Titel:
Kein Schadensersatz wegen angeblicher Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Verwendung eines „Thermofensters“ rechtfertigt nicht Annahme einer sittenwidrigen Handlung auf Seiten des Automobilherstellers. Dies gilt selbst dann, wenn die Steuerung so konzipiert ist, dass die Temperaturwerte, oberhalb bzw. unterhalb derer die Abgasrückführung reduziert wird, einen Bereich umgrenzen, der annähernd die Temperaturen abdeckt, die auf dem Prüfstand herrschen. (Rn. 16 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Implementierung einer Funktion, die erkennt, ob gerade ein gesetzlich vorgeschriebener Prüfzyklus – etwa der Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ) – durchfahren wird, ist nicht per se unzulässig. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA 288, Thermofenster, Akkustikfunktion, Umschaltlogik, Annexfunktion
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 18.07.2019 – 9 O 1436/19
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 23.02.2023 – 16 U 3122/19
Fundstelle:
BeckRS 2023, 3174
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 18.07.2019, Az. 9 O 1436/19, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht geboten ist.
Entscheidungsgründe
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Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage der Haftung der Beklagten als Herstellerin eines Dieselmotors auf Schadensersatz wegen der behaupteten Verwendung von unzulässigen Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung.
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Die Klagepartei erwarb im Mai 2017 von dritter Seite einen gebrauchten Pkw VW Golf, Erstzulassung 27. Januar 2016, zu einem Preis von 22.200,00 €. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten entwickelten und produzierten Dieselmotor des Typs EA 288 ausgestattet. Zur Reduktion der NOx-Rohemissionen kommt neben einer Abgasrückführung (AGR) als Abgasnachbehandlungsmethode ein NOx-Speicher-Katalysator (NSK) zum Einsatz. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung mit der Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen.
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Das Landgericht hat die Klage – im Wesentlichen gerichtet auf Erstattung des Kaufpreises (abzüglich einer Nutzungsentschädigung) Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs – mit dem angefochtenen Endurteil abgewiesen.
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Mit der Berufung verfolgt die Klagepartei ihr Begehren weiter. Sie hält an ihrem Vorwurf fest, dass im Motor des erworbenen Fahrzeugs unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut seien, durch die gezielt bewirkt werde, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Abgasgrenzwerte zwar auf dem Prüfstand, nicht dagegen im normalen Straßenverkehr eingehalten werden. In diesem Zusammenhang wird als Hauptansatzpunkt im Wesentlichen vorgebracht, dass im Motortyp EA 288 eine mit der Funktionalität beim Motortyp EA 189 vergleichbare Verknüpfung der Abgasrückführung bzw. -nachbehandlung mit einer sog. „Fahrkurvenerkennung“ (sog. „Umschaltlogik“) implementiert sei. Ergänzend stützt die Klagepartei ihr Begehren auf die temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems (sog. „Thermofenster“).
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Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und verteidigt die ergangene Entscheidung.
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Der nun zuständige 17. Zivilsenat hat die Einwände der Klagepartei gegen die Entscheidung des Landgerichts erneut – losgelöst vom Hinweis des 12. Zivilsenats vom 17. August 2021 – geprüft und gewürdigt. Das Berufungsvorbringen reicht jedoch nicht aus, um dem Rechtsmittel zum Erfolg zu verhelfen. Das Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere, für die Klagepartei günstigere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
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Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Klagepartei dringt mit den von ihr geltend gemachten Ansprüchen im Ergebnis nicht durch.
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Der Klagepartei steht gegen die Beklagte kein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB unter dem Gesichtspunkt einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung zu.
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1. Die grundsätzlichen Voraussetzungen einer Haftung aus §§ 826, 31 BGB ergeben sich aus einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
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a) Sittenwidrig ist demnach – in stehender Formulierung – ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, Rn. 11 bei juris; Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 14 bei juris; Beschluss vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 15 bei juris).
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b) Für den – nicht streitgegenständlichen – Motortyp EA 189 hat der Bundesgerichtshof ein objektiv sittenwidriges Verhalten mit der Begründung bejaht, dass die Beklagte auf der Basis einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch Fahrzeuge in Verkehr gebracht habe, in denen eine unzulässige Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung verbaut gewesen sei. Die Motorsteuerungssoftware sei bewusst und gewollt so programmiert gewesen, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden, indem als Reaktion auf einen erkannten Prüfstandlauf eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert worden sei (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 16 f. bei juris). Das an sich erlaubte Ziel einer Erhöhung des Gewinns werde auch im Verhältnis zum Käufer eines der Fahrzeuge dann verwerflich, wenn es auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde – konkret: des KBA (§ 2 Abs. 1 EG-FGV) – erreicht werden solle und mit einer Gesinnung verbunden sei, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen und Schäden als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeige (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 23 bei juris).
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2. Vor diesem Hintergrund kann, bezogen auf den hier interessierenden Motor in seiner konkreten Ausführung (siehe die einleitend unter A. festgehaltenen Daten), ein der Beklagten zuzurechnendes sittenwidriges Geschehen nicht festgestellt werden.
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Die tragenden Gesichtspunkte gegen eine Haftung aus §§ 826, 31 BGB sind auf unterschiedlichen Ebenen verortet, die es auseinanderzuhalten gilt:
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Was den Einsatz eines „Thermofensters“ angeht (nachfolgend unter a), unterstellt der Senat zugunsten der Klagepartei, dass eine solche Funktion als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren ist (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693). Allein die europarechtliche Unzulässigkeit des Geschehens begründet indes noch keine (für eine Haftung der Beklagten erforderliche) Sittenwidrigkeit des Handelns der Verantwortlichen. Die Annahme einer Sittenwidrigkeit ist unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt.
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Anders verhält es sich, wo der Verbau einer „Umschaltlogik“ (oder auch „Akkustikfunktion“) in den Raum gestellt wird. Die Implementierung einer „Prüfstandserkennung“ – klägerseits auch bezeichnet als „Fahrkurvenerkennung“ oder „Lenkwinkelerkennung“ – (nachfolgend unter b) führt zwar für sich genommen noch nicht zu einer Haftung der Beklagten. Auf der Grundlage der schon in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Motortyp EA 189 würde es jedoch für eine Einstufung des Vorgehens als sittenwidrig ausreichen, wenn die genannte Funktion auf das (unstreitig mögliche und stattfindende) Erkennen eines Prüfstandbetriebs zusätzlich unter Täuschung des KBA mit einer Steuerung des Emissionskontrollsystems – sei es schon im Rahmen der Abgasrückführung oder erst im Rahmen der Abgasnachbehandlung oder auch in beiden Zusammenhängen – in einer Weise reagiert, die dazu führt, dass nur auf dem Prüfstand maßgeblich „bessere“ Emissionswerte erzielt werden. Indes lässt der Sachvortrag der Klagepartei – zu den Umständen der Abgasnachbehandlung über den Katalysator (NSK) – selbst dann, wenn man diesbezüglich vom Vorliegen einer europarechtlich unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeht, keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung seitens der Beklagten erkennen. Dass (auch) in einem anderen Zusammenhang – konkret: soweit es schon um die Abgasrückführung geht – in der beschriebenen Hinsicht in sittenwidriger Weise manipuliert worden ist, hat die Klagepartei nicht ausreichend dargelegt, sondern lediglich „ins Blaue hinein“ behauptet.
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Schließlich verfängt auch die sonstige Argumentation der Klagepartei in Richtung einer unzulässigen Programmierung der Motorsteuerungssoftware nicht (nachfolgend unter c).
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a) Der (unstreitige) Umstand, dass im Motortyp EA 288 eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems („Thermofenster“) verbaut ist, vermag eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB nicht zu begründen.
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aa) Das Vorgehen der Beklagten wäre nur dann als sittenwidrig einzustufen, wenn der (unterstellt: unzulässige) Einsatz des „Thermofensters“ von „weiteren Umständen“ flankiert wäre, die das Handeln der Verantwortlichen als besonders verwerflich erscheinen lassen.
