 m. An der nordöstlichen Gebäudeecke ergäben sich wegen einer Abgrabung vom 0,11 m insgesamt 2,91 m bzw. 3 m. Zu beachten sei, dass im Bereich der südlichen Dachgaube – anders als im Eingabeplan zum Kellergeschoss dargestellt – die Abstandsflächentiefe 3,56 m betrage. Richtigerweise müsse, da die Dachhöhe im Bereich der Dachgauben 1,52 m betrage, 0,5 m (ein Drittel) für die Dachgaube hinzugerechnet werden und nicht 0,05 m. Da der Abstand zum östlich angrenzenden Grundstück nur 0,62 m bzw. 0,64 m betrage, seien die Abstandsflächen nicht eingehalten. Daran ändere auch das an diesem Wegegrundstück bestehende Geh- und Fahrtrecht nichts. Denn zum einen dürfe mangels unmittelbarer Anwendbarkeit dieses nicht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO bis zur Mitte für Abstandsflächen in Anspruch genommen werden. Zum anderen sei auch Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO nicht anwendbar. Dies folge daraus, dass bei einer bloßen Belastung mit einem Geh- und Fahrtrecht schon nicht die Überbaubarkeit ausgeschlossen sei. Außerdem stehe das Wegegrundstück hier jedenfalls vollständig dem Grundstück der Antragstellerin für Abstandsflächen zur Verfügung, da es nicht den angrenzenden Grundstücken je zur Hälfte, sondern dem östlichen Grundstück der Antragstellerin ganz zuzurechnen sei. Dies folge daraus, dass das Wegegrundstück und das östlich angrenzende Grundstück demselben Eigentümer gehörten. Weiterhin läge jedenfalls eine unzulässige Abstandsflächenüberdeckung mit den Abstandsflächen des Gebäudes der Antragstellerin vor. Schließlich seien die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nicht gegeben, da eine auch nach der Gesetzesänderung noch erforderliche Atypik nicht vorliege – ein Regelbeispiel nach Art. 63 Abs. 2 Satz 2 BayBO liege nicht vor und es fehle auch sonst schon wegen des rechteckigen Grundstückszuschnitts an einer vom Regelfall abweichenden Situation mit Blick auf das Vorhabengrundstück – und eine Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Belange nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Auf den Schriftsatz wird im Übrigen Bezug genommen.
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Der Antragsgegner beantragt
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Berechnung der Antragstellerseite hinsichtlich der südlichen der beiden an der Ostseite geplanten Gauben sei nicht zutreffend. Die Wandhöhe berechne sich aus 0,02 m + 8,36 m + 1/3 * 0,15 m (Dachhöhe der Gaube) = 8,43 m, sodass sich unter Berücksichtigung des Faktors 0,4 eine Abstandsfläche von 3,372 m ergebe. Insbesondere sei eine Anrechnung eines Drittels der übrigen Dachhöhe (bis zum First) nicht erforderlich, da es nur auf die Dachhöhe der Gaube ankomme. Auf dieser Grundlage treffe die Aussage in der Begründung der Abweichung, dass die Abstandsflächen des Vorhabens nicht jenseits der Mitte des Zufahrtsweges fielen, auch im Bereich der Gauben zu. Hinsichtlich der Überdeckung der Abstandsflächen werde darauf hingewiesen, dass diese nach aktuell geltendem Abstandsflächenrecht geringer sei als nach der damaligen Rechtslage, die der Plandarstellung zugrunde liege. Eine Überdeckung bestehe nur im Bereich des Vorbaus des Gebäudes der Antragstellerin. Sie habe eine Tiefe von 38 cm auf einer Länge von 6,83 m. Schließlich werde mit Blick auf die Frage der Bebaubarkeit des Vorhabengrundstücks darauf hingewiesen, dass schon die Bestandsbebauung auf dem Vorhabengrundstück die Abstandsflächen nicht einhalten könne. Die seitlichen Abstände betrügen nur ca. 2,30 m bzw. 1 m. Auf den Schriftsatz wird im Übrigen Bezug genommen.
