Titel:
Straftaten bis 90 Tagessätzen sind beim Chancen-Aufenthaltsrecht außer Betracht
Normenkette:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 104c Abs. 1
Leitsätze:
1. Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse iSd § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist anzunehmen, wenn nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen Strafvorschriften verstoßen wurde. Dabei sind Verstöße im Sinne dieser Vorschrift nur dann unerheblich, wenn sie sowohl vereinzelt als auch geringfügig sind. Vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) stellen in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar. Bei Straftaten, die zu einer Verurteilung mit mehr als 30 Tagessätzen geführt haben, ist zudem in der Regel ebenfalls keine Geringfügigkeit anzunehmen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch Einführung des sogenannten Chancen-Aufenthaltsrechts gemäß § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ergibt sich keine Veränderung der Maßstäbe zur Annahme der Geringfügigkeit strafrechtlicher Verstöße. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellenden Interessenabwägung sind die Wertungen des § 104c AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG soll Personen, welche sich zum 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben und auch weiterhin geduldet sind, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a und Nr. 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Bei der Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis bleiben zudem Verurteilungen von bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht (§ 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzgeber hat damit in den Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 AufenthG vorliegen, zum Ausdruck gebracht, dass bestehenden Ausweisungsinteressen bei dem berechtigten Personenkreis im dort geregelten Umfang kein durchschlagendes Gewicht zukommt. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisungsinteresse, Chancen-Aufenthaltsrecht, Interessenabwägung, Verstöße, Strafrecht, Verurteilung, Tagessätze, Bleibeinteresse, Straftäter
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32546
Tenor
I.Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juli 2022 wird aufgehoben.
II.Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen ihre Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist nigerianische Staatsangehörige und wurde am … … 1991 in Nigeria geboren. Nach eigenen Angaben reiste sie erstmalig am 1. September 2016 ins Bundesgebiet ein und stellte am 9. September 2016 einen Asylantrag.
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Mit Bescheid vom 25. April 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), auf Asylanerkennung (Ziff. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Ziff. 3) als offensichtlich unbegründet ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziff. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihr die Abschiebung zuvorderst nach Nigeria angedroht (Ziff. 5). Das Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6). Die Klägerin hat hiergegen Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben (M 21 K 18.38501), welche mit Urteil vom 6. April 2018 rechtskräftig abgewiesen wurde, sowie einen entsprechenden Eilantrag gestellt (M 21 S 17.38501), welcher mit Beschluss vom 12. Februar 2018 abgelehnt wurde.
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Der Klägerin wurde nach der gerichtlichen Ablehnung ihres Eilantrags ab dem 15. März 2018 eine befristete Duldung erteilt, welche regelmäßig verlängert wurde. Hierbei war sie vom 30. November 2020 bis zum 1. September 2022 im Besitz einer Duldung mit der Nebenbestimmung „für Personen mit ungeklärter Identität“. Bei den Verlängerungen der Duldung wurde die Klägerin jeweils auf ihre Mitwirkungspflichten hinsichtlich einer Passbeschaffung hingewiesen. Zudem hat die Klägerin mehrfach erklärt, nicht freiwillig nach Nigeria ausreisen zu wollen.
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Am 28. November 2019 legte die Klägerin die Vereinbarung eines Botschaftstermins für den 19. Mai 2020 vor, welcher wegen der Corona-Pandemie nicht stattgefunden hat.
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Die Klägerin hat 3 Kinder, welche 2017, 2019 und 2022 geboren wurden.
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Mit Urteil des Amtsgerichts Dachau vom … November 2021, rechtskräftig seit 24. November 2021, wurde die Klägerin wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Das Urteil erging auf einen Einspruch gegen einen Strafbefehl. Hintergrund war, dass die Klägerin trotz Belehrung und vollziehbarer Ausreisepflicht der Verpflichtung zur Beantragung eines Passes oder Passersatzes nicht nachgekommen ist, obwohl ihr dies möglich und zumutbar gewesen wäre. Hinsichtlich des Zeitraums von Dezember 2019 bis zum 16. November 2021, welcher vom ursprünglichen Strafbefehl noch mitumfasst gewesen ist, wurde das Verfahren gemäß § 154a Abs. 2 StPO beschränkt.
