Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 21.08.2023 – 203 VAs 243/23
Titel:

Absehen von der Vollstreckung bei Ausweisung

Normenketten:
StPO § 456a
EGGVG § 23, § 28
Leitsätze:
1. Der Zweck der Ermächtigung des § 456a StPO liegt in der Entlastung des Vollzugs bei Straftätern, die das Bundesgebiet aufgrund hoheitlicher Anordnung verlassen müssen und denen gegenüber die weitere Vollstreckung weder unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung noch unter dem der Prävention sinnvoll wäre. (Rn. 9)
2. Bei der Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung nach § 456a StPO abgesehen werden konnte, sind die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in eine Gesamtbetrachtung einzustellen. Das gemäß § 46 Abs. 3 StGB für die Strafzumessung geltende Doppelverwertungsverbot findet im Regelungsbereich von § 465a StPO keine Anwendung. (Rn. 7 und 10)
3. Wenn es sich beim Verurteilten um einen Ausländer handelt, dessen Angehörige in seinem Heimatstaat leben und der aus persönlichen Gründen gerne wieder dorthin zurückkehren würde, muss die Vollstreckungsbehörde diesen Umstand in die Abwägung mit einstellen. Einen Anspruch auf ein Absehen von der weiteren Vollstreckung nach Verbüßung der Halbstrafe kann der Antragsteller daraus jedoch nach der Begehung von schweren Straftaten nicht herleiten. (Rn. 12)
Bei der Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung iSv § 28 Abs. 3 EGGVG, welche sich als willkürlich erweist, wenn die Vollstreckungsbehörde von einem unvollständig ermittelten oder unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, wenn sie Gesichtspunkte zum Nachteil des Antragstellers berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung von Belang sein können, falsch bewertet oder außer Acht gelassen hat oder wenn sie insgesamt keine diese Prüfung ermöglichende Begründung enthält. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag, gerichtliche Entscheidung, Vollstreckungsbehörde, Ermessensentscheidung, willkürlich
Fundstellen:
StV 2024, 695
BeckRS 2023, 32202
LSK 2023, 32202

