Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 25.09.2023 – W 8 K 23.30323
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Iraner wegen regimefeindlicher Aktivitäten

Normenketten:
VwGO § 86 Abs. 1 Hs. 2, § 94
AsylG § 3, § 4, § 25
AufenthG § 60
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
Leitsätze:
1. Weder das Völkerrecht noch das Europarecht noch das nationale Recht kennen eine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedsstaat, wenn wegen Art. 4 GRCh eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unmöglich ist. (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es rechtfertigt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn ein kurdischer Iraner aus politischen Gründen (hier: wegen vermeintlich oppositioneller Betätigung) bereits vor der Ausreise im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien (in Form von Inhaftierung mit Folter) erlitten hat und er seine Aktivitäten in Deutschland fortgesetzt hat. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland, keine Aussetzung des Verfahrens, ergebnisoffene Prüfung und Entscheidungsbefugnis, Inhaftierung wegen verbotenen Unterlagen der Partei KDP von 2010 bis 2017, Misshandlungen und Folterungen während der Haft, Freilassung aus der Haft gegen Kaution, Gerichtsurteil 2018, glaubhafte Angaben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, insgesamt glaubhaftes Vorbringen im Einzelfall, exilpolitische Aktivitäten, weiteres Verfolgungsinteresse des iranischen Staates, relevante Gefahrenerhöhung durch aktuelle Situation im Iran, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, psychische Erkrankung, Flüchtlingseigenschaft, Haft, Folter, Verfolgung, regimefeindlich, exilpolitisch
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32372

Tenor

I.    Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2023 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.    Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Voll- streckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet. 
...

Tatbestand

1
Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 18. Juli 2020 aus Griechenland, wo ihm bereits internationaler Schutz gewährt worden war, in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. November 2020 einen Asylantrag. Zur Antragsbegründung gab er im Wesentlichen an: Er sei schon im Jahr 2010, nachdem verbotene Flugblätter und Parteiunterlagen gefunden worden waren, inhaftiert und gefoltert worden. 2014 sei eine Niere entfernt worden. Zwischenzeitlich sei er auf Kaution freigekommen, aber erneut festgenommen und bis 2017 in diversen Gefängnissen inhaftiert gewesen. Dann sei er erneut auf Kaution freigelassen worden.
2
Mit Bescheid vom 31. Mai 2023 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder in einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Ausreiseverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger sei schon in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden. Eine Ablehnung des Antrags als unzulässig sei jedoch nicht möglich, wenn angesichts der zu erwartenden Lebensverhältnisse in Griechenland der Eintritt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich sei. Der Antrag sei als zulässiger Asylantrag zu entscheiden. Die Entscheidung der griechischen Asylbehörden entfalte keine Bindungswirkung. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Sachvortrag des Klägers genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Auffallend sei, dass lediglich der Kläger und nicht auch sein Bruder festgenommen worden sei. Der Bruder des Klägers habe im Rahmen seines eigenen Asylantrags keine Inhaftierung des Klägers erwähnt. Der Kläger habe angegeben, dass er insgesamt ca. sieben Jahre in verschiedenen Gefängnissen gewesen sei. Ein konkretes Gerichtsurteil habe es aber erst kurz vor seiner Ausreise 2018 gegeben. Entsprechende Urteile könne er nicht vorlegen. Der Kläger sei nicht in der Lage den Namen seines Anwalts zu nennen. Bei einer tatsächlichen Verurteilung müsse dieser bekannt sei, zumal davon ausgegangen werden müsse, dass der Anwalt ihn beraten habe. Auch sei nicht nachvollziehbar, warum der Kläger bei einem tatsächlichen Verfolgungs- und Verurteilungsinteresse auf Kaution freigekommen sein sollte. Es sei davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in den Iran in der Lage sei, sein Existenzminimum zu sichern. Des Weiteren sei durchaus von ausreichenden medizinischen Versorgungsmöglichkeiten auszugehen. Es bestehe kein Anspruch auf eine hochwertigere Behandlung in Deutschland als im Heimatland.
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Am 5. Juni 2023 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
4
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 6. Juni 2023,
die Klage abzuweisen.
5
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 6. Juni 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Das Gericht lehnte den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten mit Beschluss vom 12. September 2023 ab.