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Die schon thematisierte, eine besondere Verwerflichkeit des Vorgehens und deshalb eine Haftung aus §§ 826, 31 BGB bejahende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Motortyp EA 189 erfasst nicht auch die Konstellation des „Thermofensters“. Der entscheidende strukturelle Unterschied besteht darin, dass die hier in Rede stehende Funktion die Steuerung der Abgasrückführung gerade nicht an das Erkennen eines Prüfstandbetriebs koppelt („Umschaltlogik“), sondern an Parameter, die die Steuerung unter den gegebenen Umständen auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise beeinflussen.
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Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 16 bei juris; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, Rn. 27 bei juris; Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, Rn. 13 bei juris; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, Rn. 16 bei juris; Beschluss vom 25. November 2021 – III ZR 202/20, Rn. 14 bei juris).
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Zur Begründung verweist der Bundesgerichtshof darauf, dass die Entscheidung zum Einsatz der hier interessierenden Funktion nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen sei, in der die Beklagte (bezogen auf den Motortyp EA 189) die grundlegende strategische Frage getroffen habe, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse von einer Einhaltung der neu eingeführten Abgasgrenzwerte im realen Fahrbetrieb komplett abzusehen und dem KBA stattdessen zur Erlangung der Typgenehmigung mithilfe einer eigens hierfür entwickelten Steuerungssoftware wahrheitswidrig das Einhalten der Grenzwerte vorzuspiegeln. Die Software (des Motortyps EA 189) sei bewusst und gewollt so programmiert gewesen, dass die Grenzwerte nur auf dem Prüfstand eingehalten, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten wurden („Umschaltlogik“), und habe damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abgezielt (BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 17 bei juris; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, Rn. 16 bei juris). Bei der Implementierung eines „Thermofensters“ fehle es demgegenüber an einem vergleichbaren arglistigen Vorgehen des Automobilherstellers, welches die Einstufung seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Die in Rede stehende temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung unterscheide nämlich gerade nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befinde. Sie weise keine Funktion auf, die bei Erkennen eines Prüfstandbetriebs eine verstärkte Abgasrückführung aktiviere und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziere, sondern arbeite in beiden Situationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.) entspreche die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 18 bei juris).
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Der Bundesgerichtshof bejaht selbst dann keine Haftung, wenn die Steuerung so konzipiert ist, dass die Temperaturwerte, oberhalb bzw. unterhalb derer die Abgasrückführung reduziert wird, einen Bereich umgrenzen, der annähernd die Temperaturen abdeckt, die auf dem Prüfstand herrschen (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 286/20, Rn. 24 bei juris; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, Rn. 25 bei juris, konkret ein vergleichsweise enges Temperaturfenster von 15 bis 33 Grad Celsius betreffend). Ein solcher Befund ändert nichts daran, dass die Abgasrückführung im Straßenbetrieb unter gleichen Bedingungen genauso funktioniert wie auf dem Prüfstand. In der Konsequenz lässt sich allein aus dem Vorwurf, der Einsatz eines „Thermofensters“ habe zur Folge, dass das betroffene Fahrzeug die gesetzlichen Vorgaben bezüglich der Emission im Realbetrieb nur in Ausnahmesituationen erfülle, kein tragfähiges Argument für das Vorliegen einer sittenwidrigen Schädigung gewinnen.
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Für eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB bedarf es vielmehr „weiterer Umstände“, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist schon der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, Rn. 28 bei juris; Urteil vom 23. September 2021 – III ZR 200/20, Rn. 22 bei juris). Die notwendigen „weiteren Umstände“ könnten sich zum Beispiel aus (gegebenenfalls) unzutreffenden Angaben der Beklagten im Typengenehmigungsverfahren über die Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, Rn. 22 bei juris).
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bb) Die Klagepartei, die insoweit darlegungsbelastet ist (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 35 bei juris; Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 19 bei juris), zeigt im Streitfall keine „weiteren Umstände“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung auf, aus denen eine besondere Verwerflichkeit abgeleitet werden könnte.
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(1) Eine Täuschung des KBA konnte schon deshalb nicht stattfinden, weil der Behörde der Einsatz von „Thermofenstern“ in Dieselfahrzeugen spätestens seit dem Jahr 2008 bekannt war (vgl. die von der Beklagten in Bezug genommene, in einem Verfahren vor dem OLG Stuttgart – Az. 16a U 194/19 – eingeholte amtliche Auskunft des KBA vom 11. September 2020).
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(2) Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt voraus, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß zugleich billigend in Kauf nahmen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, Rn. 13 bei juris). Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage durch Verantwortliche der Beklagten genügt hingegen für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Vorgehens der Beklagten nicht (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, Rn. 31 f. bei juris).
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Anhaltspunkte für ein Handeln in Kenntnis eines (unterstellten) Gesetzesverstoßes könnten sich ergeben, wenn im Typgenehmigungsverfahren verschleiert wird, dass eine bestimmte Abschalteinrichtung zur Anwendung kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 24 bei juris); ebenso würden wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben im Typgenehmigungsverfahren, die auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA gerichtet sind, für ein solches Unrechtsbewusstsein sprechen (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, Rn. 26 bei juris).
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Greifbare, über eine pauschale Behauptung hinausreichende Argumente dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen wenigstens die Möglichkeit einer Gesetzeswidrigkeit von „Thermofenstern“ erkannt und eine Gesetzwidrigkeit bewusst gebilligt haben könnten, um den Gewinninteressen des Konzerns unter Umgehung von Gesundheits- und Umweltschutzvorschriften und auf die Gefahr einer späteren Betriebsuntersagung hin gegenüber den Interessen der Kunden den Vorzug zu geben, hat die darlegungsbelastete Klagepartei indes nicht unterbreitet.
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Die Klagepartei legt nicht dar, inwieweit die Beklagte im Typgenehmigungsverfahren ganz bestimmte Angaben zur Arbeitsweise des „Thermofensters“ gemacht haben soll, die bewusst unrichtig und auf eine Täuschung des KBA gerichtet gewesen sein könnten. Allein der unsubstantiierte Vorwurf, dass von Seiten der Beklagten dem KBA im Typgenehmigungsverfahren wichtige Informationen vorenthalten und falsche Angaben gemacht worden seien, ist nicht ausreichend. Die Beklagte trifft daher auch keine sog. sekundäre Darlegungslast dahingehend, dass sie ihre konkreten Angaben aus dem Typgenehmigungsverfahren offenlegen müsste.
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Zudem vertrat die zuständige Typgenehmigungsbehörde gerichtsbekannt die Ansicht, dass der Einsatz von „Thermofenster“ zum Zwecke des Motorschutzes grundsätzlich zulässig sei (wie von der Beklagten regelmäßig vorgelegte Auskünfte des KBA belegen). Die Beklagte musste in Bezug auf die Auslegung des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 keinen strengeren Maßstab anlegen als die zuständige Behörde. Ein Klarstellungsersuchen an das KBA oder an die Europäische Kommission war vor diesem Hintergrund nicht veranlasst, weshalb aus einer diesbezüglichen Untätigkeit kein Rückschluss auf einen Vorsatz hinsichtlich einer Unzulässigkeit gezogen werden kann.
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Die Leitlinien C(2017) 352 der Europäischen Kommission vom 26. Januar 2017 „für die Bewertung zusätzlicher Emissionsstrategien und des Vorhandenseins von Abschalteinrichtungen im Hinblick auf die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6)“ existierten zum Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeug noch nicht.
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Detaillierte Beschreibungen der Standard-Emissionsstrategien und etwaiger zusätzlicher Emissionsstrategien sind erst seit dem 16. Mai 2016 vorgeschrieben, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung (EU) 2016/646 vom 20. April 2016, mit der die Verordnung (EG) Nr. 692/2008 geändert und insbesondere Art. 5 dieser Verordnung um die Absätze 11 und 12 erweitert worden ist. Aber selbst wenn die Beklagte im Typgenehmigungsverfahren bestimmte Angaben zu den Einzelheiten der temperaturabhängigen Steuerung unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG) gehalten gewesen, diesbezüglich von sich aus nachzufragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZR 126/21, Rn. 26 bei juris).
