Titel:
Erfolglose Asylklage (Iran) auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung von Abschiebungsverboten
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwVfG § 48, § 49, § 51 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5
AsylG § 31 Abs. 3 S. 3
Leitsätze:
1. Allgemein ist mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gefahr einer möglichen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung begründet weder einen Anspruch auf Asyl- noch auf Abschiebungsschutz, weil die Einforderung staatsbürgerlicher Rechte, wie der Militärdienstleistungspflicht, für sich alleine noch keine politische Verfolgung darstellt. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine möglicherweise drohende Gefängnisstrafe begründet kein Abschiebungshindernis, denn die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen einer Abschiebung nicht entgegen. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, exilpolitische regimekritische Aktivitäten, vereinzelte Demonstrationsteilnahme, geringfügige Präsenz in sozialen Medien, Ablehnung des Wehrdienstes, befürchtete Zwangsrekrutierung, Wiederaufgreifensantrag beschränkt auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten, keine Änderung der Sach- und Rechtslage, kein erhebliches Vorbringen unter Wahrung der Dreimonatsfrist, ermessensfehlerfreie Ablehnung des Wiederaufgreifens, keine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Menschenrechtsverletzung oder Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, keine Leib- oder Lebensgefahr, eventuelle Maßnahmen bei Wehrdienstentziehung nicht politisch motiviert, mögliche strafrechtliche Ahndung der Wehrdienstentziehung unerheblich, allgemeiner Verweis auf Unruhen im Iran nicht ausreichend, keine ernsthafte Gefahr bei Rückkehr trotz illegaler Ausreise und trotz längeren Auslandsaufenthaltes, Asylverfahren, Wiederaufgreifen, Dreimonatsfrist, Abschiebunbgsverbote, unmenschliche od. erniedrigende Behandlung, Bestrafung, schwere Gefahr für Leib od. Leben, exilpolitische Aktivitäten, Wehrdienstentziehung, Auslandsaufenthalt
Fundstelle:
BeckRS 2023, 32370
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 30. Januar 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 29. März 2019 einen Asylantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 21. Oktober 2019 ablehnte. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Würzburg mit Urteil vom 2. Januar 2020 zurück (VG Würzburg, U.v. 2.1.2020 – W 8 K 19.31960 – juris).
2
Am 13. Februar 2023 stellte der Kläger mit Schreiben seines Rechtsanwalts vom selben Tag einen Wiederaufgreifensantrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG („ein Abschiebeverbot beantragen“). Zur Begründung ließ er im Wesentlichen vorbringen, dass ihm nach der Flucht aus dem Heimatland und den derzeitigen Unruhen im Iran ein Abschiebeverbot zuzuerkennen sei.
3
Mit Bescheid vom 23. März 2023 lehnte das Bundesamt für ... (Bundesamt) den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 21. Oktober 2019 (Az.: 7733428-439) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG lägen nicht vor. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK sei nicht gegeben. Dem Kläger drohten nach eigenem Sachvortrag keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Der Kläger habe nicht näher erläutert, inwiefern ihm aufgrund der derzeitigen Unruhen im Iran ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen sei. Individuell gefahrerhöhende Umstände seien nicht vorgetragen worden und ließen sich auch der Aktenlage nicht entnehmen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Iran führten ebenfalls nicht zur Annahme einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Der Kläger sei jung, gesund und habe eine Schulbildung. Er könne auf seine eigene Arbeitskraft verwiesen werden. Er könne im Falle einer freiwilligen Rückkehr Unterstützung aus Rückkehr- bzw. Reintegrationshilfen beanspruchen. Im Iran lebten zudem noch seine Eltern, Geschwister und die Großfamilie, die ihn bei einer Rückkehr in den Iran unterstützen könnten.
4
Mit Schriftsatz vom 17. April 2023 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
5
Mit Schriftsatz vom 26. September 2023 ließ der Kläger zur Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Im Iran seien Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden würden, an der Tagesordnung. Der Kläger habe sich im Iran schon als Schüler geweigert, an antiamerikanischen Demonstrationen teilzunehmen. Er lehne das derzeitige politische System im Iran ab und befürchte bei einer entsprechenden Haltung gewaltsame Übergriffe, insbesondere bei Demonstrationen. An regimekritischen Demonstrationen habe der Kläger z. B. im Rahmen des Abschusses der ukrainischen Maschine in Augsburg teilgenommen. Darüber hinaus habe der Kläger über soziale Medien regimekritisch gegen die derzeitige Regierung im Iran Äußerungen getätigt, Videos abgesetzt und Informationen verteilt. Gerade unter diesen Umständen seien die Befürchtungen des Klägers nicht von der Hand zu weisen, dass bereits bei Ankunft im Heimatland eine Verhaftung drohe bzw. bei von ihm beabsichtigter Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen gewaltsame Übergriffe, welche neben einer Haftstrafe auch Folter oder Tod bedeuten könnten, als sehr wahrscheinlich anzunehmen seien. Zudem habe der Kläger mittlerweile ein Alter erreicht, in welchem die Wehrpflicht für diesen gelte. Diese lehne er allerdings ab. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass er zwangsrekrutiert werde und in diesem Zusammenhang auch die Waffe gegen die Bevölkerung bzw. Demonstranten richten müsste. Der Kläger hätte keine Möglichkeit, sich dem Militärdienst zu entziehen.