7
In der mündlichen Verhandlung am 25. September 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte für den Kläger,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2023 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akten des Bruders) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Das Gericht musste das vorliegende Verfahren nicht im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris; siehe auch VG Stuttgart, B.v. 2.5.2023 – A 7 K 6645/22 – juris; Entscheiderbrief 06/2023 S. 4 ff.) gemäß § 94 VwGO Ruhend stellend bzw. wegen Vorgreiflichkeit aussetzen. Denn im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung konnte im vorliegenden Fall sowohl im Interesse an zügiger effektiver Rechtsgewähr als auch im Interesse der Prozessökonomie und nicht zuletzt auch aufgrund des konkreten Rechtschutzgesuchs im Interesse des Klägers an einer alsbaldigen Entscheidung von einer Ruhendstellung bzw. Aussetzung abgesehen werden (VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22; VG Düsseldorf, U.v. 11.10.2022 – 17 K 4350/20.A – juris Rn. 2 ff.).
12
Vielmehr konnte das Gericht ebenso wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trotz der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger schon in Griechenland aufgrund der dortigen Verhältnisse (vgl. nur SaarlOVG, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris Rn. 18 ff.), die wegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unmöglich machten, ergebnisoffen über die in Deutschland gestellten Asylanträge entscheiden, ohne an die Entscheidung in Griechenland gebunden zu sein (VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22). Ist wie hier eine Ablehnung des Asylantrages des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verwehrt, ist eine materielle Prüfung geboten. Denn nach der Logik und Systematik des gemeinsamen europäischen Asylsystems kann ein Asylantrag nur dann unzulässig sein, wenn der Schutz tatsächlich noch besteht und die Person – anders als hier – Zugang zu diesem Schutz hat. Besteht ein Überstellungsverbot in den schutzzuerkennenden Staat, ist gerade ein volles Asylverfahren durchzuführen, um den Vorgaben des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere von Art. 18 GrCh zu entsprechen (Hruschka/Mantel in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 60 AufenthG Rn. 8 mit Verweis auf EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – NVwZ 2019, 785 – Ibrahim u.a. sowie B.v. 13.11.2019 – C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 – Hamed und Omar).
13
Weder das Völkerrecht, noch das Europarecht, noch das nationale Recht stehen der vorliegenden Ansicht entgegen. Weder in der Genfer Flüchtlingskonvention noch im Recht der Europäischen Union findet sich die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Entscheidung. Insbesondere ist eine solche auch nicht europarechtlich unmittelbar angeordnet oder vorgeschrieben (siehe im Einzelnen VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22 ff., 26 ff. sowie VG Potsdam, U.v. 21.3.2023 – 16 K 1551/20.A – juris Rn. 25 ff.). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist ebenso wie das Gericht nicht auf die Feststellung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG beschränkt, sondern ist gehalten ergebnisoffen eine Vollprüfung vorzunehmen (VG Düsseldorf, U.v. 11.10.2022 – 17 K 4350/20.A – juris Rn. 19 ff.) Insoweit ist § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ebenso wie Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG einschränkend auszulegen (vgl. VG Aachen, U.v. 3.6.2022 – 10 K 2844/20.A – juris Rn. 99 ff.; VG Stuttgart, U.v. 18.2.2022 – A 7 K 3174/21 – juris Rn. 46 und 55, teleologische Reduktion; jeweils m.w.N.). Das nationale Recht kennt keine weitergehende Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedsstaat, da die von entsprechenden Entscheidungen anderer Staaten ausgehenden Rechtswirkungen in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt sind (VG Minden, U.v. 2.3.2022 – 1 K 194/21.A – juris Rn. 29; vgl. zum Ganzen auch noch zusätzlich zu den in den vorstehenden Absätzen zitierten Gerichtsentscheidungen VG Regensburg, U.v. 17.3.2023 – RO 13 K 22.31542 – juris Rn. 18 ff.; VG Göttingen, U.v. 2.11.2022 – 3 A 115/20 – juris; VG Trier, U.v. 10.8.2022 – 2 K 1824/22.TR, 7937593 – juris; VG Osnabrück, U.v. 14.2.2022 – 5 A 512/20 – juris; alle m.w.N.). Der Kläger begehrt indes gerade einen weitergehenden Ausspruch über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
14
Nach alledem ist das Gericht weder an einer eigenen Vollprüfung noch an einer eigenständigen Sachentscheidung gehindert (vgl. auch VG Würzburg, U.v. 21.11.2022 – W 8 K 22.30572 – BeckRS 2022, 35202 Rn. 12 ff.).
15
Die zulässige Klage ist begründet.
