Titel:
Nichtigkeit von Ein-Mann-Beschlüssen während der Corona-Pandemie
Normenkette:
WEG § 21, § 20
Leitsätze:
2. Beschlüsse einer "Ein-Mann-Versammlung" sind nicht nichtig, aber ggf. anfechtbar. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3. Wird ein bestätigender Zweitbeschluss gefasst, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung, wenn der Erstbeschluss bereits bestandskräftig ist. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Coronapandemie, Ein-Mann-Versammlung, Zweitbeschluss, Beschlussnichtigkeit
Fundstellen:
ZMR 2023, 931
LSK 2023, 31511
BeckRS 2023, 31511
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Der Streitwert wird auf 6.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Kläger handeln als Prozessstandschafter der Eigentümer der Wohnung Nr. 24 in der beklagten WEG. Die Eigentümer haben die Kläger zur Erhebung von Beschlussklagen ermächtigt.
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Mit Schreiben vom 11.03.2021 lud die Hausverwaltung zu einer Eigentümerversammlung am 07.04.2021. Beigefügt waren u.a. eine Erläuterung zu TOP 7 „(Vorratsbeschluss) Beschlussfassung über den Abschluss eines Gestattungsvertrags mit den Stadtwerken München (SWM) zur Errichtung einer Lade-Infrastruktur im Keller / TG-Bereich zum Laden von E-Fahrzeugen“ sowie der geplante Gestattungsvertrag mit Plan (Anlagen B 1 bis B 4). Hinsichtlich des Wortlauts der Einladung und des weiteren beigefügten Schreibens wird auf die Anlagen B 1 und K 5 verwiesen.
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Die Eigentümerversammlung vom 07.04.2021 wurde durchgeführt, unter TOP 7 wurde folgender Beschluss gefasst:
Die Eigentümer beschließen, den vorgelegten Gestattungsvertrag mit den Stadtwerken München, der die Errichtung und den Betrieb einer Lade-Infrastruktur enthält, abzuschließen. Der Vertragsabschluss bzw. die Umsetzung steht unter der Bedingung, dass mind. zwei Antragsteller (Nutzer) ihrerseits einen Nutzungsvertrag mit den Stadtwerken München abschließen. Die bauseits zu erbringenden Leistungen (Errichtung einer fachgerechten Montagewand) werden zu Lasten der Erhaltungsrücklage Tiefgarage finanziert. Die geschätzten Kosten hierfür betragen ca. € 3.000.
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Das Amtsgericht München hat mit Urteil vom 15.12.2021, 1295 C 8298/21 WEG, auf die Anfechtungsklage der Kläger hin die Beschlüsse der Versammlung vom 07.04.2021 zu TOP 4 a und b für nichtig erklärt, da durch die während der Coronapandemie durchgeführte „Ein-Mann-Versammlung“ in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingegriffen worden sei.
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Die Einladung zur Eigentümerversammlung vom 10.05.2022 erfolgte mit Schreiben der Hausverwaltung vom 11.04.2022.
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In der Eigentümerversammlung vom 10.05.2022 wurden u.a. folgende Beschlüsse gefasst:
„Die Eigentümer beschließen, die Hausverwaltung für den Berichts- und Abrechnungszeitraum 2020 zu entlasten.“
„Die Eigentümer beschließen, den vorgelegten Gestattungsvertrag mit den Stadtwerken München, der die Errichtung und den Betrieb einer Lade-Infrastruktur enthält, abzuschließen. Der Vertragsabschluss bzw. die Umsetzung steht unter der Bedingung, dass mind. zwei Antragsteller (Nutzer) ihrerseits einen Nutzungsvertrag mit den Stadtwerken München abschließen. Die bauseitig zu erbringenden Leistungen (Errichtung einer fachgerechten Montagewand) werden zu Lasten der Instandhaltungsrücklage Tiefgarage finanziert. Die geschätzten Kosten hierfür betragen ca. € 3.000,00.“
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Die Kläger führen aus, dass der Beschluss zu TOP 7 zu unbestimmt sei. Es seien keinerlei Angaben zum Inhalt des Vertrags gemacht, eine Bezugnahme auf den Vertrag sei nicht ausreichend. Dieser sei nicht datumsmäßig bezeichnet und habe in der Versammlung auch nicht vorgelegen. Der Beschluss widerspreche auch ordnungsgemäßer Verwaltung, da nur ein einziger Gestattungsvertrag ohne weitere Angebote vorgelegt worden sei. Der Beschluss widerspreche außerdem § 21 Abs. 1 WEG, die Kosten hätten nicht auf die WEG umgelegt werden dürfen, sondern wären von den die bauliche Veränderung begehrenden Wohnungseigentümern zu tragen gewesen. Auch sei die Finanzierung aus der (zweckgebundenen) Erhaltungsrücklage unzulässig. Die Beschlüsse vom 07.04.2021 seien sämtlich aus dem im Urteil des Amtsgerichts München vom 15.12.2021 genannten Gründen nichtig. Der Beschluss zu TOP 4a entspreche schon deshalb nicht ordnungsgemäßer Verwaltung, weil auf Grund der am 07.04.2021 unzulässig durchgeführten Eigentümerversammlung Schadensersatzansprüche gegen die Verwalterin in Betracht kämen.