6
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 19. April 2023,
7
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18. April 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
8
In der mündlichen Verhandlung am 23. Oktober 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte für den Kläger,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für ... vom 23. März 2023 zu verpflichten, festzustellen, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegt.
9
Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 K 19.31960) und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
11
Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
12
Der Bescheid des Bundesamtes für ... vom 23. März 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abstellungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
13
Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Die Ausführungen des Bundesamtes für ... decken sich mit den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln sowie mit der einschlägigen Rechtsprechung.
14
Denn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG i.V.m. § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG liegen schon nicht vor. Der Kläger hat des Weiteren auch keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte gemäß § 51 Abs. 5 VwGO i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG entscheidet, dass die bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zurückgenommen oder widerrufen und ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt wird. Letzteres liegt im pflichtgemäßem Ermessen. Die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null liegen nicht vor. Das Bundesamt konnte nach dem neu eingeführten § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG von den Feststellungen nationaler Abschiebungsverbote auch absehen, wenn das Bundesamt in einem früheren Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG entschieden hat und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen. Das Absehen von einer erneuten Entscheidung im pflichtgemäße Ermessen steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung zu § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 f. VwVfG (vgl. Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 16. Edition Stand: 15.7.2023, § 31 AsylG Rn. 64a und 64e f.; Heusch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 38. Edition Stand:1.7.2023, § 31 AsylG Rn. 21).
15
Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zum Wiederaufgreifen eines Verfahrens lägen vor, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- und Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Des Weiteren ist gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG ein Wiederaufgreifen nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in einem früheren Verfahren geltend zu machen. Nach § 51 Abs. 3 VwVfG – dem hier mit alleinigem Blick auf nationale Abschiebungsverbote keine europarechtlichen Bedenken entgegenstehen – muss der Antrag binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat.
16
Ausgehend davon ist nicht ersichtlich, dass bei dem Kläger nunmehr möglicherweise ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m der EMRK vorliegt. Ein Abschiebungsverbot wäre insbesondere gemäß § 3 EMRK gegeben, wenn dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung (hier: Iran) eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Genauso wenig sind substanziierte individuelle Gründe für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ersichtlich, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden soll, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben oder Freiheit besteht. Dem Ausländer müsste „gleichsam sehenden Auges“ der sichere Tod oder schwerste Verletzungen drohen (vgl. BVerwG, B.v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris).
17
Die Beklagte hat vielmehr zutreffend den Anspruch des Klägers auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG abgelehnt, weil weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen und sich auch nicht sonst ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ersichtlich ist.
18
Der Kläger hat schon nicht rechtzeitig innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgebracht, dass bei ihm individuell eine Änderung der Sachlage vorliegt. Er hat im Rahmen seines Schreibens vom 13. Februar 2023 betreffend das Wiederaufgreifen des Verfahrens nur allgemein auf die derzeitigen Unruhen im Iran verwiesen, ohne einen konkreten Bezug zu sich selbst herzustellen. Auch im Klageverfahren hat der Kläger mit Schriftsatz vom 26. September 2023, der für sich schon nicht die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG wahrt, nur allgemein darauf hingewiesen, dass er schon in der Vergangenheit das politische System im Iran abgelehnt habe, und mitgeteilt, lediglich an einer – schon länger (zwei Jahre) zurückliegenden – einzelnen regimekritischen Demonstration betreffend den Abschuss der ukrainischen Maschine in Augsburg teilgenommen. Genauso hat er nur sehr allgemein auf seine Aktivitäten in den sozialen Medien hingewiesen sowie auf die mittlerweile eingetretene Wehrdienstpflicht.
19
Aber selbst bei der hypothetischen Annahme, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gewahrt wären, wovon das Gericht nicht ausgeht, ist nach dem gesamten Vorbringen, auch in der mündlichen Verhandlung am 23. Oktober 2023, nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen der schon aufgeführten Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, nunmehr vorliegen würden.