16
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2023 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
17
Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
18
Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
19
Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
20
Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
21
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
22
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seines Vorfluchtschicksals und seiner persönlichen Situation sowie seiner exilpolitischen Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich angesehen wurden und auch noch werden und der Kläger selbst als Regimegegner gilt und der iranische Staat bezogen auf den Kläger schon in der Vergangenheit sein Verfolgungsinteresse bekundet hat. Ins Gewicht fällt, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise verfolgt wurde, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
23
Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers sowohl zu den Umständen und den Folgen seiner Inhaftierung im Iran und seiner deswegen erlittenen staatlichen Repressionen, insbesondere die erlittenen Folterungen, im Iran als auch zu seinen exilpolitischen Aktivitäten glaubhaft ist. Für den Kläger spricht nicht nur der Inhalt seiner Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben. Das Vorbringen des Klägers war nicht nur in sich konsistent, sondern auch hinreichend detailliert. Er konnte auf Nachfrage Details ergänzen. Hervorzuheben ist, dass das Vorbringen des Klägers ihn deutlich emotional ergriffen hat. Das bestätigt zusätzlich den Eindruck, dass der Kläger von einem tatsächlich persönlich erlebten Schicksal berichtet hat.
24
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
25
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
26
Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
27
Die vorstehend skizzierte Gefährdungslage gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – insbesondere in den Augen des iranischen Staates – mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39). Im Einzelfall müssen auch nicht radikale bzw. nicht exponierte Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien im Iran flüchtlingsrelevant mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen; für diese kann der Grad der Gefährdung höher sein als womöglich bei anderen Oppositionellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 39). Aus der Rechtsprechung des VG Würzburg zur AKPI (siehe VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris) folgt nichts anderes, weil letztlich auf den Einzelfall abzustellen ist (vgl. auch VG Braunschweig, U.v. 05.06.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff; VG Saarland, U.v. 28.7.2022 – juris Rn. 31 ff. zur Komalah; VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11 f. zur DPK-I; VG Bayreuth, U.v. 13.7.2022 – B 2 K 20.30315, 7993388 – juris, UA S. 12 f. zur DPK-I).
28
Denn da kurdische Oppositionsparteien im Iran illegal sind, behandelt die iranische Regierung ihre Mitglieder und diejenigen, die sie tatsächlich oder aus Sicht der Regierung unterstützen, einerseits härter als Zivilaktivisten in der kurdischen Region, andererseits sieht die Regierung grundsätzlich jede Art von politischem oder zivilem Aktivismus als potentielle Bedrohung an, sodass auch diese Aktivisten Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Auch einfache Tätigkeiten, wie die Teilnahme an Protestmärschen oder Generalstreiks können zu Beschuldigungen führen, mit Oppositionsparteien zu kooperieren. Die iranischen Behörden unterscheiden meist nicht zwischen Parteimitgliedern und Unterstützern bzw. Aktivisten. Die Verfolgung von Personen ist willkürlich und variiert von Fall zu Fall (BFA, Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 16).
29
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Mahsa „Dschina“ Amini) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
30
In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch zur Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
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Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger, etwa im räumlichen Umfeld von Demonstrationen. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 25.9.2023, unverändert gültig seit 14.9.2023).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Mittlerweile bis in den Dezember 2022 hinein ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
34
Die Protestaktionen und Repressionen gehen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
35
Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023).
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Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von Mahsa Jina Amini, einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „Jin Jiyan Azadi“ – Frau L. F. – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 20.3.2023 und 13.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
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In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von m. A. im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 soll schließlich ein Gesetzentwurf zu Hijab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden sein. Der Gesetzentwurf, der noch vom Wächterrat ratifiziert werden muss, sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hijab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. März 2023 bis zuletzt 25. September 2023 sowie etwa der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18. März 2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22. März 2023; FR, eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28. März 2023; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20. April 2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11. Juni 2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26. Juli 2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21. August 2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4. September 2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023).
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Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -Organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
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Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen D.weg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
41
Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der aktuellen Massenproteste im Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten Jahres ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
42
Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles, die er glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
43
Der Kläger hat – wie auch schon im Rahmen seiner Anhörungen beim Bundesamt – in der mündlichen Verhandlung glaubhaft die näheren Umstände, die zu seiner Verhaftung und Inhaftierung sowie nachfolgend zur Verurteilung geführt haben. Der Kläger schilderte insbesondere im Einzelnen und detailliert die während der langjährigen Haft erlittenen staatlichen Repressionen, insbesondere die ihm bis heute prägenden und beeinträchtigenden Folterungen.
