Titel:
Anforderungen an die Ausnahme vom Spezialitätsgrundsatz bei Verbleib in Deutschland nach Haftentlassung
Normenketten:
IRG § 83h
EurAuslÜbK Art. 14
Leitsätze:
1. Dem Vollzug eines Haftbefehls steht ggf. der Spezialitätsschutz des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Vorführung vor den zuständigen Richter i.S. des § 115 StPO wäre möglich gewesen, wenn eine Autofahrt zwischen Ergreifungsort und Vorführungsort (nur) etwa drei Stunden gedauert hätte. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Ausnahme vom Spezialitätsgrundsatz für den Fall, dass die ausgelieferte Person das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder nach Verlassen in ihn zurückgekehrt ist, findet dann keine Anwendung, wenn die ausgelieferte Person auf die Rechtsfolgen nicht hingewiesen wurde und diese Rechtsfolgen auch nicht aus anderen Gründen kannte (Ergänzung zu BGH BeckRS 2013, 4111). (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Haftbefehl ist nach Auffassung des Amtsgerichts Nürnberg in einem derartigen Fall aufzuheben (entgegen OLG Stuttgart BeckRS 2015, 6043, danach: Außervollzugsetzung des Haftbefehls). (Rn. 1 – 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Spezialitätsgrundsatz, Ausnahme, fehlende Rückkehr nach Freilassung, Hinweis auf Rechtsfolge, Haftbefehl, Aufhebung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32450
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Nürnberg vom 29.04.2021, Geschäftszeichen: 58 Gs 4077/21, wird aufgehoben.
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1. Dem Vollzug des Haftbefehls steht der Spezialitätsschutz des § 83 h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2012, Aktenzeichen: 1 StR 165/12) entfällt ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis gemäß Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Rechtsfolgen hingewiesen wurde oder diese Rechtsfolgen aus anderen Gründen kannte. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschluss vom 26.08.2019, Aktenzeichen: 1 Ws 154/19) entspricht die Vorschrift des § 83 h Abs. 2 Nr. 1 IRG derjenigen des Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.
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2. Die Vorführung vor den nächsten Richter des Amtsgerichts Fulda verstieß gegen § 115 StPO. Der Beschuldigte wurde am 17.10.2023 um 19:20 Uhr aufgrund des vorliegenden Haftbefehls ergriffen. Eine Pkw-Fahrt von Fulda nach Nürnberg dauert laut G...-Maps etwa drei Stunden, sodass eine Vorführung vor den zuständigen Richter des Amtsgerichts Nürnberg am 18.10.2023 möglich gewesen wäre.