20
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten – selbst unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Iran und unter Einbeziehung seines primär islamkritischen Vorbringens im Erstverfahren – keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran. Der Kläger vielmehr ist unverfolgt ausgereist und es ist nicht ersichtlich, dass nunmehr bei einer Rückkehr ein relevantes Verfolgungsinteresse an seiner Person seitens des iranischen Staates bestehen würde.
21
Dem Kläger ist es nicht gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe darzulegen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass nunmehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung bzw. eine schwere Gefahr für Leib oder Leben oder bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Entwicklung im Iran seit September 2022.
22
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen Aktivitäten bzw. wegen seiner eingetretenen Wehrdienstpflicht weiterhin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung aus politischen Gründen oder sonst einer ernsthaften Gefahr, die eines der streitgegenständlichen Abschiebungsverbote begründen könnte, bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
23
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11 sowie VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – UA S. 11 f.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
24
Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
25
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (M. … „D. …“ A. ….) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
26
In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch zur Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
27
Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger, etwa im räumlichen Umfeld von Demonstrationen. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 23.10.2023, unverändert gültig seit 14.9.2023).
28
Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
29
Weiter bis in den Dezember 2022 hinein zogen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für ..., Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
30
Die Protestaktionen und Repressionen gingen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für ..., Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
31
Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023).
32
Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von M. … J. … A. …, einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „J.. J. … A. …“ – Frau Leben Freiheit – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für ...e, Briefing Notes vom 13.3.2023 und 20.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
33
In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von M. … A. … im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 soll schließlich ein Gesetzentwurf zu Hijab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden sein. Der Gesetzentwurf, der noch vom Wächterrat ratifiziert werden muss, sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hijab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für ... vom 27. März 2023 bis zuletzt 23. Oktober 2023 sowie etwa Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18. März 2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22. März 2023; FR, eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28. März 2023; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20. April 2023; Bundesamt für ..., Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11. Juni 2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26. Juli 2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21. August 2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4. September 2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023).
34
Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -Organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
35
Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen Datenweg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für ... – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
36
Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
37
Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der Massenproteste in und außerhalb Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten Jahres ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – UA S. 26; U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
38
Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach dem Umstand seines Einzelfalles bei einer Rückkehr in den Iran nicht mit politisch motivierter Verfolgung oder sonst mit ernsthaften Gefahren, die ein Abschiebungshindernis begründen könnten, rechnen.
39
Der Kläger gab zunächst im Klageverfahren an, an einer einzelnen, offenbar schon länger laut Angabe des Klägers zwei Jahre – zurückliegenden einer Demonstration in Augsburg anlässlich des Abschusses eines ukrainischen Flugzeuges (am 8.1.2020) teilgenommen zu haben, ohne dies näher zu konkretisieren. Weiter erklärte der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 23. Oktober 2023, einmal an einer weiteren Demonstration am Samstag vor einer Woche vor der mündlichen Verhandlung (also wohl am 13.10.2023) in Stuttgart teilgenommen zu haben, sonst aber an keinen weiteren Demonstrationen teilgenommen zu haben. Er räumte ehrlich ein, dass er aufgrund seines Berufs als Bäcker nicht die Möglichkeit gehabt habe, an weiteren Demonstrationen oder sonstigen Veranstaltungen teilzunehmen. Angesichts der massenhaften Teilnahmen von iranischen Staatsangehörigen an regimekritischen Aktionen weltweit ist indes festzuhalten, dass diese spärlichen vereinzelten Demonstrationsteilnahmen des Klägers nicht für die begründete Annahme einer Verfolgungsgefahr ausreichen, zumal der Kläger angegeben hat, nicht in irgendeiner Weise in herausragender oder auffälliger Funktion aufgetreten zu sein. Bezüglich der letzten Demonstration gab er vielmehr an, dass diese nur kurz gewesen sei, weil sie wegen der Beteiligung von Palästinensern von der Polizei aufgelöst worden sei, nachdem es Tumulte gegeben habe.
40
Des Weiteren erschließt sich dem Gericht nicht einmal ansatzweise, inwiefern allein die Tatsache, dass der Kläger – wie er in der müdlichen Verhandlung erstmalig angab – einmalig zu einer Teilnahme an einer Veranstaltung seitens der exilpolitischen Gruppe „Motafeghin“ (Monafeghin?) eingeladen worden ist, an der er nicht teilgenommen habe, verfolgungsrelevant sein könnte. Dazu gab er an, dass ein Freund eines Freundes in einer Gruppe gewesen sei, die im Iran gewesen sei. Warum gerade deshalb die iranischen Sicherheitskräfte ein Verfolgungsinteresse an ihm haben könnten, leuchtet dem Gericht nicht ein.