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b) Auch in Anknüpfung an den (unstreitigen) Umstand, dass in die Steuerungssoftware des Motortyps EA 288 eine „Fahrkurvenerkennung“ („Prüfstandserkennung“) integriert ist, lässt sich kein haftungsbegründendes sittenwidriges Verhalten der Beklagten feststellen.
34
aa) Die Implementierung einer Funktion, die erkennt, ob gerade ein gesetzlich vorgeschriebener Prüfzyklus – etwa der Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ) – durchfahren wird, ist nicht per se unzulässig (so auch OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 52 bei juris; OLG Saarbrücken, Urteil vom 5. Januar 2022 – 2 U 86/21, Rn. 23 bei juris; OLG Schleswig, Urteil vom 13. Juli 2021 – 7 U 188/20, Rn. 42 bei juris; OLG Dresden, Urteil vom 1. Juli 2021 – 11a U 1085/20, Rn. 34 bei juris; OLG Stuttgart vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 52, juris). So kann es beispielsweise notwendig sein (und deshalb eine Funktion zur „Zykluserkennung“ erfordern), dass bestimmte Sicherheitssysteme des Fahrzeugs auf dem Prüfstand automatisch abgeschaltet werden (vgl. OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 7. Oktober 2020 – 4 U 171/18, Rn. 49, 55 bei juris). Lediglich die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die konkret die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist im Grundsatz europarechtlich unzulässig (Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung [EG] Nr. 715/2007).
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bb) Der Einsatz von Funktionen, die die „Fahrkurvenerkennung“ mit bestimmten Steuerungen der Abgasnachbehandlung durch den NSK-Katalysator verknüpft, reicht unter den gegebenen Umständen nicht aus – weder in der Einzelbewertung der von der Klagepartei monierten Abläufe noch in der Gesamtschau –, um der Beklagten ein sittenwidriges Vorgehen anzulasten.
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(1) Jedenfalls bis zum Modellwechsel 2016 (KW 22/2016) war der Motortyp EA 288 so programmiert, dass die beladungsgesteuerte Regeneration des NSK (Entladung bei vollem Zustand) bei Erkennen eines Prüfstandsbetriebs deaktiviert wurde; infolgedessen regenerierte der NSK auf dem Prüfstand – anders als im Realbetrieb – nur noch streckengesteuert (Entladung nach einer Fahrtstrecke von ca. 5 km). Zusätzlich wurde der NSK am Ende der dem Prüfbetrieb stets vorgeschalteten (ebenfalls erkannten) Vorkonditionierungsfahrt (sog. „Precon“) vollständig regeneriert, um einen leeren Zustand zu Beginn der NEFZ-Prüffahrt zu gewährleisten. Der grundsätzlich erfolgte Einsatz entsprechender Funktionen ergibt sich aus der von der Klagepartei vorgelegten sog. „Applikationsrichtlinie“ (internes Dokument der Beklagten vom 18. November 2015: „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“). Der Senat geht mit Blick auf den unstreitigen Vortrag der Parteien davon aus, dass die in Rede stehenden Funktionen im konkreten Fall implementiert waren.
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(2) Es kann offen bleiben, ob es sich – was schon fraglich erscheint – bei der hier gegebenen Steuerungsfunktion hinsichtlich der Abgasnachbehandlung überhaupt um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handelt.
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Festzuhalten ist, dass sich die hier zu beurteilende Funktionalität grundlegend von der „Umschaltlogik“ unterscheidet, die der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Motortyp EA 189 zugrunde liegt. Diese Punkte sind der gegebene „Realitätsbezug“ der durch den Eingriff in die Arbeitsweise des NSK geschaffenen Situation und die fehlende „Grenzwertkausalität“ der Folgen des Eingriffs:
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(i) Die prüfstandsbezogene Steuerung der Regeneration des NSK bewirkt – anders als die „Umschaltlogik“ des Motortyps EA 189 – eine auch im Realbetrieb auftretende Arbeitsweise der Abgasreinigung.
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Im realen Straßenbetrieb erfolgt die NSK-Regeneration, wie beschrieben, je nach Fahrprofil strecken- und beladungsgesteuert, nämlich nach ca. 5 gefahrenen Kilometern bzw. nach Erreichen der vollen Beladung, je nachdem, welches der Ereignisse früher eintritt. Mit Blick auf die streckenbezogenen Regenerationsintervalle hängt die Anzahl der Regenerationen, die beim Durchfahren des gesetzlichen Prüfzyklus NEFZ (11 km) auftreten, davon ab, in welchem Beladungszustand der NSK sich zu Beginn befindet. Denn bei leerem (oder fast leerem) NSK kommt es im Prüfzyklus nur zu zwei Regenerationen. Ist der NSK dagegen voll (oder fast voll), kann dies zu insgesamt drei Regenerationen führen.
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Vor diesem Hintergrund geht mit der prüfstandsbezogenen Steuerung der Abgasnachbehandlung in der hier interessierenden Ausgestaltung keine Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter solchen Bedingungen einher, wie sie bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind (ebenso OLG Koblenz, Urteil vom 24. August 2021 – 3 U 184/21, Rn. 29 bei juris). Zwar liegt nach dem Sinn und Zweck der europarechtlichen Regelung auch dann eine grundsätzlich unzulässige Abschalteinrichtung vor, wenn die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems nicht im normalen Fahrbetrieb verringert, sondern – umgekehrt – im Prüfstandsbetrieb erhöht wird (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, Rn. 102 bei juris; OLG Koblenz, Urteil vom 24. August 2021 – 3 U 184/21, Rn. 29 bei juris; OLG Naumburg, Urteil vom 9. April 2021 – 8 U 68/20, Rn. 27 bei juris). Die hier ausgelöste Erhöhung der Wirksamkeit (im Prüfstandsbetrieb) ist jedoch nicht an Bedingungen geknüpft, die im Realbetrieb nicht auftreten. Zum einen kann der NSK auch im normalen Straßenbetrieb bei Beginn der Fahrt leer (oder fast leer) sein. Zum anderen ist auch „auf der Straße“ bei emissionsarmer Fahrweise zu erwarten, dass es über eine dem NEFZ-Prüfzyklus entsprechende Fahrtstrecke von 11 km hinweg zu keiner beladungsgesteuerten Regeneration kommt, denn anderenfalls würde der Einsatz einer zusätzlichen streckenbezogenen Aktivierungsvariante nach dem Vortrag der Parteien keinen Sinn ergeben. Demnach funktioniert das Emissionskontrollsystem beim Motortyp EA 288 in der streitgegenständlichen Ausführung – anders als beim Motortyp EA 189 – im realen Fahrbetrieb und im Prüfstandsbetrieb im Wesentlichen in gleicher Weise (ebenso OLG Koblenz, Urteil vom 24. August 2021 – 3 U 184/21, Rn. 29 bei juris). Es ist lediglich so, dass die Entleerungen des NSK im Prüfstandsbetrieb nicht dynamisch, sondern nach einem festen Schema gesetzt werden. Im Ergebnis wird im Prüfstandsbetrieb gleichwohl eine auch im realen Fahrbetrieb vorkommende Arbeitsweise des Katalysators abgebildet, wobei zu berücksichtigen ist, dass im NEFZ-Prüfzyklus generell von den Rahmenbedingungen her (vgl. hierzu OLG Stuttgart vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 60 bei juris) lediglich ein Ausschnitt der möglichen Fahrsituationen nachgeahmt wird, welcher dem realen Fahrbetrieb – wenn überhaupt – nur selten entspricht.
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(ii) Im übrigen hat die Klagepartei eine „Grenzwertkausalität“ der Funktion nicht ausreichend dargelegt, was bedeutet, dass es an einem substantiierten Sachvortrag dazu fehlt, inwieweit die Umschaltung der Betriebsmodi gegebenenfalls notwendig ist, um die gesetzlichen Abgasgrenzwerte auf dem Prüfstand einhalten zu können.