Tenor

1. Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft M. vom 8. Mai 2023 wird auf seine Kosten als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Der Verurteilte verbüßt seit dem 19. Februar 2021 in der Justizvollzugsanstalt St. eine – neben der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt – verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren aus den Urteilen des Landgerichts Traunstein vom 20. April 2020 (6 KLs 140 Js 15766/19) und vom 19. Februar 2021 (1 Kls 140 Js 15766/19) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit bewaffneten unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz eines verbotenen Gegenstands. Mit Beschluss vom 30. Dezember 2021 hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing den vollständigen Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor der Maßregel angeordnet. Am 28. August 2023 ist unter Berücksichtigung der ab dem 30. August 2019 vollzogenen Untersuchungshaft der Halbstrafenzeitpunkt erreicht, der Zweidritteltermin datiert auf den 25. Dezember 2024. Gemäß seit 11. Juni 2021 bestandskräftigem Bescheid des Landratsamts M. am I. vom 6. Mai 2021 wurde der Verurteilte aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen; zugleich wurde ihm die Abschiebung aus der Haft heraus angedroht.
2
Mit Schreiben vom 6. März 2023 hat der Verurteilte beantragt, von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456a StPO abzusehen. Die Staatsanwaltschaft Tr. hat diesen Antrag mit Verfügung vom 31. März 2023 abgelehnt. Gegen diese Verfügung hat der Verurteilte mit Schreiben vom 26. April 2023 Beschwerde eingelegt, welcher die Staatsanwaltschaft mit begründeter Verfügung vom 27. April 2023 nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft M. hat mit Bescheid vom 8. Mai 2023 die Einwendungen des Verurteilten zurückgewiesen.
3
Gegen diesen, seinem Bevollmächtigten am 16. Mai 2023 zugestellten Bescheid hat der Verurteilte durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16. Juni 2023, eingegangen bei Gericht am selben Tage, gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft M. hat mit Schreiben vom 18. Juli 2023 beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Der Verurteilte hat hierauf erwidert mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 10. August 2023. Wegen der Einzelheiten wird auf die jeweiligen Ausführungen Bezug genommen.
II.
4
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 Abs. 1, 2 EGGVG in Verbindung mit § 456a StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere wurde das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt. In der Sache hat der Antrag aber keinen Erfolg, weil die nach § 456a StPO getroffene Entscheidung keinen Ermessensfehler aufweist und der Verurteilte deswegen nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG).
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1. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO ist eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 28 Abs. 3 EGGVG. Danach sind ablehnende Entscheidungen durch die Gerichte nur daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung willkürlich ist, wenn die Vollstreckungsbehörde von einem unvollständig ermittelten oder unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, wenn sie Gesichtspunkte zum Nachteil des Antragstellers berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung von Belang sein können, falsch bewertet oder außer Acht gelassen hat oder wenn sie insgesamt keine diese Prüfung ermöglichende Begründung enthält (vgl. KK-StPO/Mayer, 9. Aufl., EGGVG § 28 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., EGGVG, § 28 Rn. 10 m.w.N.).
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2. Gegenstand der Überprüfung ist dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Tr. vom 31. März 2023 in der Gestalt, die sie durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft M. vom 8. Mai 2023 im Vorschaltverfahren erhalten hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2021- 203 VAs 274/21-, juris Rn. 15 m.w.N.).
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3. Bei der Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung nach § 456a StPO abgesehen werden konnte, sind die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in eine Gesamtbetrachtung einzustellen (vgl. Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 456a Rn. 14; KK-StPO/Appl, a.a.O., § 456a Rn. 3a m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 456a Rn. 5 m.w.N.).
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4. Gemessen daran ist die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde im Rahmen der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Senats nicht zu beanstanden. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Ausführungen in der vorbezeichneten Verfügung der Staatsanwaltschaft Tr. und im angefochtenen Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft M. Bezug. Ermessensfehler lässt die Ablehnung des Absehens von der weiteren Vollstreckung im Fall des Antragstellers nicht erkennen. Die Entscheidung ist so gefasst, dass sie dem Senat eine Überprüfung auf Ermessensfehler ermöglicht. Die Vollstreckungsbehörde hat von dem ihr eingeräumten Ermessen auf einer zutreffenden Sachverhaltsgrundlage Gebrauch gemacht und dieses unter Beachtung des Normzwecks und der zu § 456a StPO mit dem Zweck einer gleichmäßigen Ermessensausübung erlassenen Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz sowie unter Berücksichtigung der Umstände der Tat, der Schwere der Schuld, der Verbüßungsdauer, des öffentlichen Interesses an einer nachhaltigen Strafvollstreckung und der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten rechtsfehlerfrei ausgeübt.
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a) Der Zweck der Ermächtigung des § 456a StPO liegt in der Entlastung des Vollzugs bei Straftätern, die das Bundesgebiet aufgrund hoheitlicher Anordnung verlassen müssen und denen gegenüber die weitere Vollstreckung weder unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung noch unter dem der Prävention sinnvoll wäre (OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8; KK-StPO/Appl a.a.O. § 456a Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 456a Rdn. 1).
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b) Bei ihrer Entscheidung durfte die Vollstreckungsbehörde entgegen der Rechtsauffassung des Verurteilten nach dem oben Gesagten den Unrechtsgehalt und die Umstände der von dem Antragsteller begangenen Taten in die Abwägung mit einstellen (st. Rspr., vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 VAs 5/13 –, juris Rn. 13). Das gemäß § 46 Abs. 3 StGB für die Strafzumessung geltende Doppelverwertungsverbot findet im Regelungsbereich von § 465a StPO keine Anwendung.
11
c) Demgemäß ist nach Ziffer 2.2 der Ergänzenden Bestimmungen zur Strafvollstreckungsordnung (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 22. Juni 2006, Az. 4300 – II – 787/05 (JMBl. S. 91) -ErgStVollstrO) i. V.m. § 17 Abs. 1 BayStVollstrO eine über den Halbstrafenzeitpunkt hinausgehende Vollstreckung ungeachtet der Prüfung des Einzelfalls angezeigt, wenn – wie hier – die Verurteilung wegen eines Verbrechens aus dem Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität erfolgte. Dann nähert sich der maßgebliche Zeitpunkt für die Anwendung des § 456a StPO dem Beginn des letzten Strafdrittels, falls nicht besondere Umstände sogar die vollständige Verbüßung der Strafe erfordern. Damit übereinstimmend hat die Staatsanwaltschaft Tr. in ihrer Verfügung vom 31. März 2023 bereits angekündigt, dass eine erneute Prüfung im Hinblick auf ein Absehen der weiteren Vollstreckung noch vor dem 30. Juli 2024 stattfinden werde.
12
d) Dass es sich beim Verurteilten um einen Ausländer handelt, dessen Angehörige in seinem Heimatstaat leben und der aus persönlichen Gründen gerne wieder dorthin zurückkehren würde, hat die Vollstreckungsbehörde nicht aus dem Blick verloren. Einen Anspruch auf ein Absehen von der weiteren Vollstreckung nach Verbüßung der Halbstrafe kann der Antragsteller daraus jedoch nach der Begehung von schweren Straftaten nicht herleiten (vgl. auch OLG Koblenz, Beschluss vom 29. April 2020 – 2 VAs 3/20 –, juris Rn. 13). Die persönlichen Verhältnisse und Belange eines Verurteilten sind zwar, soweit dies geboten erscheint, bei der zu treffenden Entscheidung angemessen zu berücksichtigen, stehen jedoch nicht im Vordergrund (OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8). Dementsprechend ergibt sich ein Anlass für eine andere Beurteilung auch nicht aus den Ausführungen des Verurteilten im Schreiben seines Verteidigers vom 10. August 2023.
III.
13
1. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 22 Abs. 1, § 27 Nr. 1 GNotKG.
14
2. Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 3 GNotKG.
15
3. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.