41
Genauso geringfügig und niederschwellig stellen sich die Aktivitäten des Klägers in den sozialen Medien dar. Der Kläger gab auch insofern aufrichtig an, er sei ausschließlich über Instagram aktiv. Er habe regimekritische Aktivitäten auch wegen M. … A. … entwickelt und poste da auch regimekritische Inhalte. Er schreibe gelegentlich selbst etwas, aber im Regelfall bekomme er Informationen von anderen. Viele Follower habe er nicht, nur Freunde und Verwandte und Familie. Aus dem Vorbringen ist schon nicht ersichtlich, dass der Kläger damit öffentlich in Erscheinung getreten ist und auch einen breite Zahl von Personen bekannt sein könnte, sodass auch insofern fernliegt, dass er durch diese Aktivitäten ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates erweckt haben könnte, selbst wenn der Kläger identifiziert würde. Näheres Relevantes hat der Kläger zu aktuellen Aktivitäten nicht vorgetragen.
42
Gesamtbetrachtet fehlt es beim Kläger – ebenso wie schon bei seiner im Erstverfahren berichteten Abkehr vom Islam und seiner islamkritischen Einstellung (siehe VG Würzburg, U.v. 2.1.2020 – W 8 K 19.31960 – juris Rn. 29 ff.) – an einem öffentlichkeitswirksamen in Erscheinung treten nach außen und erst recht an einer Exponiertheit, die den Kläger zum einen identifizierbar macht und die zum anderen so in den Iran hineinwirkt, dass wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates besteht. Bei vereinzelten gebliebenen, niederschwelligen regimekritischen Aktivitäten in Deutschland, wie vom Kläger vorgetragen, hält das Gericht eine drohende Verfolgungsgefahr nicht für beachtlich wahrscheinlich (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 12.6.2023 – W 8 K 23.30105 – UA S.S. 15 f. sowie BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11).
43
Vorstehendes gilt auch hinsichtlich der aktuellen Ereignisse im Iran, weil trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage gleichwohl gesamtbetrachtend davon auszugehen ist, dass nicht jede(r) Iraner bzw. Iranerin, der/die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen und zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner qualifiziert und identifiziert wird. Angesichts der Massenproteste von September 2022 bis heute im Iran und in anderen Staaten, auch in Deutschland, ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss. Aufgrund der Masse an regimekritischen Aktionen in Deutschland und andernorts sowie der Anzahl der Teilnehmer an diesen Aktionen einschließlich der damit verbundenen Masse an Veröffentlichungen auch in sozialen Medien und der begrenzten Kapazitäten der iranischen Behörden hat das Gericht – nach den vorliegenden Erkenntnissen – keine Anhaltspunkte, dass gleichsam jeder Teilnehmer ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr verfolgt würde. Bedeutung für eine relevante Verfolgungsgefahr im Einzelfall kann da eine Gesamtschau, insbesondere vom Ausmaß der Aktivitäten vor der Ausreise sowie Umfang, Inhalt, Ausmaß der Tätigkeiten im Ausland und dem zu erwartenden Grad der zu Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran zukommen. Relevant sind dabei zum Beispiel auch die Intensität der Aktivitäten in Deutschland, die Erkennbarkeit nach außen, die Identifizierbarkeit des Klägers bei seinen Aktivitäten und neben der Qualität auch die Quantität der Aktivitäten, um letztlich auf ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsinteresse des iranischen Staates schließen zu können. Denn maßgeblich für die Frage, ob ein Iraner bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung rechnen müsste, ist, ob dieser sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt hat und ob gerade diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner regimekritischen Haltung für die Identität insofern so wichtig ist, dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Umgekehrt ist der Schluss gerechtfertigt, dass der Betreffende bei der Rückkehr in den Iran sich auch dort nicht aktiv an oppositionellen Tätigkeiten beteiligten würde, wenn er sich selbst schon in Deutschland bei den sich ihm gefahrlos bietenden Möglichkeiten und Freiheiten nur sehr rudimentär an regimekritischen Protesten sowohl tatsächlich als auch online beteiligt und auch sonst nicht das Verfolgungsinteresse des iranischen Staates weckt, so dass keine Verfolgungsgefahr anzunehmen ist (vgl. m.w.N VG Würzburg, U.v. 12.6.2023 – W 8 K 23.30105 – UA S. 16 f.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 47; ebenso etwa zuletzt VG Köln, U.v. 21.7.2023 – 12 K 319/20.A – juris Rn. 22 ff.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2023 – 10 A 4016/21 – juris Rn. 27; BayVGH B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff., 39 ff.; VG Meiningen, U.v. 6.3.2023 – 5 K 1368/22 Me, 9331572 – juris S. 9 f. und 11 f.; VG Gießen, U.v. 28.4.2023 – 3 K 2214/19.GI.A – juris Rn. 30; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 49 ff., 59 f. U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff.; VG Berlin, U.v. 17.1.2023 – VG 17 K 4/23 A – juris UA S. 7).