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Auch bei Unterstellen einer (europarechtlichen) Unzulässigkeit im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2017 böte die Abschalteinrichtung für sich genommen keine ausreichende Grundlage dafür, der Beklagten ein Verhalten anzulasten, das eine Haftung gegenüber den Käufern begründet. Von daher geht auch jeder Verweis darauf, dass die Verordnung kein Tatbestandsmerkmal der „Grenzwertkausalität“ kenne, ins Leere.
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Eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB würde, wie weiter oben schon angesprochen, speziell eine sittenwidrige Vorgehensweise voraussetzen; es bedürfte des Vorliegens „weiterer Umstände“, die es erst rechtfertigen, das Geschehen als besonders verwerflich zu qualifizieren. Angesichts dieser rechtlichen Vorgaben vermag ein Eingriff in das Abgassystem, der nicht dazu dient, das Einhalten der Emissionsgrenzwerte auf dem Prüfstand überhaupt erst zu ermöglichen, sondern die Messergebnisse nur (relativ) verbessern soll, schon den objektiven Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht zu erfüllen. Im hier maßgeblichen Haftungszusammenhang ist das Kriterium der „Grenzwertkausalität“ von ausschlaggebender Bedeutung (so auch OLG Bremen, Urteil vom 21. Januar 2022 – 2 U 62/21, Rn. 35 f. bei juris; OLG Köln, Urteil vom 30. Juni 2021 – 5 U 254/19, Rn. 36 bei juris). In der Sache – der Begriff als solcher ist neueren Ursprungs – stand dieses Kriterium bereits im Mittelpunkt der eingangs behandelten Grundsatzentscheidung, die der Bundesgerichtshof auf einen Sachverhalt stützte, bei dem die Steuerungssoftware „bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur [!] auf dem Prüfstand eingehalten wurden“, und bei dem der Beklagte „über die Einhaltung [!] der gesetzlichen Abgaswerte getäuscht“ hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 16, 18 bei juris; Hervorhebungen jeweils hinzugefügt). Bei der (damals erfolgten) Bejahung der Sittenwidrigkeit sei, so heißt es in der Begründung der Entscheidung, gerade auch zu berücksichtigen gewesen, dass die Beklagte eine Software eingesetzt habe, „durch die die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm nur [!] im Prüfbetrieb eingehalten wurden“, womit man „unerlaubt Einfluss auf den Stickoxidausstoß genommen“ habe, der (insoweit unterstellt: ohne die Manipulation) „über das Maß des nach den gesetzlichen Vorgaben Zulässigen hinaus [!] erhöht“ gewesen sei (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 27; Hervorhebungen jeweils hinzugefügt).
45
Die Klagepartei – die im hier gegebenen Zusammenhang die Darlegungslast trifft – hat nicht konkret dazu vorgetragen, dass die der Beklagten vorgeworfene Manipulation „grenzwertkausal“ ist, wie es beim Motortyp EA 189 der Fall war (und zwar, wie vorstehend erläutert, als zentrales Element einer etwaigen Haftung aus §§ 826, 31 BGB). Sie hat nicht dargetan, dass es ohne eine solche Manipulation der Steuerungssoftware beim Motortyp EA 288 in der verfahrensgegegständlichen Ausführung (NSK-Katalysator) nicht gelungen wäre, die vorgeschriebenen Abgasgrenzwerte im Prüfstandsbetrieb einzuhalten. Allein die Verwendung der in Rede stehenden Funktion lässt nicht schon auf eine (intendierte) „Grenzwertkausalität“ schließen, weil insoweit grundsätzlich auch andere Ziele (etwa das Schaffen eines Wettbewerbsvorteils durch eine bloß relative Verbesserung der Abgaswerte) in Betracht kommen und die Beklagte nachvollziehbar dargelegt hat, dass die in Rede stehende Funktionalität dem Zweck diene, eine Reproduzierbarkeit der Messergebnisse zu gewährleisten. Auch aus der bereits behandelten „Applikationsrichtlinie“ der Beklagten ergibt sich an keiner Stelle, dass das dort (für die vor der KW 22/2016 produzierten Motoren) beschriebene, mit der „Fahrkurvenerkennung“ verknüpfte Steuerung der Abgasnachbehandlung einen Einfluss auf die Einhaltung der Grenzwerte hatte.
46
Zugleich ist es so, dass verschiedene Umstände in Rechnung zu stellen sind, die sogar in die gegenteilige Richtung deuten, also eher gegen eine „Grenzwertkausalität“ sprechen. Die Anforderungen an die eigene Darlegungslast, der die Klagepartei ohnehin nicht genügt hat, würden mit Blick auf diese Umstände noch angehoben. So hat das KBA für die vom zuständigen Bundesminister am 22. September 2015 eingesetzte Untersuchungskommission „Volkswagen“ unter anderem zwei Gebrauchtfahrzeuge (Audi A3 2.0 l und VW Golf Sportsvan 2.0 l) nach unzulässigen Abschalteinrichtungen untersuchen lassen, in denen jeweils ein Motor des Typs EA 288 mit NSK-Technologie verbaut war. Das KBA stellte dabei insgesamt sieben Prüfroutinen zusammen. Als Fahrprofile wurden neben dem (damals einzig vorgeschriebenen) NEFZ-Zyklus auch einige NEFZ-variierte Profile und der sog. RDE-Zyklus („Real Driving Emission“) gefahren (siehe Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“, Stand April 2016, Seiten 13, 15 ff.). Bei beiden Fahrzeugen wurde im NEFZ-Prüfzyklus der Höchstwert (des Stickoxidausstoßes) von 80 mg/km jeweils eingehalten. Besonders interessant ist, dass die Messwerte auch außerhalb des NEFZ-Zyklus größtenteils unter dem Grenzwert lagen. Dies war bei allen NEFZ-variierten Testreihen der Fall, die zum Teil nicht auf dem Prüfstand, sondern auf ebener Straße und mit betriebswarmem Motor durchgeführt wurden. Beim Audi A3 wurde sogar während der RDE-Fahrt der Grenzwert eingehalten (siehe Seiten 20 f. des genannten Berichtes).
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Noch aussagekräftiger ist die vom KBA in einer Streitsache vor dem LG Berlin (Az. 67 O 36/20) erteilte amtliche Auskunft vom 1. Februar 2021 (zum Motortyp EA 288 mit NSK-Katalysator), in der zum Ergebnis der durchgeführten Prüfungen festgehalten wird, dass „auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenfunktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten werden“ (womit eine „Grenzwertkausalität“ verneint wird).
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Konkrete Umstände, die dafür sprechen könnten, dass das KBA trotz seiner Kenntnis von der auf Täuschung ausgerichteten Vorgehensweise der Beklagten im Zusammenhang mit dem Motortyp EA 189 bei seinen Prüfungen nicht alle maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat, ergeben sich aus dem Vorbringen der Klagepartei nicht.
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Im Übrigen ließe auch eine etwaige „Grenzwertkausalität“ der vorliegenden prüfzyklusabhängigen NSK-Steuerung aufgrund der genannten Umstände noch nicht den Schluss auf ein diesbezügliches Rechtswidrigkeitsbewusstsein der Beklagten zu. Es kommt daher auch nicht auf die Frage an, ob und wann das KBA eigene Untersuchungen zur „Grenzwertkausalität“ durchführte (siehe auch BGH, Beschluss vom 21. März 2022 – Az. VIa ZR 334/21, Rn. 24 bei juris).
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(3) Selbst für den – nachfolgend um der weiteren Argumentation willen unterstellten – Fall, dass die beschriebene prüfstandsbezogene Steuerung der Arbeitsweise des NSK als eine europarechtlich unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen ist, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz emissionsbeeinflussender Einrichtungen im Verhältnis zur Klagepartei als besonders verwerflich erscheinen zu lassen.