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Mit Schreiben vom 30. Januar 2022 wurde die Klägerin zur beabsichtigten Ausweisung angehört. Hierzu nahm ihre Bevollmächtigte mit Schreiben vom 15. März 2022 Stellung. Es liege kein Ausweisungsinteresse vor, da die Verurteilung als vereinzelt und geringfügig einzustufen sei. Der zugrunde liegende Sachverhalt liege bereits 2 Jahre zurück. Dem Urteil liege lediglich die fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Zeitraum von Februar 2018 bis Dezember 2019 zugrunde. Ab Dezember 2019 bis zum Urteil habe die Klägerin nachweisbar zahlreiche Bemühungen zur Erlangung eines Termins bei der Botschaft angestellt, weshalb für diesen Zeitraum keine Verurteilung erfolgt sei. Aufgrund der zahlreichen nachgewiesenen Bemühungen sowie den objektiven pandemiebedingten Schwierigkeiten im Buchungssystem der Botschaft sei ersichtlich, dass die Klägerin aktiv und regelmäßig bei der Beibringung eines Passes mitgewirkt habe. Insoweit fehle es an einer Wiederholungsgefahr. Es wurden mehrere Nachweise hinsichtlich der Kontaktaufnahme mit der nigerianischen Botschaft vorgelegt.
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Mit Bescheid vom 18. Juli 2022 wurde die Klägerin aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen, welches auf die Dauer von 3 Jahren beginnend ab der Ausreise befristet wurde (Ziffer 2). Vom Aufenthalt der Klägerin gehe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland aus. Aufgrund der abgeurteilten vorsätzlichen Straftat bestehe ein schweres Ausweisungsinteresse. Bei der Verurteilung handele es sich auch nicht um eine geringfügige strafrechtliche Verfehlung. Mit Blick auf die Kinder bestehe ein schweres Bleibeinteresse. Das Asylverfahren des erstgeborenen Sohnes sei allerdings bestandskräftig abgelehnt worden. Hinsichtlich der zweitgeborenen Tochter habe das Bundesamt den Asylantrag abgelehnt, wobei hierzu noch ein Klageverfahren anhängig sei. Daher komme dem Bleibeinteresse nur geringes Gewicht zu. Die Ausweisung sei aus Gründen der Generalprävention geboten. Im Rahmen der Abwägung überwiege das Interesse an der Ausreise auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Schließlich sei die Ausweisung auch verhältnismäßig und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot ermessensgerecht.
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Am 3. August 2022 legte die Klägerin eine Terminvereinbarung mit der nigerianischen Botschaft für den 16. November 2022 vor.
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Am … August 2022 hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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den Bescheid vom 18. Juli 2022 aufzuheben, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, die Wiedereinreisesperre unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts auf Null, höchsthilfsweise auf 2 Monate zu befristen.
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Eine Begründung der Klage erfolgte zunächst nicht.
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Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 30. August 2022 beantragt,
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Hinsichtlich der Begründung wurde auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen.
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Die Klägerin stellte am 27. April 2023 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG und legte einen von März 2023 bis März 2028 gültigen nigerianischen Nationalpass vor. Derzeit ist die Klägerin im Besitz einer bis zum 31. August 2023 befristeten Duldung aus familiären Gründen.
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Mit Schriftsatz vom *. August 2023 führte die Bevollmächtigte der Klägerin klagebegründend aus, die Klägerin habe das Verfahren zur Beschaffung eines Passes ordnungsgemäß betrieben und den Reisepass dem Beklagten vorgelegt. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nach Vorlage des Passes nicht mehr. Die Ausweisung sei weder aus spezial- noch generalpräventiven Gründen geboten. Die Klägerin habe hinreichend an der Passbeschaffung mitgewirkt. Eine Ausweisung als Signal an andere Ausländer wäre daher kontraproduktiv. Das Ausweisungsinteresse sei dreieinhalb Jahre nach Beendigung des Fehlverhaltens jedenfalls nicht mehr aktuell. Es bestehe kein besonderes Ausweisungsinteresse. Die vorliegende Verurteilung sei als vereinzelter und geringfügiger Verstoß einzustufen. Die Wertung des Gesetzgebers durch Erlass des § 104c AufenthG sehe die Erheblichkeitsschwelle von Straftaten bei mehr als 90 Tagessätzen. Die vorliegende Straftat bleibe damit außer Betracht. Die Klägerin habe drei Kinder, wobei das Jüngste eine Aufenthaltsgestattung besitze. Für die weiteren Kinder sei bereits ein Aufenthaltstitel nach § 25b AufenthG, hilfsweise § 104c AufenthG, beantragt worden. Es lägen mithin schwere Bleibeinteressen aus familiären Gründen vor. Eine Ausweisung sei nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK weder unerlässlich noch verhältnismäßig.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid vom 18. Juli 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die in Ziff. 1 des angegriffenen Bescheids verfügte Ausweisung erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als rechtswidrig.