44
Selbst wenn nach alledem eine (politische) Verfolgung des Klägers bei einer potentiellen Rückkehr in den Iran nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden mag, steht nach seinem Vorbringen sowie nach der Auskunftslage und der daraus resultierenden Rechtsprechung nach Überzeugung des Gerichts jedenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung bzw. einer ernsthaften Gefahr bei einer Rückkehr in den Iran.
45
Des Weiteren droht dem Kläger auch keine politische Verfolgung oder sonstige Gefahr wegen seiner vorgebrachten Wehrdienstentziehung. Der Kläger hat ausdrücklich angegeben, dass er insoweit über keine Unterlagen verfüge. Er bzw. seine Eltern hätten keine behördliche Aufforderung oder kein Schreiben betreffend den Wehrdienst zugestellt bekommen. Der Kläger erklärte jedoch – in der Sache prinzipiell zutreffend –, es sei seine Pflicht grundsätzlich Wehrdienst abzuleisten. Bei einer Ausreise werde immer geschaut, ob man Wehrdienst geleistet habe. Aber er lehne den Wehrdienst ab, weil er das Regime grundsätzlich ablehne. Weiter gab er an, dass sein Bruder im Iran auch nicht zum Wehrdienst gegangen sei, weil er nicht gewollt habe. Aber der Bruder habe jetzt Schwierigkeiten, weil er Geschäfte nicht machen dürfe, etwa auch den Führerschein nicht machen dürfe usw.
46
Vor diesem Hintergrund stellt sich schon die Frage, ob dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran wegen seiner Wehrdienstentziehung eine beachtliche wahrscheinliche Verfolgungsgefahr drohen könnte bzw. der iranische Staat überhaupt ein Verfolgungsinteresse hätte und ihm tatsächlich etwa eine Gefängnisstrafe drohen sollte. Auch der Umstand, dass seinem Vater im Iran vom Passamt einmal eröffnet worden sei, dass er, der Kläger, verschollen sei, lässt nicht darauf schließen, dass ihm deshalb wegen der Wehrdienstentziehung oder sonst eine ernsthafte Gefahr der Inhaftierung oder Zwangsrekrutierung drohen sollte. Abgesehen davon hat der Kläger selbst eingeräumt, dass es circa vor acht Monaten gewesen sei und sein Vorbringen auch insoweit außerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG liegen würde.
47
Abgesehen von diesen Ungereimtheiten begründet auch eine Wehrdienstentziehung nicht die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr politischer Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran. Zwar kann als Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG die unverhältnismäßig oder diskriminierte Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dies gilt auch bei einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung. Jedoch ist festzuhalten, dass jeder Staat ein Recht hat, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst in dieser Streitkraft heranzuziehen und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, angemessen zu bestrafen. Nach der aktuellen Auskunftslage ist die Verweigerung bzw. Umgehung des Wehrdienstes im Iran strafbar (soweit kein Freikauf, keine Befreiung oder dergleichen erfolgt). Entzieht sich eine Person in Friedenszeiten länger als 15 Tage für bis zu einem Jahr (in Kriegszeiten bis zu zwei Monaten) dem Wehrdienst, wird die Dauer des verpflichtenden Wehrdienstes um drei bis sechs Monate verlängert. Bei längerer Wehrdienstentziehung als ein Jahr (in Kriegszeiten zwei Monate) droht außerdem ein Strafverfahren vor dem Militärgericht. Zudem bestehen verschiedene Möglichkeiten des Freikaufs. Seit 2016 können Wehrpflichtige, die mehr als acht Jahre ihren Dienst nicht angetreten haben, durch Zahlung einer Geldstrafe von der Wehrpflicht befreit werden. Des Weiteren gibt es Befreiungsmöglichkeiten aus finanziellen oder sozialen Gründen. Weiter müssen Wehrdienstverweigerer mit dem Entzug sozialer und bürgerlicher Rechte, wie etwa dem Recht auf Arbeit, auf höhere Bildung oder auf Gründung eines eigenen Unternehmens sowie auf Erteilung eines Führerscheins rechnen (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran vom 13.4.2023, S. 44 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran vom 30.11.2022, Stand: 18.11.2022, S. 15 sowie Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 29.4.2019; Bundesamt für ..., Kurzinformation Iran, Februar 2022, Wehrdienst, Wehrdienstentziehung und Desertion).