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Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Klageverfahren Az. M 9 K 23.866 und auf die vorgelegten Behördenakten (sowohl Baugenehmigung als auch Vorbescheid) samt genehmigter Bauvorlagen Bezug genommen.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 25. Januar 2023 hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist. Denn die Klage in der Hauptsache wird voraussichtlich Erfolg haben, da die streitgegenständliche Baugenehmigung nach summarischer Prüfung die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften des Art. 6 BayBO und damit eine im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende und zugunsten der Antragstellerin drittschützende Vorschrift verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung hat gem. § 212a Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) keine aufschiebende Wirkung. Erhebt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung eine Anfechtungsklage, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 1 Nr. 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessungsentscheidung darüber, ob die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechenden Interessen oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden Interessen höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung hat das Verwaltungsgericht insbesondere die Erfolgsaussichten der Hauptsache als Indiz heranzuziehen, wie sie sich aufgrund der summarischen Prüfung im Zeitpunkt der Entscheidung darstellen. Wird die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben, so überwiegt regelmäßig das (öffentliche) Interesse am Sofortvollzug das Interesse des Antragstellers, da kein schutzwürdiges Interesse daran besteht, von dem Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 85 ff.). Sind die Erfolgsaussichten hingegen offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23/73 – BVerfGE 35, 382 – juris; zur Bewertung der Interessenlage vgl. BayVGH, B.v. 14.1.1991 – 14 CS 90.3166 – juris).
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Dies zugrunde gelegt, überwiegt vorliegend das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem entgegenstehenden Vollzugsinteresse der Beigeladenen, da die Klage der Antragstellerin in der Hauptsache voraussichtlich Erfolg haben wird. In der hier vorliegenden Konstellation der Drittanfechtung verspricht die Klage der Antragstellerin in der Hauptsache nur dann Erfolg, wenn durch die streitgegenständliche Baugenehmigung öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, welche dem Schutz der Antragstellerin dienen und Gegenstand des hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens nach Art. 59 Satz 1 BayBO sind (vgl. BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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Dies ist hier wegen einer voraussichtlichen Verletzung des insoweit die Antragstellerin schützenden Art. 6 BayBO der Fall. Die abstandsflächenrechtlichen Anforderungen an das Vorhaben waren vorliegend noch nicht mit dem Vorbescheidsantrag abgefragt und standen daher mit dem Baugenehmigungsantrag erstmalig zur bauaufsichtlichen Prüfung. Die gesetzlich vorgesehenen Abstandsflächen zu dem östlich angrenzenden Grundstück der Mitglieder der Antragstellerin sind vorliegend nach summarischer Prüfung nicht eingehalten. Unabhängig davon, wie sich die Abstandsflächen des unstreitig abstandsflächenpflichtigen Gebäudes im Detail berechnen, liegen jedenfalls schon die Abstandsflächen bei Berücksichtigung der gesetzlichen Mindesttiefe von 3 m jedenfalls nicht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem Vorhabengrundstück selbst (1.). Zugleich dürfen sich die Abstandsflächen vorliegend nach summarischer Prüfung nicht – auch nicht teilweise – auf das östlich angrenzende Wegegrundstück erstrecken (2.) und kommt eine Abweichung nicht in Betracht (3.). Schließlich begründet die verletzte Norm eine drittschützende Rechtsposition zugunsten der Antragstellerin (4.)
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1. Die Abstandsflächen liegen hier nach summarischer Prüfung nicht entsprechend Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem Vorhabengrundstück selbst. Denn die Tiefe der Abstandsfläche beträgt nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO jedenfalls mindestens 3 m. Auf dem Vorhabengrundstück selbst besteht zur östlichen Grundstückgrenze ein Abstand von nur etwas mehr als 0,60 m.