51
Die beschriebene Steuerung des Abgassystems verkörpert keine besonders verwerfliche – sittenwidrige – Vorgehensweise der Beklagten, da sie gemäß der schon thematisierten „Applikationsrichtlinie“ alle Vorgaben zur NSK-Steuerung ausdrücklich unter den Vorbehalt gesetzmäßigen Handels gestellt und im übrigen nachvollziehbar erläutert hat, dass die Steuerung der Vermeidung verzerrter Testergebnisse gedient habe (siehe auch BGH, Beschluss vom 21. März 2022 – Az. VIa ZR 334/21, Rn. 19, 20 bei juris).
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Wie bereits erwähnt, beruft sich die Beklagte regelmäßig darauf, dass die in Rede stehende Funktionalität dem Zweck diene, eine Reproduzierbarkeit der Messergebnisse zu gewährleisten. Tatsächlich ist eine solche Intention nicht per se als missbilligenswert anzusehen, insbesondere ist sie nicht mit der unternehmerischen Entscheidung zu vergleichen, die hinter der „Umschaltlogik“ des Motortyps EA 189 steht und das Verwerflichkeitsurteil in der einschlägigen Rechtsprechung begründet. Denn es ist nachvollziehbar, dass sich die Messergebnisse in Fällen eines anfänglich (fast) leeren – und damit zugleich am effektivsten arbeitenden – NSK auf der einen Seite und eines anfänglich (fast) vollen – und damit eventuell einer zusätzlichen (dritten) Entladung bedürfenden – NSK auf der anderen Seite erheblich unterscheiden können, weshalb die Ergebnisse insoweit von einem mit dem Prüfzyklus nicht in Verbindung stehenden Zufallsfaktor abhängen. Das Bemühen um eine Nivellierung dieses Zufallsfaktors mit dem Ziel der Schaffung einheitlicher Testbedingungen geht nicht auf eine sittenwidrige Schädigungsabsicht zurück. Dementsprechend hat auch das OLG Stuttgart die Intention, durch die Steuerung am Ende des „Precon“ zu verhindern, dass die im NSK gespeicherten Schadstoffe, die noch aus vorangegangenen Fahrten herrühren, aufgrund einer anderenfalls im NEFZ-Zyklus erfolgenden zusätzlichen Regeneration Eingang in die Messung finden, als ein grundsätzlich legitimes Ziel des Herstellers angesehen, welches als solches keine Änderung der Abgasnachbehandlung im Vergleich zum Realbetrieb darstellt (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 43 bei juris).
53
Im Übrigen ist die hier zu beurteilende Vorgehensweise auch im Hinblick auf die fehlende „Grenzwertkausalität“ nicht mit einem Verhalten zu vergleichen, das – wie es auf den Fall der „Umschaltlogik“ beim Motortyp EA 189 zutrifft – gerade durch eine Täuschung über die Einhaltung der Grenzwerte zum Zwecke des Erschleichens der Typenehmigung geprägt wird und das mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und Umwelt gleichgültig zeigt (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 23 bei juris).
54
(4) Von allen anderen Überlegungen abgesehen, lässt die fehlende „Grenzwertkausalität“ auch einen etwaigen Schaden der Klagepartei entfallen, der in den Fallkonstellationen der vorliegenden Art nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur in einem ungewollten Vertragsschluss bestehen könnte. Dabei wird nach allgemeiner Lebenserfahrung angenommen, dass ein Käufer kein Fahrzeug erworben hätte, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 49 bei juris). Eine entsprechende Gefahr ist hier nicht ersichtlich, da die gesetzlichen Abgasgrenzwerte auch bei Deaktivierung der „Fahrkurvenerkennung“ (samt Folgefunktionen) eingehalten werden.
55
cc) Die übrigen Ausführungen der Klagepartei, auf die sie die Behauptung stützt, dass die „Fahrkurvenerkennung“ nicht nur mit der Abgasnachbehandlung (NSK) verknüpft sei, sondern auch dazu genutzt werde, um in das System der Abgasrückführung (AGR) manipulativ einzugreifen, sind prozessual unbeachtlich, weil sie „ins Blaue hinein“ erfolgen.
56
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist gemäß der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten. Weiter ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Dies gilt im hier interessierenden Kontext insbesondere dann, wenn sich ein Kläger nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil er mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann. Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, Rn. 7 f. bei juris). Von einem Kläger kann nicht verlangt werden, dass er im Einzelnen darlegt, weshalb er von dem Vorhandensein einer oder mehrerer Abschalteinrichtungen ausgeht und wie diese konkret funktionieren. Vielmehr ist von ihm nur – aber dies dann auch unbedingt – zu fordern, dass er „greifbare Umstände“ anführt, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine oder mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen auf (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, Rn. 10 bei juris).
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Gemessen an diesen Anforderungen ist der Vorwurf der Klagepartei, die im Motortyp EA 288 integrierte „Fahrkurvenerkennung“ sei (in einer mit dem Befund beim Motortyp EA 189 vergleichbaren Weise) so ausgestaltet, dass die Wirkungen des Emissionskontrollsystems abseits des Prüfstandbetriebs verringert werden, nicht ausreichend unterlegt. Die verschiedenen Argumente, welche die Klagepartei präsentiert, um ihre Behauptung zu plausibilisieren, sind letztlich nicht geeignet – weder einzeln noch in der Gesamtschau –, die erforderlichen „greifbaren Anhaltspunkte“ für die Richtigkeit des Vorwurfs zu liefern:
58
(1) Aus dem Umstand, dass es sich beim Motortyp EA 189 um den Vorgängermotor zum streitgegenständlichen Typ EA 288 gehandelt hat, kann nicht abgeleitet werden, dass auch im Nachfolgemodell eine unzulässige Abschalteinrichtung enthalten ist. Auch wenn jede Entwicklung auf früheren Erkenntnissen und Ergebnissen aufbaut, ist eine reine Schlussfolgerung, dass bestimmte (software-) technische Einrichtungen beibehalten werden, nicht tragfähig (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 54 bei juris; OLG Dresden, Urteil vom 4. Dezember 2020 – 9a U 2074/19, Rn. 30 bei juris).
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(2) Auch aus den von der Klagepartei zitierten „Applikationsrichtlinien“ der Beklagten zu den Motortypen EA 189 und EA 288 ergibt sich weder direkt noch indirekt ein Hinweis auf den Verbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im vorliegend interessierenden Motortyp EA 288 oder auf eine Täuschung des KBA. Insbesondere enthält die Richtlinie zum Motortyp EA 288 keinen Anhaltspunkt dafür, dass die beim Motortyp EA 189 eingesetzte sog. „Akustikfunktion“ schlicht auf das Nachfolgemodell übertragen worden sein könnte.
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(3) Die vorgelegten Messergebnisse – etwa der DUH – liefern für die Behauptung der Klagepartei ebenfalls keinen belastbaren Anhaltspunkt. Die Gegenüberstellung von Messergebnissen aus dem Prüfstand- und dem Straßenbetrieb ist, selbst wenn die Unterschiede der gemessenen Werte deutlich ausgefallen sein sollten, ohne hinreichende Aussagekraft für die allein maßgebliche Frage, ob das Emissionskontrollsystem des Motortyps EA 288 mittels einer „Umschaltlogik“ auf den jeweiligen Betriebsmodus (Prüfstand oder Straße) mit unterschiedlichen Verfahrensabläufen bei der Abgasemission reagiert (so auch OLG Frankfurt, Urteil vom 7. Oktober 2020 – 4 U 171/18, Rn. 44 bei juris; OLG Bamberg, Urteil vom 26. November 2020 – 1 U 368/19, Rn. 41 bei juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 60 ff. bei juris; OLG Hamm, Urteil vom 22. Juni 2021 – 13 U 194/20, Rn. 75 bei juris). Es ist gerichtsbekannt, dass – als Folge der gesetzlich vorgegebenen Prüfbedingungen – die Emissionswerte im normalen Fahrbetrieb regelmäßig höher sind als auf dem Prüfstand. In diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof klargestellt, dass es nur darauf ankommen kann, ob die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand „unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.)“ entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, Rn. 18 bei juris). Da der europäische Gesetzgeber für die Schadstoffnormen Euro 5 und Euro 6 im Jahr 2013 eine Messung allein im Prüfstandbetrieb festgelegt hatte (und erst seit dem Herbst 2017 für Neufahrzeuge auch Messungen im Realbetrieb in den WLTP-Standard einschließt), ist es im hier interessierenden Zusammenhang nicht von Bedeutung, wenn ein betroffenes Fahrzeug im Realbetrieb die der Zulassung zugrunde liegenden NEFZ-Werte nicht einhält (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 7. Oktober 2020 – 4 U 171/18, Rn. 44 bei juris). Dem Senat ist kein bestimmter Faktor bekannt, ab dem sich eine Grenzwert-Überschreitung im Realbetrieb nicht mehr allein durch unterschiedliche Begleitumstände erklären lässt (so auch OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Januar 2021 – 16a U 196/19, Rn. 63 bei juris).