Der in der Eigentümerversammlung vom 10.05.2022 unter TOP 7 (Seite 8 des Protokolls der ETV vom 10.05.2022 „Die Eigentümer beschließen, den vorgelegten Gestattungsvertrag mit den Stadtwerken München, der die Errichtung und den Betrieb einer Lade-Infrastruktur enthält, abzuschließen. Der Vertragsabschluss bzw. die Umsetzung steht unter der Bedingung, dass mind. zwei Antragsteller (Nutzer) ihrerseits einen Nutzungsvertrag mit den Stadtwerken München abschließen. Die bauseitig zu erbringenden Leistungen (Errichtung einer fachgerechten Montagewand) werden zu Lasten der Instandhaltungsrücklage Tiefgarage finanziert. Die geschätzten Kosten hierfür betragen ca. € 3.000,00“) gefasste Eigentümerbeschluss wird für ungültig erklärt.
Der in der Eigentümerversammlung vom 10.05.2022 unter TOP 4 a) (Seite 4 des Protokolls der ETV vom 10.05.2022 gefasste Eigentümerbeschluss), die Hausverwaltung für den Bericht zum Abrechnungszeitraum 2021 zu entlasten, wird für ungültig erklärt.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte führt aus, dass der Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehle, da bereits unter TOP 7 der Eigentümerversammlung vom 07.04.2021 der Abschluss des Gestattungsvertrags bestandskräftig beschlossen worden sei. Der Beschluss sei jedenfalls nicht nichtig. Das Urteil des Amtsgerichts München vom 15.12.2021 habe gerade nicht TOP 7 betroffen, im Übrigen sei das Urteil unrichtig. Die Maßnahme sei auch längst umgesetzt. Mit dem Beschluss vom 10.05.2022 habe nur eine Nachgenehmigung erfolgen sollen, um jegliche Unsicherheit auszuschließen. Der Beschluss sei auch nicht unbestimmt, da der Entwurf des Gestattungsvertrags bereits dem Einladungsschreiben vom 11.03.2021 beigefügt gewesen sei. Da mit dem Abschluss des Vertrags auch keine unmittelbaren Kosten für die WEG im Sinne einer Zahlung an die SWM verbunden gewesen seien, sei auch die Einholung von Vergleichsangeboten nicht erforderlich gewesen. Ein Verstoß gegen § 21 Abs. 1 WEG liege nicht vor, da durch den Abschluss des Vertrags keine unmittelbaren Kosten entstanden seien, im Übrigen handle es sich um eine bauliche Veränderung auf Veranlassung der Wohnungseigentümergemeinschaft, nicht auf Veranlassung eines einzelnen Wohnungseigentümers.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig.
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1. Das Amtsgericht München ist örtlich und sachlich ausschließlich zuständig, §§ 43 Nr. 4 WEG, 23 Nr. 2 lit. c) GVG.
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2. Die Kläger sind prozessführungsbefugt für die von ihnen erhobene Anfechtungsklage.
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Zum Zeitpunkt der Klageerhebung waren die Kläger nicht Wohnungseigentümer, sondern Nießbraucher der Wohnung Nr. 24. Dem Nießbraucher von Wohnungseigentum steht die Befugnis zur Anfechtung eines von den Wohnungseigentümern gefassten Beschlusses nicht zu (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.2020 – V ZR 71/20). Die vorliegende Klage ist jedoch zulässig, da die Kläger von den Eigentümern der Wohnung Nr. 24 zur Erhebung der Anfechtungsklage ermächtigt worden sind und dies auch offengelegt haben (K 1).
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Die Klage ist nicht begründet. Die angegriffenen Beschlüsse sind weder nichtig noch widersprechen sie aus innerhalb der Anfechtungsfrist vorgetragenen Gründen ordnungsgemäßer Verwaltung.
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1. Die Kläger haben innerhalb der Klagefrist des § 45 S. Hs. 1 WEG offengelegt, dass sie Nießbraucher sind und die Klage im Wege der Prozessstandschaft erheben. Die Ermächtigung zur Prozessführung lag auch bereits objektiv innerhalb der Klagefrist vor.
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2. Im angefochtenen TOP 4a wurde die Entlastung für das Berichtsjahr 2020 beschlossen. Die Einwände der Kläger (im Übrigen auch der Wortlaut des Antrags) beziehen sich auf das Jahr 2021 und sind demnach für die Beurteilung des Beschlusses nicht relevant. Anfechtungsgründe, die den vom Beschluss umfassten Zeitraum betreffen, sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.