44
Der Kläger schilderte sowohl bei seiner Anhörung gegenüber dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung die zeitlichen Abläufe und die Aufenthalte in verschiedenen Gefängnissen an verschiedenen Orten über die Jahre hinweg einschließlich der einmaligen Freilassung gegen Kaution. Abgesehen von kleineren Abweichungen bei den Daten legte der Kläger bei verschiedenen Anhörungen in sich stimmig die Zeiträume und die Vorkommnisse in den jeweiligen Gefängnissen dar, ohne sich in gravierende Widersprüche zu verwickeln. Er nannte unter anderem die Namen und Orte der einzelnen Gefängnisse, handelnde Akteure und die jeweiligen Zeiten.
45
Der Kläger brachte weiter vor, dass es trotz der jahrelangen Haftzeit keine Gerichtsverhandlung gegeben habe. Nur am Anfang sei er vor einem Richter gewesen. Diese Verhandlung habe eine halbe Stunde gedauert. Er habe nichts sagen dürfen, nur der Richter. Dieser habe die ganze Zeit Schimpfwörter ausgesprochen. Dies sei schon im Jahr 2011 gewesen.
46
Der Kläger beschrieb schon beim Bundesamt bildhaft und detailliert den Gefängnisalltag. Auch in der mündlichen Verhandlung erklärte er, um 6:00 Uhr seien sie geweckt worden. Dann hätten sie sich fertigmachen müssen und seien gezählt worden. Sie hätten das Bett machen müssen. Es habe Frühstück gegeben. Um 10:00 Uhr habe man Besuch empfangen können oder sich für das Telefonieren anstellen können. Dann habe es „Kurse“ bzw. Unterrichtungen gegeben in Religion und Theologie. Es habe um 13:00 Uhr Mittagessen gegeben, fast immer Reis und Fleisch mit Gemüse, wie Eintopf. Bis 15:00 Uhr habe man sich in der Zelle aufhalten und ausruhen können. Dann habe man rausgehen können. Gegen 18:00 Uhr habe es Abendbrot gegeben. Danach habe man in die Zelle und um 21:00 Uhr ins Bett gemusst.
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Für 550 Inhaftierte habe es in dem einen Gefängnis nur sechs Duschen gegeben. Die Toilette sei besetzt gewesen. Man habe sich immer anstellen müssen. Auch nachts habe man zur Toilette gehen müssen. Man habe aber Bescheid sagen müssen.
48
Des Weiteren beschrieb der Kläger zur Zelle detailliert, dass sie in der Einzelhaft 1 m breit und 2 m lang gewesen sei. Es habe in der Einzelhaft in der Zelle eine Toilette gegeben, kein Bett, keinen Tisch, keinen Stuhl. Neben der Toilette habe man sich nur auf den Boden legen können. Es habe kein Fenster gegeben. Neben der Türe habe es eine Öffnung gegeben. Das Licht sei 24 Stunden lang an gewesen. Er habe es nicht selbst ein- und ausschalten können. Zum Essen habe er etwas in die Zelle hereingeschoben bekommen. Er habe die Zelle nicht einfach verlassen dürfen.
49
Außerhalb der Einzelhaft sei der Haftraum größer gewesen, da man mit fünf weiteren Häftlingen zusammen gewesen sei. Zeitweise sei er mit zwei anderen Häftlingen in einer kleinen Zelle inhaftiert gewesen. Er sei teilweise mit Kriminellen und Mördern zusammen inhaftiert gewesen.
50
Der Kläger schilderte auch Einzelheiten der Folterungen, wobei er sich sichtlich überwinden musste, überhaupt über die am eigenen Leib erlittenen Folterungen zu sprechen. Der Kläger erklärte auf wiederholte Nachfrage, er sei massiv misshandelt und gefoltert worden. Er denke an die Folterungen. Er habe auch während der Zeit im Gefängnis Selbstmordgedanken gehabt. Die Zeit im Gefängnis und die Foltermaßnahmen seien brutal gewesen, so dass er auf die Idee gekommen sei, sich umzubringen. Dies sei im Jahr 2011 gewesen. Man habe ihn öfters verhört und geschlagen. Bei den Folterungen werde man mit der Hand ans Fenster oder sonst wohin, etwa an den Tisch gefesselt. Man bekam Schläge auf dem Kopf oder werde getreten. Zur Folterung habe er die Zelle der Einzelhaft verlassen müssen, ihm seien die Augen verbunden und die Hände gefesselt worden und er habe den Leuten in einen anderen Raum folgen müssen. Zunächst sei er verhört worden; die Verhörspersonen hätten darauf bestanden, dass er ein Geständnis ablege. Er habe Widerstand geleistet und nichts unterschrieben.