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(4) Nicht erfolgreich stützen kann die Klagepartei ihre Vorwürfe auf allgemein geäußerte Verdachtsumstände etwa in der Berichterstattung der „Tagesschau“ bzw. des SWR. Denn in dieser Berichterstattung wird schon nicht behauptet, dass konkrete Beweise für ein Betroffensein auch des Motortyps EA 288 von illegalen Aktivitäten gefunden worden wären. Vielmehr ist überhaupt nur vom Einsatz einer „Zykluserkennung“ die Rede. Dies genügt – wie dargelegt – jedoch nicht, um von der Existenz einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgehen zu können.
62
(5) Die Ausführungen der Klagepartei zur sog. „selektiven katalytischen Reduktion“ (SCR) und insbesondere zu einer prüfstandoptimierten Zuführung von Harnstoff-Flüssigkeit („AdBlue“) zum Zwecke der Senkung von NOx-Emissionen gehen ins Leere, weil das hier betroffene Fahrzeug unstreitig nicht mit einem SCR-Katalysator ausgestattet ist.
63
(6) Soweit die Klagepartei den durch das KBA erfolgten Rückruf unter Code „23Z7“ anführt, ist nicht schlüssig dargelegt, warum dieser gerade (auch) das streitgegenständliche Fahrzeugmodell erfasst haben soll. Der Rückruf betraf – aus einer Vielzahl anderer Verfahren gerichtsbekannt – (nur) Modelle vom Typ VW T6, die mit einem SCR ausgestattet waren und bezog sich (nur) auf eine sog. „Konformitätsabweichung“ mit konkretem Bezug auf den Dieselpartikelfilter und dessen Regeneration gestützt habe.
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c) Auch das sonstige Vorbringen der Klagepartei enthält keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Vorgehen der Beklagten.
65
Die Behauptung der Klagepartei, dass die Motorsteuerungssoftware nach einer Fahrzeit von ca. 1.400 Sekunden eine Reduzierung der Abgasrückführung bewirke (was man als „Fahrtzeitfenster“ bezeichnen könnte), zeigt kein haftungsbegründendes Geschehen auf. Mit Blick auf die vom Bundesgerichtshof zum „Thermofenster“ aufgestellten Grundsätze kann auch insoweit nicht von einem sittenwidrigen Handeln ausgegangen werden. Entscheidend ist wiederum – wie bei der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems –, dass auch eine mit einem Zeitfenster hinterlegte Abschalteinrichtung auf dem Prüfstand und im Straßenverkehr in gleicher Weise (unter Auslösen derselben Abgasrückführungsrate) arbeitet. Von daher ist es auch im vorliegenden Kontext nicht von maßgeblicher Bedeutung, wenn das programmierte Zeitfenster (ca. 1.400 Sekunden) der Fahrzeit im Prüfzyklus (ca. 1.180 Sekunden) nahe kommt. Vor diesem Hintergrund hätte es der Darlegung etwaiger (vom Bundesgerichtshof geforderter) „weiterer Umstände“ in Richtung einer besonderen Verwerflichkeit bedurft.
66
Eine Haftung der Beklagten kann sich insbesondere nicht aus einer Manipulation des On-Board-Diagnosesystems (OBD) ergeben. Unabhängig von der Frage, ob das OBD selbst überhaupt eine Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) 715/2007 darstellen kann, obwohl es unstreitig die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems selbst weder aktiviert, verändert, verzögert noch deaktiviert (vgl. Art. 3 Nr. 10 der genannten Verordnung), und unbeschadet der weiteren Frage eines substantiierten Sachvortrags ist ein auf die Programmierung des OBD gestützter Anspruch ausgeschlossen, soweit dieses im normalen Straßenverkehr sowie im Rahmen der Abgasuntersuchung und der Inspektion keine Fehlfunktion des Abgassystems anzeigt. Denn das OBD kann tatsächlich und rechtlich nicht selbstständig betrachtet werden, sondern ist im Zusammenhang mit dem im Fahrzeug eingerichteten Emissionskontrollsystem zu sehen: Seine Warnfunktion kann sich immer nur auf die Betriebsabläufe des konkret im Fahrzeug eingerichteten Abgassystems beziehen (sog. „Annexfunktion“). Erfüllt die Einrichtung dieses Systems nicht den Tatbestand des § 826 BGB, dann kann mangels selbständigen Handlungsunrechts eine Haftung wegen sittenwidrigen Verhaltens auch nicht mit der Adaption des OBD an das für sich genommen nicht haftungsauslösende Abgassystem begründet werden (vgl. auch OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Oktober 2019 – 17 U 296/19, Rn. 72 bei juris; OLG Bamberg, Urteil vom 26. November 2020 – 1 U 368/19, Rn. 64 bei juris).
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Schuldrechtliche Ansprüche bestehen ebenfalls nicht.
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Der Kaufvertrag über das streitgegenständliche Fahrzeug kam unstreitig nicht zwischen der Klagepartei und der Beklagten zustande. Es entstand auch weder ein Schuldverhältnis nach § 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB noch nach § 443 BGB.
69
Nach § 311 Abs. 3 S. 2 BGB entsteht ein Schuldverhältnis zwischen Nicht-Vertragsparteien insbesondere dann, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst. Das ist bei der Beklagten nicht der Fall. Sie war weder unmittelbar noch mittelbar an den Vertragsverhandlungen beteiligt noch hatte sie als Herstellerin ein über ihr allgemeines Absatzinteresse, das im Fall der hier vorliegenden Gebrauchtwagenkauf auch nur ein allgemeines Interesse an einem Gebrauchtwagenhandel mit von ihr hergestellten Fahrzeugen zu „guten“ Preisen war (BGH Urt. v. 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, BeckRS 2020, 19146 Rn. 26 bei beck-online) hinausgehendes wirtschaftliches Interesse gerade an dem Vertragsabschluss mit der Klagepartei. Auch die sog. EG-Übereinstimmungsbescheinigung für das streitgegenständliche Fahrzeug scheidet als vertrauensbegründende Maßnahme im Rahmen des Abschlusses des Kaufvertrages aus.
70
Zudem hat die Beklagte im Rahmen der EG-Übereinstimmungsbescheinigung auch keine Garantie i.S. von § 443 BGB gegenüber der Klagepartei übernommen, weil der Übereinstimmungsbescheinigung weder ihrem Wortlaut noch ihrem Zweck nach ein solcher Erklärungs- und Rechtsbindungswillen beigemessen werden kann. Ihrem Wortlaut nach wird in der EG-Übereinstimmungsbescheinigung, die nicht einmal an die Klagepartei adressiert ist, sondern gem. § 6 Abs. 1 S. 1 EG-FGV lediglich dem Fahrzeug beizufügen ist, nur „bestätigt“, dass der streitgegenständliche PKW mit dem in der Genehmigung beschriebenen Typ übereinstimmt. Der Zweck der Übereinstimmungsbescheinigung besteht in der Vereinfachung und Formalisierung des Zulassungsverfahrens. Die Zulassungsbehörden sollen allein aufgrund der vorgelegten Übereinstimmungsbescheinigung das jeweilige Fahrzeug zulassen (§ 6 Abs. 3 S. 1 FZV), d.h. ohne die vom KBA im Genehmigungsverfahren geprüften materiellen Anforderungen erneut prüfen zu müssen. Die Übereinstimmungsbescheinigung dient also allein dazu, die Zulassung des jeweiligen Fahrzeugs zu gewährleisten.