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Nach der Grundsatznorm des § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Im vorliegenden Fall überwiegt das Ausweisungsinteresse nicht das Bleibeinteresse der Klägerin.
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Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt bei einem gegen eine Ausweisungsverfügung gerichteten Rechtsbehelf ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 18). Es sind daher Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlass der Ausweisungsverfügung ergeben haben, zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob diese zugunsten oder zulasten des Ausländers wirken.
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1.1 Danach liegen auch aktuell noch generalpräventive Gründe für eine Ausweisung der Klägerin vor. Die Regelung des § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verstöße zu begehen. Diese Auslegung des Wortlauts wird systematisch durch § 53 Abs. 3 ff. AufenthG, die ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangen, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BTDrs. 18/4097 S. 49) bestätigt. Auch aus weiteren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, z.B. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, ergibt sich, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BeckRS 2019, 16744 Rn. 17). Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06; B.v. 22.8.2000 – 2 BvR 1363/2000 – juris). Knüpft das generalpräventive Ausweisungsinteresse an eine strafrechtliche Verurteilung an, so muss diese noch aktuell sein. Eine untere Grenze bildet in diesem Kontext die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt. Die obere Grenze orientiert sich grundsätzlich an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt (Fleuß in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2023, AufenthG § 53 Rn. 33).
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Im vorliegenden Fall besteht das (generalpräventive) Ausweisungsinteresse aufgrund der Verurteilung der Klägerin vom … November 2021 zu 90 Tagessätzen wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass. Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten der Klägerin ist das Ausweisungsinteresse weiterhin aktuell. Die Verurteilung beruht auf Tathandlungen bis Dezember 2019. Zum maßgeblichen Entscheidungszeitraum ist die einfache Verjährungsfrist von 3 Jahren diesbezüglich damit bereits abgelaufen, nicht jedoch die absolute Verjährungsfrist von 6 Jahren. Angesichts des langen Zeitraums indem die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, ist trotz Ablauf der einfachen Verjährungsfrist von einem aktuellen Ausweisungsinteresse auszugehen. Überdies gehen im vorliegenden Fall die Zeiten des pflichtwidrigen Verhaltens über die abgeurteilten Zeiträume hinaus. Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten hat auch das Strafgericht der Klägerin kein pflichtgemäßes Verhalten seit Dezember 2019 bescheinigt. Vielmehr erfolgte für den Zeitraum von Dezember 2019 bis November 2021 lediglich eine Beschränkung der Verfolgung nach § 154a Abs. 2 StPO und gerade kein Freispruch. Ausgehend von November 2021 als letzter Tathandlung ist nicht einmal die dreijährige einfache Verjährungsfrist zum Entscheidungszeitpunkt des Gerichts abgelaufen. Soweit die Bevollmächtigte der Klägerin vorträgt, eine Ausweisung sei aufgrund der mittlerweile erfolgten Passvorlage als Signal an andere Ausländer kontraproduktiv, ist dem nicht zu folgen. Vielmehr liegt es gerade mit Blick auf die lange Zeit, in der die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist, im öffentlichen Interesse, die von der Klägerin begangenen Rechtsverstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße mit der Aufenthaltsbeendigung und mit einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht werden. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen. Die konsequente Ahndung ist geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Delikten wie den von der Klägerin verwirklichten generalpräventiv vorzubeugen.
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1.2 Die nach Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt vorliegend jedoch, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse der Klägerin nicht überwiegt.