48
Wehrpflichtige werden dabei nicht individuell per Brief einberufen, sondern müssen sich bei den Militärbehörden melden, denn die Einberufung erfolgt zum Dienst mit Vollendung des 18. Lebensjahres und ist eine bekannte gesetzliche Verpflichtung. Der Einzelnen ist dabei verpflichtet, sich unaufgefordert bei seiner örtlichen Einberufungsstelle zum Dienst zu melden. Tut er dies nicht, gilt er als Wehrdienstentzieher. Entsprechende Ankündigungen erfolgen auch in den Medien. Die Militärkarte wird für viele Aspekte des Alltags benötigt. Die Militärdienstkarte wird nach Vollendung des Wehrdienstes ausgestellt. Ansonsten gibt es eine weitere Wehrdienstbefreiungskarte für die, die offiziell vom Dienst befreiten Personen. Die Wehrdienstkarte ist erforderlich etwa für die Beantragung des Reisepasses, für die Anmeldung einer Eheschließung, für die Erlangung eines staatlichen Arbeitsplatzes. Allerdings gibt es keine zentrale und umfassende Liste von Wehrpflichtigen oder Deserteuren im Iran. Eine eventuelle strafrechtliche Verfolgung erfolgt daher individuell, wenn die örtlich zuständigen Behörden auf den Verstoß gegen die Wehrpflicht aufmerksam würden (vgl. SFH, Iran, Zugang zur Liste mit Wehrdienstleistenden und Sperrung des Bankkontos nach Desertion, vom 17.5.2022).
49
Die Sanktionen beschränken sich damit grundsätzlich auf ein erneutes – verlängertes – Ableisten des vollständigen Wehrdienstes sowie auf eine verspätete Ausstellung der Bescheinigung über die Ableistung des Wehrdienstes mit den damit verbundenen Folgen. Nur ausnahmsweise erfolgt tatsächliche eine Gefängnisstrafe. Dies rechtfertigt nicht die Gewährung von Flüchtlingsschutz (vgl. VG Bayreuth, U.v. 11.8.2016 – B 2 K 16.30837 – juris m.w.N.).
50
Denn die Gefahr selbst einer möglichen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung begründet weder ein Anspruch auf Asyl- noch auf Abschiebungsschutz. Denn die Einforderung staatsbürgerlicher Rechten, wie der Militärdienstleistungspflicht, stellt für sich alleine noch keine politische Verfolgung dar. Ebenso wenig handelt es sich bei den aus der Verweigerung dieser Pflichten resultierenden Konsequenzen wie der strafrechtlichen Ahndung und der zwangsweisen Durchsetzung der Wehrpflicht schon um Maßnahmen politischer Verfolgung. Nur wenn die Strafverfolgung aus politischen Gründen verschärft ist, kann es sich um eine politische Verfolgung handeln. Für die Annahme eines solchen Politmalus sind im Falle des Klägers jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrelevante erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung des Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung und eines sonst asylerheblichen Merkmals treffen sollen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die verhängte Sanktion an eine alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpft (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17 – NVwZ 2017, 1204 m.w.N. sowie etwa VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 71 f.; VG Oldenburg, U.v. 21.3.2022 – 13 A 2680/19, 6517677 – juris S. 7 ff.; VG Ansbach, U.v. 15.9.2020 – AN 19 K 20.30018 – juris Rn. 39 f.; VG Münster, U.v. 10.2.2020 – 6a K 3412/18.A – juris Rn. 48 ff., 64; OVG NRW, B.v. 22.8.2019 – 6 A 300/19.A – juris Rn. 4 und Rn. 8; VG Augsburg, U.v. 27.11.2006 – Au 7 K 05.30480 – juris; VG Düsseldorf, U.v. 8.11.2005 – 2 K 1497/04.A – juris).