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Anderweitige deliktische Ansprüche ergeben sich auch nicht unter sonstigen Gesichtspunkten.
72
Die Beklagte haftet insbesondere nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder den Normen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt festgehalten, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Schutzbereich dieser Bestimmungen liegt (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 76 bei juris; Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, Rn. 11 bei juris; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, Rn. 36 bei juris).
73
Des Weiteren sind auch die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB nicht schlüssig dargetan. An die obigen Ausführungen anknüpfend ist festzuhalten, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine bewusste, der Beklagten zurechnende Täuschung und für eine auf eine rechtswidrige Bereicherung abzielenden Absicht vorliegen. Im Übrigen würde der in Rede stehende Anspruch, da es hier um einen Gebrauchtwagenkauf geht, auch am Fehlen der erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden scheitern (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, Rn. 17 bei juris; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, Rn. 40 bei juris).
74
Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 2. Juni 2022 in der beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Rechtssache C-100/21 ändern nichts an der Bewertung, dass es sich bei den einschlägigen Bestimmungen des EG-Typgenehmigungsrechts nicht um Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB handelt, mit denen ein Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts einzelner Fahrzeugerwerber bezweckt wird. Aus Sicht des Senats bedarf es keines Zuwartens auf die ausstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs.
75
1. Schon aus formalen Gründen erscheint zweifelhaft, ob die Schlussanträge des Generalanwalts für sich genommen einen hinreichenden Anlass bieten, eine neue Beurteilung vorzunehmen (oder von einem Festhalten an der bisherigen Beurteilung vorübergehend abzusehen).
76
a) Der Bundesgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Rechtslage im hier interessierenden Punkt eindeutig ist („acte clair“).
77
In seinem Grundsatzurteil vom 25. Mai 2020 hatte der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ausgeführt, dass es letztlich nicht darauf ankomme, ob den Vorschriften der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV (und den zugrunde liegenden Vorgaben des EG-Typgenehmigungsrechts) grundsätzlich ein Schutzgesetzcharakter abzusprechen sei, denn jedenfalls liege ein Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der vom „Dieselskandal“ betroffenen Käufer nicht im Aufgabenbereich der Normen; wegen der Eindeutigkeit der Rechtslage stelle sich diesbezüglich keine entscheidungserhebliche, der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts, die (anderenfalls) ein Vorabentscheidungsersuchen im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV erforderlich mache (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 72 ff., 77 bei juris). Andere Senate haben sich der Beurteilung des 6. Zivilsenats in der Folge angeschlossen (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2022 – VIa ZR 204/21, juris; Beschluss vom 24. November 2021 – VII ZR 217/21, Rn. 1 ff bei juris).
78
b) Die Eindeutigkeit (in der vorgenannten Reichweite) würde nicht zwingend schon dadurch in Frage gestellt, dass der Generalanwalt – wenn dies in der Sache der Fall wäre – mit seinen Schlussanträgen auf eine maßgebliche Änderung dieser Rechtsprechung abzielt.
79
Der Europäische Gerichtshof selbst hat sich – soweit ersichtlich – in der hier thematisierten Rechtssache noch nicht positioniert. Aus dem Umstand, dass bestimmte Schlussanträge vorliegen, kann nicht einfach abgeleitet werden, dass die ausstehende gerichtliche Entscheidung diesen Anträgen folgen wird. Verfahrens-, zeit- und sachübergreifende statistische Überlegungen sind in diesem Zusammenhang fehl am Platze; unabhängig von der Frage, ob und inwieweit solche Überlegungen überhaupt auf belastbaren Daten beruhen, kann eine wenig greifbare Wahrscheinlichkeitsthese, dass der Europäische Gerichtshof eine bestimmte Aussage treffen könnte, nicht ausreichen, um der „acte clair“-Rechtsprechung in Vorwegnahme einer mutmaßlichen zukünftigen Entscheidung den Boden zu entziehen.
80
2. Jedenfalls aber ist – in der Sache selbst – den Schlussanträgen des Generalanwalts gerade nicht zu entnehmen, dass aus seiner Sicht das Unionsrecht den inländischen Gerichten zwingend vorgeben könnte, den vom „Dieselskandal“ betroffenen Klägern für die Durchsetzung der von ihnen erhobenen Ansprüche (auch) den Weg über § 823 Abs. 2 BGB zu eröffnen.
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a) Selbst wenn den Bestimmungen des EG-Typgenehmigungsrechts (auch) eine gewisse drittschützende Wirkung (zugunsten der Fahrzeugerwerber) innewohnt, fehlt es an einer tragfähigen Argumentation in die Richtung, dass ihnen – weitergehend – ein umfassender Schutzgesetzcharakter nach inländischem Recht positiv zugeschrieben werden müsste.
82
aa) Um der Argumentation willen soll im Folgenden unterstellt werden, dass die vom Generalanwalt in seinem abschließenden Antwortvorschlag in Bezug genommenen europarechtlichen Regelungen dahin auszulegen sind, dass sie zum einen (siehe Nr. 1 des Vorschlags) „die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung … ausgestattet ist“ und zum anderen (siehe Nr. 2 des Vorschlags) „die Mitgliedstaaten [verpflichten], vorzusehen, dass ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung … ausgestattet ist“.
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bb) Diese Auslegungen stehen indes einem gleichzeitigen Festhalten an der zitierten inländischen Rechtsprechung, die einen Schutzgesetzcharakter nicht bejaht (sondern die Frage der grundsätzlichen Anwendbarkeit von § 823 Abs. 2 BGB offen lässt), nicht entgegen:
84
(1) Eine Rechtsnorm ist (nur) dann ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben. Nicht ausreichend ist aber, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (st. Rspr.; vgl. statt vieler: BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 73 bei juris m.w.N.).
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(2) Die Bestimmungen des EG-Typgenehmigungsrechts erfüllen diese engeren Voraussetzungen nicht, denn der Antwortvorschlag des Generalanwalts enthält – zu Recht – nicht (auch nicht in der Zusammenschau mit den seinem Vorschlag vorangestellten Erwägungen) die klare Aussage, dass der Individualschutz nicht bloß ein abgeleitetes Ergebnis, sondern gerade (auch) der konkrete Zweck der von ihm thematisierten Normen ist.
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Die Ausführungen des Generalanwalts stellen nicht in Frage, dass den in der RL 2007/46/EG getroffenen Regelungen als solchen von vornherein keine unmittelbare Geltung in den Mitgliedsstaaten zukommt (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Auch hält der Generalanwalt selbst fest, dass die einschlägigen Bestimmungen der VO (EG) Nr. 715/2007 – konkret: Art. 5 Abs. 1 u. 2 – nicht auf den Schutz von Individualinteressen abzielen. Einen Individualschutz vermag er nur insoweit – und damit nur sehr indirekt – zu bejahen, als die Verordnung „in ihrem Kontext zu sehen“ sei, der durch die Richtlinie geprägt werde. Die Richtlinie stelle über die in ihrem Art. 3 Nr. 36 definierte sog. Übereinstimmungsbescheinigung eine „ausdrückliche Verbindung zwischen dem Kraftfahrzeughersteller und dem individuellen Erwerber eines Fahrzeugs“ her. Dies geschehe über den Erwägungsgrund Nr. 0 im Anhang IX, „wonach die Übereinstimmungserklärung eine Erklärung des Fahrzeugherstellers darstellt, in der der dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt“ (siehe Rn. 41 ff. der Schlussanträge).