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Man habe ihn dann gefoltert. Wenn er an die Zeit der Folterung denke, gehe es ihm schlecht. Der Kläger erklärte weiter ausdrücklich, er könne nicht über die Einzelheiten der Foltermethoden berichten. Diese seien grausam. Das könne er nicht. Gleichwohl äußerte der Kläger, der dabei offensichtlich mit Tränen kämpfte, in der Folgezeit – erst auf wiederholte konkrete Nachfrage – einzelne Details. Er sei auch sexuell gefoltert und vergewaltigt worden. Er habe zwei, drei Tage nicht auf die Toilette gehen können, weil er Schmerzen gehabt habe. Einmal habe ihn eine Person vergewaltigt, ein zweites Mal habe es mittels einer Flasche stattgefunden. Man habe bei ihm die Schlagstöcke sowohl zum Schlagen als auch zur Vergewaltigung genutzt. Er habe Schläge auf die Nieren bekommen. Nach seinem Dafürhalten seien die Schläge die Ursache für die entzündete Niere gewesen. Der Arzt in der Haftanstalt habe ihm aber erzählt, dass die Niere sich entzündet habe, weil das Wasser in der Haft kalkhaltig sei. Gerade in den ersten drei Jahren sei er massiv gefoltert worden. Er habe die Gesichter der Personen nicht sehen können. Er habe nur die Stimmen gehört. Er sei in verschiedenen Gefängnissen gefoltert worden. Am schlimmsten sei es in K. gewesen. Bei den Folterungen erkenne man nicht, von welcher Behörde die Personen seien. Aber es seien immer welche vom Geheimdienst dabei. Einzelne Verhörpersonen seien bei den Häftlingen als Folterer bekannt gewesen.
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Der Kläger betonte des Weiteren auch die psychische Situation. Denn kein Mensch habe gewusst zu, was er verurteilt werden würde, zu lebenslänglich oder zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Er habe nicht mehr damit gerechnet, dass man ihn irgendwann freilasse. Beim Geheimdienst habe er einmal gehört, wie ein Häftling erzählt habe, dass er mehrere Jahre inhaftiert sei. Als er das gehört habe, habe er nicht mehr mit einer Freilassung gerechnet.
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Der Kläger schilderte – obwohl ihm dies sichtbar belastete – so die erlittenen Misshandlungen und Folterungen und deutete auch die psychischen Folgen an. Beleg dafür sind auch die nachfolgenden psychischen Erkrankungen, die auch in Deutschland, teilweise auch stationär, ärztlicherseits behandelt wurden und werden. Für den Wahrheitsgehalt des erlittenen Verfolgungsschicksals und die daraus für den Kläger resultierenden psychischen Folgen sprechen auch seine wiederholten Selbstmordversuche. Der Kläger selbst gab dazu weiter, dass er während der Haft und auch in der Zeit danach immer wieder an Selbstmord gedacht habe. Es seien viele Sachen passiert. Wenn er daran denke, dann gehe es ihm schlecht. Er habe aber auch den Ärzten nichts davon erzählt, weil er nicht wieder auf der Station behandelt werden wolle. Seit fünf Monaten versuche er, alles zu vergessen. Zuletzt sei er im März 2023 in ärztlicher Behandlung gewesen, nachdem er einen Suizidversuch hinter sich gehabt habe und verletzt gewesen sei. Die psychischen Probleme werden durch die vorgelegten ärztlichen Unterlagen belegt.
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Der Kläger beschrieb weiter, dass bei seiner Freilassung die Besitzurkunde des Hauses, das die Mutter mit dem Onkel mütterlicherseits geerbt habe, ausgestellt worden sei und dass dieses Haus mittlerweile beschlagnahmt sei.
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Gegen die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens spricht nicht, dass die Verhaftung des Klägers von dessen Bruder in dessen Anhörung nicht erwähnt wurde. Denn nach den beigezogenen Akten des Bruders wurde dieser zu dessen Verfolgungsschicksal nicht im Detail angehört, sondern es findet sich nur die Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und die Niederschrift zur Zulässigkeit des Asylantrags in den Akten. Im Zusammenhang mit diesen Anhörungen erwähnte der Bruder nur kurz, selbst im Gefängnis gewesen und gefoltert worden zu sein. Der Kläger hingegen gab bei seiner Anhörung am 26. November 2020 selbst an, dass sein Bruder auch gefoltert worden sei.