51
Eine möglicherweise so drohende Gefängnisstrafe begründet kein Abschiebungshindernis (vgl. § 60 Abs. 6 AufenthG). Denn mit § 60 Abs. 6
52
AufenthG wird klargestellt, dass die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung eine Abschiebung nicht entgegenstehen. Dies wäre nur der Fall, wenn anders als hier die Todesstrafe, Folter oder sonst eine erniedrigende oder unmenschliche Bestrafung erfolgen würden. Dies käme nur in Betracht, wenn dem Kläger aus politischen Gründen eine wesentlich härtere Bestrafung drohen würde, als anderen Wehrdienstentziehern im Iran, wofür aber nichts ersichtlich ist. Der Kläger hat zwar vorgetragen, dass er gegen das islamische und iranische Regime sei. Gleichwohl gibt es keine Erkenntnisse, dass dem Kläger eine Strafe drohen sollte, die aus Sicht des iranischen Staates politische Zwecke erfüllen sollte. Unschädlich wäre im Übrigen auch, wenn die Bestrafung im Iran strenger sein sollte als eine vergleichbare Strafe in einem anderen Staat, etwa in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Zimmerer in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 16. Edition Stand: 15.7.2023, § 60 AufenthG Rn. 28 f.; Koch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 38. Edition Stand: 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 48; vgl. zum Ganzen auch schon VG Würzburg, U.v. 19.8.2019 – W 8 K 19.30846 – juris Rn. 40; U.v. 11.10.2021 – W 8 K 21.30533 – juris Rn. 33; U.v. 9.8.2021 – W 8 K 20.30921 – juris Rn. 24).
53
Vorliegend bezieht und beschränkt sich die Ahndung der Wehrdienstentziehung im Iran nicht auf die Unterdrückung politisch oder religiös missliebiger Personen, etwa, weil dem Verweigerer eine oppositionelle Gesinnung unterstellt würde (vgl. Marx, Flüchtlingsrechtliche Folgen des Vorrangs des Unionsrechts für die deutsche Rechtsprechung, InfAuslR2023, S. 370, 374 f.). Zudem hat der Kläger zu einer möglichen insoweit politisch motivierten Verfolgung seitens des iranischen Staates nichts Greifbares vorgebracht. So fehlen nach dem Vorbringen des Klägers sowie auch nach den sonstigen Erkenntnissen des Gerichts sowohl für die Wehrdienstentziehung ein asylerhebliches Motiv seitens des Klägers (etwa eine Unzumutbarkeit aus Gewissensgründen) als auch für die Ahndung der Wehrdienstentziehung durch den iranischen Staat eine asylerhebliche Zielrichtung. Für einen Politmalus ist nichts ersichtlich.
54
Nach alledem ist es dem Kläger auch mit Blick auf die möglichen Nachteile wegen seiner Wehrdienstentziehung bzw. der Folgen zumutbar in den Iran zurückzukehren. Eine mögliche aufgrund der Wehrdienstentziehung drohende Gefängnisstrafe begründet kein Abschiebeverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (VG Ansbach, U.v. 15.9.2020 – AN 19 K 20.30018 – juris Rn. 39 f.).
55
Abgesehen davon ist – wie schon erwähnt – ein Freikaufen durch temporäre Regelung immer wieder möglich gemacht worden. Zudem gibt es die Möglichkeit der Befreiung, wenn man der einzige Sohn wäre oder einen Bruder hat, der momentan beim Wehrdienst wäre. Im Übrigen bestätigen die vom Kläger erwähnten Folgen für seinen Bruder, der nicht zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen worden ist und dessen Wehrdienstentziehung offensichtlich im Iran nicht mit einer Strafe geahndet worden ist, dass die Wehrdienstentziehung auch unter diesem Gesichtspunkt für den Kläger kein Abschiebungshindernis zu begründen vermag (vgl. VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 71 f.; VG Oldenburg, U.v. 21.3.2022 – 13 A 2680/19, 6517677 – juris S. 7 und 9).
56
Schließlich ist auch nicht anzunehmen, dass dem Kläger sonst bei einer Rückkehr politische Verfolgung droht, etwa wegen der illegalen Ausreise, des Auslandsaufenthalts oder der Asylantragstellung in Deutschland. Auslandsaufenthalte sind nicht verboten. Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus; ausgenommen davon sind Personen, die – anders als hier – seitens der iranischen Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und der blutigen Niederschlagung auf mögliche Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsdiensten überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen. Insbesondere in Fällen, in denen Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher ist kein Fall bekannt geworden, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurden. Exiliraner werden explizit ermutigt zurückzukehren; ihnen wird bei Koordinierung mit der iranischen Justiz eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt. Personen, die das Land illegal verlassen und sonst keine weiteren Straftaten begangen haben, können von iranischen Auslandsvertretungen ein Passersatzpapier bekommen und in den Iran zurückkehren. Abgesehen davon akzeptiert die iranische Regierung unter Verweis auf die Verfassung grundsätzlich ausschließlich freiwillige Rückkehr (Freizügigkeit). Nur bei unterstützter Rückkehr (also im weiteren Sinne auch Umwandlung von Abschiebung in „freiwillige“ Rückkehr durch finanzielle oder sonstige Anreize) ist eine Kooperation realistisch. Konsularkonsultationen über eine Zusammenarbeit bei der Rückführung sind, insbesondere hinsichtlich der Rücknahme schwerer Straftäter, waren noch nicht erfolgreich (siehe zum Ganzen Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand Dezember 2020 vom 5.2.2021, S. 25 f.; Stand 23.12.2021 vom 28.1.2022, S. 4 f. und 21 f.; Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 5 und S. 25 sowie OVG NRW, U.v. 6.9.2021 – 6 A 139/19.A – juris Rn. 74; vgl. im Übrigen VG Würzburg, U.v. 2.1.2020 – juris Rn. 36; U.v. 19.8.2019 – W 8 K 19.30846 – juris Rn. 42 jeweils m.w.N. zur Rspr.).