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§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
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1.2.1 Vorliegend stellt das festgestellte Ausweisungsinteresse ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dar, da die Klägerin nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen Strafvorschriften verstoßen hat. Dabei sind Verstöße im Sinne dieser Vorschrift nur dann unerheblich, wenn sie sowohl vereinzelt als auch geringfügig sind (BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9/94 – juris Rn. 19). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stellen vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8; B.v. 18.9.2020 – 10 CE 20.1914 u.a. – juris Rn. 30; B.v. 29.3.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 52). Bei Straftaten, die zu einer Verurteilung mit mehr als 30 Tagessätzen geführt haben, ist zudem in der Regel ebenfalls keine Geringfügigkeit anzunehmen (vgl. Katzer in BeckOK MigR, Stand: 15.1.23, § 54 AufenthG, Rn. 97). Im vorliegenden Fall erfolgte die Verurteilung der Klägerin zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen ausländerrechtliche Vorschriften. Sie beruht auf der über Jahre andauernden Passlosigkeit der Klägerin wegen der beharrlichen Verweigerung der Erfüllung ihr obliegender Mitwirkungspflichten und stellt damit erkennbar keinen nur geringfügigen Verstoß im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dar.
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Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten ist die Verurteilung der Klägerin zu 90 Tagessätzen auch nicht aufgrund des zum 31. Dezember 2022 eingeführten sogenannte Chancen-Aufenthaltsrechts als geringfügig anzusehen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Regelung des § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wonach Verurteilungen von bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift nicht entgegen stehen. Durch Einführung dieser Vorschrift ergibt sich nämlich keine Veränderung der oben dargestellten Maßstäbe zur Annahme der Geringfügigkeit strafrechtlicher Verstöße. Anders als die Bevollmächtigte der Klägerin meint, hat der Gesetzgeber durch Einführung dieser Regelung keine allgemeine Erheblichkeitsschwelle von Straftaten für den Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes bestimmt. Das Aufenthaltsgesetz trennt im Grundsatz deutlich zwischen der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung und der Beendigung des Aufenthalts. Zwar knüpft der Gesetzgeber in beiden Fällen u.a. an Straftaten und strafgerichtliche Verurteilungen von Ausländern an, trifft dazu jedoch jeweils eingehende und detaillierte Regelungen über die verschiedenen ausländerrechtlichen Folgen. Danach verbietet es sich grundsätzlich, die für eine bestimmte Problemlage in einem Abschnitt getroffene Regelung ganz oder teilweise auf Regelungen eines anderen Abschnitts generell zu übertragen, wenn nicht der Gesetzgeber – etwa durch Bezugnahmen – dafür einen Anhalt gibt. Insbesondere ist die Geltung der für eine Problemlage im Rahmen einer umfassenden Regelung getroffenen einzelnen Bestimmung grundsätzlich auf diese beschränkt (vgl. schon zum AuslG BVerwG, U.v. 28.1.1997 – 1 C 17/94 – juris Rn. 30). Bei der Vorschrift des § 104c AufenthG handelt es sich vorliegend um eine stichtagsbezogene Sonderregelung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für eine eng umgrenzte Personengruppe. Der dort enthaltenen Regelung zur Beachtlichkeit strafrechtlicher Verurteilungen kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber hierdurch eine allgemeine Regelung hinsichtlich der Annahme der Geringfügigkeit strafrechtlicher Verurteilungen für den gesamten Bereich des Aufenthaltsgesetzes – insbesondere der Aufenthaltsbeendigung – treffen wollte. Vielmehr findet auch im Bereich des § 104c AufenthG die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (fehlendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 AufenthG) weiterhin Anwendung. Die Regelung des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG schließt explizit lediglich die Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a, Nr. 4 und Abs. 2 AufenthG, hingegen gerade nicht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, aus. Die Regelung des § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist insoweit lediglich als ein – auf den Anwendungsbereich dieser Norm beschränkter – gesetzlich normierter Ausnahmefall von dem nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG regelhaft geforderten Fehlen eines Ausweisungsinteresses zu verstehen und gerade nicht als allgemeine Regelung hinsichtlich der grundsätzlichen Beachtlichkeit strafrechtlicher Verurteilungen.