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Soweit das Bundesamt weiter kritisierte, dass der Kläger den Namen des Anwaltes der ihn im Iran unterstützt habe nicht habe nennen könne, erläuterte der Kläger dazu plausibel, dass eine weitere Person eingeschaltet gewesen sei, eine einflussreiche Person, die auch mit Anwälten zusammenarbeite. Mittels dieser Person sei auch die Kaution hinterlegt worden. Deren Namen wusste der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung zu nennen. Diese Person habe ihm auch geraten auszureisen. Nach der Ausreise sei dann das Urteil zu seinen Lasten gefallen.
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Aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Klägers, an dem – zumindest betreffend das Kerngeschehen des geschilderten Verfolgungsschicksals – nach Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung nicht zu zweifeln ist, ist jedenfalls festzuhalten, da die vom Bundesamt ins Feld geführten Aspekte nicht geeignet sind, die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, dass einer bereits vorverfolgten Person bei einer Rückkehr erneuter Verfolgung droht, zu widerlegen. Nach Überzeugung des Gerichts liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die die Wiederholungsgefahr einer solche Verfolgung bzw. des Eintritts eines Schadens entkräften würden.
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Für ein fortbestehendes Verfolgungsinteresse spricht zum einen der Umstand, dass sich die Sicherheitskräfte im Iran bei seinen Verwandten sowohl nach ihm als auch nach seinem Bruder erkundigt hätten, zuletzt unter anderem auch mit Verweis auf deren exilpolitischen Aktivitäten in den sozialen Medien.
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Gefahrerhöhend treten für den Kläger seine exilpolitischen Aktivitäten hinzu, die auch im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierten Oppositionellen bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland, nicht zuletzt aus Deutschland, kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates standen bzw. die sich während ihres Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlich geäußert haben, wie der Kläger in den sozialen Medien. Hinzu kommt der Umstand, dass der Kläger Kurde ist und seine Vorverfolgung aus der Sicht des iranischen Staates im Zusammenhang mit einer verbotenen kurdischen Oppositionspartei steht. Als weiterer verfolgungsrelevanter erschwerender Umstand ist zu werten, dass der Kläger flüchtig ist, untergetaucht war und den Iran illegal verlassen hat (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 4 f. und 6 f.).
60
Der Kläger gab an, dass er mit seinem Bruder in den sozialen Medien aktiv sei. Sie verbreiteten Nachrichten im Iran, gerade über Kurdistan. Sie hätten über 50.000 Follower. Die Follower kämen wie aus der ID-Adresse ersichtlich sei, zum größten Teil aus dem Iran. Die Seite hätten sie früher unter ihren Klarnamen betreiben. Seit kurzem betrieben sie die Seite unter einem Spitznamen, weil der Kläger Angst um die Schwester und die Kinder gehabt habe. Gleichwohl würden gegenüber der Mutter Drohungen ausgesprochen. Zuletzt sei vor vier oder fünf Tagen der Geheimdienst wegen seiner Aktivitäten auf Instagram bei ihnen im Iran zu Hause gewesen.
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Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass der Kläger aus politischen Gründen bereits im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien erlitten hat, weil er aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegner eingestuft wurde und wird.
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Insoweit ist anzumerken, dass – wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist – nicht darauf abzustellen ist, dass der Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist beim Kläger aufgrund seiner glaubhaften Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der iranischen Sicherheitskräfte bezog sich darauf, dass sich der Kläger bei einem aus iranischer Sicht oppositionell betätigt und regimefeindlich geäußert hat. Der Kläger hat seine Aktivitäten in Deutschland fortgesetzt.
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Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten wurden und werden dem Kläger gerade vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund seines aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal er sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und diesbezüglich auch im Internet über soziale Medien exilpolitisch engagiert hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer erneuten Rückkehr in den Iran.
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Schon allein das Vorfluchtschicksal ist unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation im Iran ausreichend für die Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung. Hinzu kommen die exilpolitischen regimefeindlichen Aktivitäten des Klägers.
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Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran zu Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger gekommen ist und dass seitens des iranischen Staates weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen den Kläger besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, der Kläger werde sich weiter regimekritisch verhalten, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden.
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Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der ihn betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.