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Die bloß mittelbare Verknüpfung der Verordnung mit den Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen, wie sie der Generalanwalt aus der zitierten Zielbestimmung im Anhang IX der Richtlinie herausliest, reicht nicht für die Feststellung aus, dass der europäische Gesetzgeber einen Rechtsschutz zugunsten von Einzelpersonen konkret im Auge gehabt hat. Zu deutlich steht hier die Möglichkeit im Raum, dass die mit der Übereinstimmungserklärung abgegebene Versicherung des Fahrzeugherstellers den Erwerber nur faktisch – reflexartig – schützt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Argumentation des Generalanwalts mit dem Erwägungsgrund Nr. 0 im gegebenen Kontext noch zusätzlich an Gewicht verliert, weil dieser gar nicht auf den europäischen Gesetzgeber zurückgeht, wie die Ursprungsfassung der Richtlinie vom 5. September 2007 zeigt, deren Anhang IX noch keine Zielbestimmungen kannte (vgl. ABl. L 263 vom 9. Oktober 2007, S. 1). Die Zielbestimmungen sind erst im Nachgang von der Kommission eingefügt worden, als diese mit der VO (EG) Nr. 385/2009 vom 7. Mai 2009 den Anhang IX der Richtlinie durch eine Neu-Fassung ersetzt hat (vgl. ABl. L 118 vom 13. Mai 2009, S. 13).
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(3) Auch zwingen weder der „Effektivitätsgrundsatz“ (im Allgemeinen) noch eine – gemäß dem Antwortvorschlag Nr. 2 unterstellte – Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung eines Ersatzanspruchs der Fahrzeugerwerber gegen den Fahrzeughersteller (im Konkreten) die inländischen Gerichte zu einer Anwendung von § 823 Abs. 2 BGB.
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Zwar sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht möglichst wirksam anzuwenden („effet utile“), weshalb sie – in Befolgung des Umsetzungsgebots (Art. 288 Abs. 3 AEUV) und des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) die Auslegung des nationalen Rechts unter Ausschöpfung von Beurteilungsspielräumen möglichst weitgehend am Wortlaut und Zweck einer einschlägigen Richtlinie auszurichten haben, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2020 – C-735/19, Rn. 75 bei juris; BGH, Urteil vom 18. November 2020 – VIII ZR 78/20, Rn. 25 bei juris m.w.N.).
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Aktuelle Änderungen zur Umsetzung im vorgenannten Sinne sind freilich nur dann geboten, wenn die Auslegung des nationalen Rechts dem Richtlinienauftrag noch nicht (oder nicht mehr) genügt. Dies ist in Ansehung der von der deutschen Rechtsordnung bereitgestellten Haftungsvorschriften des Vertrags- und des Deliktsrechts und der Auslegung, die diese in der Gerichtspraxis erfahren, nicht der Fall. Der Generalanwalt zeigt auch kein diesbezügliches (vermeintliches) Defizit auf. Sein schlichter Verweis darauf, dass der Einzelrichter des Landgerichts Ravensburg in seiner Vorlageentscheidung seinerseits die Auffassung vertreten habe, dass (erstens) ein Fahrzeughersteller „nach derzeitigem Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten und somit auch keinen Anreiz [habe], die Unionsvorschriften penibel einzuhalten“ (siehe Rn. 58 der Schlussanträge) und (zweitens) „die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften … wohl nur dann durchschlagskräftig wären, wenn auch fahrlässige Verstöße durch deliktische Schadensersatzansprüche der Erwerber gegen den Hersteller sanktioniert würden und die Hersteller dies von vornherein einkalkulieren müssten“ (siehe Rn. 59 der Schlussanträge), enthält ausdrücklich keine eigene Positionierung und gibt nur die subjektive Unzufriedenheit des vorlegenden Einzelrichters mit dem Verhältnis von Klageabweisungen und Verurteilungen im „Dieselskandal“ weiter.
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Das bestehende Recht hält zahlreiche – abgestufte – Instrumente bereit, die sowohl das Interesse der Betroffenen, kein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben, in ausreichendem Umfang schützen, als auch wirksame Sanktionen für Verstöße von Motorenhersteller gegen die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften vorsehen. Auch wenn das Zuerkennen eines Schadensersatzanspruchs gegen den Motorenhersteller wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB von der Erfüllung strenger Voraussetzungen abhängt, ist dies bereits in vielen Tausenden von Fällen geschehen. Überdies stehen den Erwerbern in aller Regel vertragliche – verschuldensunabhängige – Ansprüche gegen den Verkäufer zu, die insbesondere auf Nacherfüllung gerichtet sind und gegebenenfalls – soweit der Verkäufer nicht der Motorenhersteller ist – zu Regressansprüchen gegen den Hersteller (und damit wiederum zu dessen Haftung) führen. Schließlich sind auch die nach deutschem Recht vorgesehenen Strafen und Bußgelder (vgl. z.B. § 37 Abs. 1 EG-FGV) und die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtsbehörden (vgl. § 25 EG-FGV) in Rechnung zu stellen (vgl. zum Ganzen ebenso schon: OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juni 2022 – 24 U 115/22, Rn. 96 ff. bei juris).
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Die Ausführungen in den Schlussanträgen lassen nicht erkennen, dass die inländische Rechtslage (vermittelt durch die Gesetzeslage und die Rechtsprechungspraxis) ein unionsrechtlich vorgegebenes Rechtsschutzniveau konkret unterschreitet. Dies gilt insbesondere für die Frage einer etwaigen deliktischen Haftung des Herstellers für ein bloß fahrlässiges Fehlverhalten. Die Frage einer Fahrlässigkeitshaftung wird vom Generalanwalt als solche – unter inhaltlichen (wertenden) Gesichtspunkten – gar nicht behandelt; sie gerät überhaupt nur indirekt in den Blick, indem sie, unter Berufung auf den vorlegenden Einzelrichter, als schlichte faktische Folge der Bejahung einer umfassenden Anwendbarkeit des § 823 Abs. 2 BGB angeführt wird. Dass der Antwortvorschlag des Generalanwalts zu Nr. 2 so eng zu verstehen sein könnte, dass der geforderte Ersatzanspruch des Fahrzeugerwerbers gegen den Hersteller nicht an weitergehende (einschränkende) Voraussetzungen geknüpft werden darf (wie es beim Haftungsregime des § 826 BGB der Fall ist), sondern auch schon bei fahrlässigen Verstößen (oder gar verschuldensunabhängig) greifen muss, lässt sich den Schlussanträgen im Gesamtbild nicht entnehmen.
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b) Keinesfalls jedoch – unabhängig von der Frage eines Schutzgesetzcharakters der Bestimmungen des EG-Typgenehmigungsrechts – folgt aus den Schlussanträgen des Generalanwalts, dass die Kläger des „Dieselskandals“ ihren regelmäßig verfolgten Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags auf eine Fahrlässigkeitshaftung stützen können.
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Der Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags, der typischerweise mit einem Dritten geschlossen worden ist, findet seine spezielle Rechtfertigung (allein) darin, dass das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Käufers verletzt worden ist, das unter anderem auch seinen (des Käufers) Schutz vor einem „ungewollten Vertragsschluss“ bewirken soll. Der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags fällt indes – rechtsfolgenbezogen – von vornherein nicht in den Schutzbereich der einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 76 bei juris; Beschluss vom 1. September 2021 – VII ZR 59/21, Rn. 3 bei juris; Urteil vom 10. Februar 2022 – III ZR 87/21, Rn. 14 bei juris). Konkrete Überlegungen, die darauf hinauslaufen könnten, diese Rechtsprechung in Frage zu stellen, enthalten die Schlussanträge des Generalanwalts nicht.
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3. Im Ergebnis sieht der Senat – eine Entscheidungserheblichkeit verneinend – keinen Anlass, das vorliegende Verfahren bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der eingangs genannten Rechtssache auszusetzen (in analoger Anwendung des § 148 ZPO) oder wegen derselben (oder ähnlicher) Fragen ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV zu betreiben. Auch eine sonstige gezielte Zurückstellung des Verfahrens unterbleibt.
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Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
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Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 8. Februar 2023.