57
Ergänzend ist noch zu dem Vorbringen des Klägers, dass er schon bei der Einreise aufgrund seines Auslandsaufenthaltes und insbesondere seiner Ausreise Probleme und Repressalien befürchte, anzumerken, dass daraus kein Abschiebungshindernis resultiert. Denn nach der – bereits ausführlich zitierten – Auskunft des Auswärtigen Amtes (Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 2 ff.) findet bei der Rückkehr eines iranischen Staatsangehörigen aus dem Ausland die reguläre Passkontrolle statt. Die Behörden können erkennen, wann der Iran verlassen wurde und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, wenn der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Diese Rückkehrer können im Einzelfall über ihren Auslandsaufenthalt befragt und sogar verhaftet werden. Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amtes werden weder bei der Einreise nach Iran generell, noch nach längerem Auslandsaufenthalt flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung durchgeführt. Das heißt aber nicht, dass im Einzelfall solche Befragungen erfolgen. Auch ein alleiniger längerer Aufenthalt im westlichen Ausland hat keine Repression zur Folge. Anders könnte es nur bei jeweiligen Aktivitäten im Einzelfall sein. Bei einer illegalen Ausreise muss bei einer Rückkehr mit einer Befragung gerechnet werden. Im Rahmen der Befragung wird regelmäßig der Reisepass einbehalten und eine Ausreisesperre ausgesprochen. Die illegale Ausreise ist im Passgesetz geregelt. Eine Strafe ist davon abhängig, wie das Land verlassen wurde. Je nachdem ist mit einer Haftstrafe oder Geldstrafe zu rechnen. Strafverschärfend ist, wenn eine Person – anders als der Kläger – flüchtig ist, zuvor untergetaucht war und das Land illegal verlassen hat. Dem Auswärtigen Amt liegen jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, ob der iranische Staat eine illegale Ausreise aus dem Iran als Ausdruck regimekritischer Gesinnung ansieht. Infolgedessen würde dem Kläger selbst im Falle einer illegalen Ausreise allenfalls eine Bestrafung drohen, die aber gemäß § 60 Abs. 6 AufenthG kein Abschiebungsverbot begründen würde. Abgesehen davon hat der Kläger bei seiner Anhörung im Erstverfahren am 18. Juli 2019 angegeben, den Iran in Richtung Türkei mit dem Flugzeug verlassen zu haben. Dabei sei er von Freunden der Familie begleitet worden. Seine Mutter sei für die Reisekosten aufgekommen. Der Kläger gab selber an, dass er unverfolgt ausgereist sei. Demnach spricht alles dafür, dass der Kläger das Heimatland legal auf dem Luftweg Richtung Türkei und gerade nicht illegal verlassen hat.
58
Nach alledem rechtfertigen weder die einzelnen Aspekte, wie die aktuellen Verhältnisse im Iran, die exilpolitischen Aktivitäten, der noch nicht abgeleistete Wehrdienst oder die Umstände der Ausreise samt Auslandsaufenthalt, je für sich noch in ihrer Zusammenschau – auch unter Einbeziehung des Vorbringens im Erstverfahren, bei dem es primär um die Abkehr des Klägers vom Islam und seine islamkritischen Einstellung ging, ohne damit aber in relevanter Weise nach außen in Erscheinung zu treten (siehe VG Würzburg, U.v. 2.1.2020 – W 8 K 19.31960 – juris), wovon aber im vorliegenden Verfahren überhaupt nicht die Rede war – insgesamt die Annahme, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nunmehr vorlägen, selbst wenn man die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG außer Acht lassen wollte. Erst recht fehlt es an einer entsprechenden Ermessensreduzierung auf Null.
59
Nach alledem ist der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten im Ergebnis von Rechts wegen nicht zu beanstanden und die Klage abzuweisen.
60
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.