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2. Zugleich darf vorliegend das östlich angrenzende Wegegrundstück nach summarischer Prüfung nicht – auch nicht bis zu der Mitte des Weges – für die Abstandsflächen des streitgegenständlichen Vorhabens in Anspruch genommen werden. Ein Fall von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO liegt mangels öffentlicher Verkehrs-, Grün- und Wasserfläche nicht vor, da es sich um eine private Zuwegung handelt. Auch Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO greift hier im Ergebnis nicht. Eine Abstandsflächenübernahme (Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 BayBO) liegt nicht vor. Dahinstehen kann, ob – wie der Antragsgegner annimmt – für das Wegegrundstück wegen des eingetragenen Geh- und Fahrtrechts ein Fall des Ausschlusses der Bebaubarkeit (Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO) vorliegt. Denn selbst wenn man dies – zugunsten der Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens – unterstellt, dürfen sich hier die Abstandsflächen des Vorhabens nicht auf das Wegegrundstück erstrecken, da die Beigeladenen aufgrund der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Eigentumsverhältnisse keinen Anspruch haben, die Zuwegung für eigene Abstandsflächen in Anspruch zu nehmen. Zwar sind bei nicht überbaubaren Flächen privater Grundstücke diese abstandsflächenrechtlich grundsätzlich – dem Rechtsgedanken des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO entsprechend und mit Blick vor allem auf den grundrechtlichen Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV, Art. 3 Abs. 1 GG) – den benachbarten bebaubaren Grundstücken zu gleichen Teilen zugeordnet und dürfen somit jeweils bis zur Mitte für Abstandsflächen beansprucht werden (vgl. BayVGH, B.v. 29.9.2004 – 1 CS 04.340 – juris Rn. 23). Dies gilt allerdings nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bei grundrechtlich geleiteter ergänzender Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO wegen des insoweit anzunehmenden Vorrangs der Eigentumsgarantie vor dem Gleichbehandlungsgrundsatz nur für den Fall, dass die an die Zuwegung angrenzenden Grundstücke und das Wegegrundstück selbst (i.e. die nicht überbaubaren Flächen) jeweils verschiedenen Eigentümern gehören. Dies folgt daraus, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO als eine die Eigentümerbefugnisse beschränkende Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht weiter gehen darf, als es der Zweck der Regelung erfordert. Nicht überbaubare Grundstücksflächen stehen daher, wenn ein Grundstück desselben Eigentümers angrenzt, nur diesem für Abstandsflächen zur Verfügung (vgl. BayVGH, B.v. 19.4.2023 – 2 ZB 22.1730 – juris Rn. 6; B.v. 29.9.2004 – 1 CS 04.340 – juris Rn. 23 ff., insbesondere Rn. 25 f.).
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Nach diesen Grundsätzen dürfen sich die Abstandsflächen des streitgegenständlichen Vorhabens nicht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO auf das östlich angrenzende Wegegrundstück erstrecken. Das Wegegrundstück und das östlich an dieses angrenzende Grundstück befinden sich in der Hand derselben Eigentümer. Damit grenzt an das Wegegrundstück an einer Seite ein Grundstück des Eigentümers der nicht überbaubaren Fläche und auf der gegenüberliegenden Seite ein Grundstück eines Dritten an. Damit ist die nicht überbaubare Fläche in vollem Umfang dem hier östlich angrenzenden Grundstück derselben Eigentümer zuzuordnen.
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An diesem Ergebnis ändert auch das an dem Wegegrundstück bestehende Geh- und Fahrtrecht zugunsten des Eigentümers des Vorhabengrundstücks nichts. Zwar ist anzuerkennen, dass sich ein auf dem vorliegenden Vorhabengrundstück bauender Bauherr wegen des dinglichen Geh- und Fahrtrechts auf eine stärkere Rechtsposition in Bezug auf die konkreten Grundstücke berufen kann als ein Bauherr, der gestützt „nur“ auf den grundrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in entsprechender Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO die abstandsflächenrechtliche Inanspruchnahme einer benachbarten nicht bebaubaren Fläche bis zu deren Mitte geltend macht. Denn zugunsten des Eigentümers des hiesigen Vorhabengrundstücks besteht das dingliche Recht, das benachbarte Wegegrundstück in begrenztem Umfang zu nutzen. Allerdings kann hieraus nicht geschlossen werden, dass wegen dieses