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1.2.2 Dem Ausweisungsinteresse steht vorliegend ein schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber. Das jüngste Kind der Klägerin hat aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Asylstreitverfahrens (noch) eine Aufenthaltsgestattung. Infolge des Personensorgerechts für das jüngste Kind, das sich (bis zum Abschluss des Asylverfahrens) rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (§ 55 AsylG), steht der Klägerin ein schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG zu (vgl. BayVGH, U.v. 8.1.2020 – 10 B 18.2485 – juris Rn. 44). Auch sind gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG die Belange der beiden anderen in Deutschland lebenden Kinder, welche derzeit geduldet sind, zu berücksichtigen.
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1.2.3 Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt vorliegend bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall der Klägerin das Ausweisungsinteresse nicht das Bleibeinteresse.
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Zwar ist bei der Klägerin eine besondere Integration ins Bundesgebiet nicht feststellbar. Sie ist im Jahr 2016 und damit im Alter von 25 Jahren in das Bundesgebiet eingereist. Sie hat nie über ein gesichertes Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügt, sondern sich allein für die Durchführung ihres Asylverfahrens gestattet bzw. nach dessen negativem Abschluss geduldet im Bundesgebiet aufgehalten. Einer Erwerbstätigkeit ist sie in dieser Zeit nicht nachgegangen. Nach Abschluss ihres Asylverfahrens ist sie über einen langen Zeitraum ihren gesetzlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen, weshalb sie zeitweise im Besitz einer Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ war und sogar zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verurteilt wurde. Allerdings gehört die Klägerin zu dem nach § 104c AufenthG privilegierten Personenkreis und hat auch einen entsprechenden Antrag auf Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis gestellt. Nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll Personen, welche sich zum 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben und auch weiterhin geduldet sind, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin, ein atypischer Fall liegt nicht vor. Bei der Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis bleiben zudem Verurteilungen von bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht (§ 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzgeber hat damit in den Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 AufenthG vorliegen, zum Ausdruck gebracht, dass bestehenden Ausweisungsinteressen bei dem berechtigten Personenkreis – wie bei der Klägerin – im dort geregelten Umfang kein durchschlagendes Gewicht zukommt. Vielmehr ist klares gesetzgeberisches Ziel, diesem Personenkreis auch in Ansehung bestehender strafrechtlicher Verurteilungen eine Bleibeperspektive zu eröffnen. So liegt es im vorliegenden Fall, da die Verurteilung der Klägerin die maßgebliche Grenze von 90 Tagessätzen nicht überschreitet. Dies ist im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellenden Interessenabwägung vorliegend maßgeblich zu berücksichtigen und führt im Ergebnis dazu, dass im vorliegenden Einzelfall das Ausweisungsinteresse zumindest nicht überwiegt, zumal vorliegend auch im Hinblick auf die Kinder der Klägerin ein Bleibeinteresse besteht.
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Die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Wertung, welche in § 104c AufenthG zum Ausdruck kommt, im Rahmen der vorliegenden Interessenabwägung steht dabei nicht im Gegensatz zur oben dargestellten grundsätzlichen Trennung der Regelungen über die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen und der Aufenthaltsbeendigung. Eine Berücksichtigung einzelner gesetzgeberischer Wertungen im Rahmen einer anzustellenden einzelfallbezogenen Abwägungsentscheidung ist durch diese Trennung nicht ausgeschlossen, sondern teilweise sogar geboten (vgl. zur Ermessensausübung BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8/02 – juris Rn. 23). Es werden insoweit gerade nicht besondere gesetzliche Regelungen ganz oder teilweise auf Regelungen eines anderen Abschnitts abstrakt generell übertragen, vielmehr findet hierdurch die im Rahmen der Interessenabwägung erforderliche einzelfallbezogene Berücksichtigung der konkreten allgemeinen und ausländerrechtlichen Situation der Klägerin sowie des Gewichts des bestehenden Ausweisungsinteresses statt. Würde man hierbei die Wertung des § 104c AufenthG im Rahmen der Ausweisung – welche keine Ermessensentscheidung mehr ist – unberücksichtigt lassen, liefe die Regelung bei verurteilten Ausländern, welche die Voraussetzungen des Chancen-Aufenthaltsrechts erfüllen, trotz des klaren anderslautenden gesetzgeberischen Willens überwiegend und wohl auch im vorliegenden Fall leer.
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2. Nachdem sich die Ausweisung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids als rechtswidrig erweist, liegen auch die Voraussetzung für den Erlass des hierauf gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht vor. Dieses ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).