Rechts der in der Rechtsprechung anerkannte und oben dargelegte Grundsatz der vollständigen abstandsflächenrechtlichen Zuordnung des Wegegrundstücks zu dem östlichen Nachbargrundstück des- bzw. derselben Eigentümer hier nicht greift. Denn auch in der vorliegenden Konstellation darf die Inhalts- und Schrankenbestimmung, die die Möglichkeit der abstandsflächenrechtlichen Inanspruchnahme des nicht bebaubaren Wegegrundstücks darstellt, nicht weiter gehen als erforderlich. Das Geh- und Fahrtrecht gibt zwar u.a. das Recht, das belastete Grundstück in gewisser – und beschränkter – Weise zu nutzen, nämlich insbesondere es zu begehen und zu befahren. Darüber hinaus und vor allem mit Blick auf die Nutzung für die Abstandsflächen eines eigenen Gebäudes gibt das Geh- und Fahrtrecht jedoch kein (Nutzungs-)Recht. Das Geh- und Fahrtrecht ist somit zu berücksichtigen im Rahmen der – hier offen gelassenen – Frage, ob überhaupt ein Fall der Nichtbebaubarkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO vorliegt. Streng zu trennen hiervon ist die nachgelagerte Frage, ob die abstandsflächenrechtlich nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO zulässige Inanspruchnahme einer nicht überbaubaren Fläche den Anliegern jeweils zur Hälfte – so der Normalfall – oder einem Anlieger ganz – so bei Eigentümergleichheit wie hier – zusteht. Bei letzterer Frage kommt es auf das Geh- und Fahrtrecht nicht mehr an, da dieses mit der Frage der Inanspruchnahme für eigene Abstandsflächen – anders als etwa eine Abstandsflächendienstbarkeit, die explizit das Recht zur Inanspruchnahme für Abstandsflächen beinhaltet – nichts zu tun hat. Es bleibt damit dabei, dass das Wegegrundstück hier aus Gründen des grundrechtlichen Eigentumsschutzes abstandsflächenrechtlich vollständig der Antragstellerin bzw. ihren Mitgliedern zugerechnet wird.
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3. Eine Abweichung hinsichtlich der somit entgegen den Regelungen des Art. 6 BayBO auf das Wegegrundstück fallenden östlichen Abstandsflächen des Vorhabens kommt nach summarischer Prüfung ebenfalls nicht in Betracht. Eine solche ist weder beantragt noch wurde sie erteilt, da sowohl die Beigeladenen als auch der Antragsgegner die Abweichung nur auf die – verhältnismäßig geringere – Überdeckung mit den Abstandsflächen des Antragstellergebäudes beziehen und dabei von der Prämisse ausgehen, dass das Wegegrundstück bis zu dessen Mitte für die Abstandsflächen des Vorhabens in Anspruch genommen werden kann, was – wie gezeigt – aber nicht der Fall ist. Nach summarischer Prüfung bestehen unabhängig davon auch durchgreifende Bedenken hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 BayBO. Ein Fall von Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO a.F. bzw. Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO n.F. liegt schon wegen der erheblich größeren Grundfläche des nunmehrigen Vorhabens im Vergleich zum Bestandsgebäude nicht vor. Auch im Übrigen ist nach summarischer Prüfung wegen der auf dem Vorhabengrundstück verbleibenden Abstandsfläche von einer Tiefe von nur etwas mehr als 0,6 m statt mindestens 3 m nicht erkennbar, dass eine Abweichung unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein könnte.
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4. Die Antragstellerin kann die Nichteinhaltung von Abstandsflächen nach summarischer Prüfung rügen, da sie Nachbarin im baurechtlichen Sinne ist, die Vorschriften der Bayerischen Bauordnung über die Einhaltung von Abstandsflächen in ihrer Gesamtheit dem Nachbarschutz dienen (vgl. etwa BayVGH, B.v. 13.12.2004 – 20 CS 04.2915 – juris Rn. 13 m.w.N.) und es sich um eine Nachbarrechtsposition handelt, die die insoweit rechtsfähige Wohnungseigentümergemeinschaft geltend machen kann (vgl. etwa BayVGH, B.v. 12.9.2005 – 1 ZB 05.42 – juris Rn. 13).
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Nach alldem wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die streitgegenständliche Baugenehmigung angeordnet.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Eine Kostentragung der Beigeladenen nach § 154 Abs. 3 Halbs. 1 VwGO scheidet mangels Antragstellung aus. Da sie sich diesem Kostenrisiko nicht ausgesetzt haben, tragen die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten billigerweise selbst, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und Nr. 9.7.1 i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.