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3. a) Der der vorliegend angefochtenen Beschlussfassung zu TOP 7 zugrunde liegende Beschluss der Eigentümerversammlung vom 07.04.2021 (TOP 7) ist nicht nichtig.
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aa) In der Durchführung der Versammlung am 07.04.2021 lag kein derart eklatanter Verstoß, dass dieser zwingend die Nichtigkeit sämtlicher in der Versammlung gefassten Beschlüsse zu Folge haben müsste (vgl. hierzu AG Kaufbeuren, ZMR 2022, 332). Zwar sollten die Eigentümer hier zweifellos dazu bewegt werden, auf eine Teilnahme zu verzichten. Dieser auf alle Eigentümer gleichsam wirkende Druck führt jedoch noch nicht zur Nichtigkeit der auf einer „Ein-Personen-Versammlung“ gefassten Beschlüsse (vgl. LG Frankfurt a.Main, Urteil vom 02.02.2023, WuM 2023, 182 m.w.N.). Dem berechtigten Interesse der Eigentümer auf angemessene Selbstverwaltung und mögliche Beschlussfassungen auch in der Corona-Pandemie auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem berechtigten Interesse der Eigentümer, dass Beschlüsse nur nach ordnungsgemäßer Durchführung einer Eigentümerversammlung mit entsprechenden Mitwirkungsmöglichkeiten wirksam gefasst werden können, wird dadurch, dass die Beschlüsse nicht als nichtig, sondern lediglich als anfechtbar angesehen werden, in sachgerechter Weise Rechnung getragen (vgl. auch AG Kaufbeuren, aaO.).
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Vorliegend wird dies besonders deutlich: Die gleichen Kläger haben die in der Versammlung vom 07.04.2021 gefassten Beschlüsse TOP 4a und 4b fristgerecht angefochten, nicht jedoch den Beschluss zu TOP 7. Ein (weiteres) berechtigtes Interesse, sich nunmehr nach Ablauf der Anfechtungsfrist aus den damals bereits bekannten und umfassend diskutierten pandemiebedingten Ladungsmängeln auf die Nichtigkeit eines TOP berufen zu können, der damals gerade nicht angefochten wurde, wird aus Sicht des Gerichts der dargestellten Interessenslage nicht gerecht.
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bb) Das Gericht schließt sich damit ausdrücklich nicht dem Urteil hinsichtlich TOP 4 a) und b) (Entlastung Hausverwaltung und Beirat) des Amtsgerichts München vom 15.12.2021, 1295 C 8298/21 WEG, an. Das Urteil ist lediglich zu diesen beiden Beschlüssen ergangen. Eine entgegenstehende Rechtskraft besteht daher nicht. Die dort vertretene Rechtsauffassung ist nach der (Weiter-) Entwicklung der Rechtsprechung zu den pandemiebedingten „Ein-Mann-Versammlungen“ nicht zutreffend (vgl. 3. a) aa)).
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cc) Andere Nichtigkeitsgründe des damaligen Beschlusses sind weder vorgetragen noch ersichtlich (vgl. auch ergänzend 3 c). zu TOP 7 „neu“).
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b) Zur Anfechtung des TOP 7 der streitgegenständlichen Eigentümerversammlung fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis.
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TOP 7 der streitgegenständlichen Eigentümerversammlung bestätigt lediglich den bestandskräftigen Beschluss vom 07.04.2021 und geht inhaltlich in keiner Weise über diesen hinaus. Selbst bei wirksamer Anfechtung des vorliegenden Beschlusses verbleibt es damit bei der bereits getroffenen Entscheidung. Die Kläger haben damit diesbezüglich kein Rechtsschutzbedürfnis. Die Errichtung der Montagewand und der Abschluss des Gestattungsvertrags mit dem Stromversorger konnte bereits auf Basis des Beschlusses vom 07.04.2021 erfolgen.
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c) Über die weiteren vorgebrachten Anfechtungsgründe hinsichtlich des angefochtenen TOP 7 war daher mangels Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr zu entscheiden.
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Unabhängig davon geht das Gericht davon aus, dass der angefochtene Beschluss zu TOP 7 in der Zusammenschau mit dem Beschluss vom 07.04.2021, auf den im Protokoll ausdrücklich Bezug genommen wird, auch nicht unbestimmt ist. Die entsprechenden Unterlagen B 1 bis B 4 wurden unstreitig damals mit der Einladung versandt.
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Nachdem mit dem Vertragsschluss außer den Kosten für die Montagewand mit im Ergebnis 2.100,00 € keine Kosten für die WEG verbunden waren, waren im Ergebnis wohl auch keine Vergleichsangebote erforderlich. Ob dies auf Grund der weitergehenden Bedeutung des Vertrags und der langfristigen Bindung möglicherweise anders zu entscheiden wäre, kann offenbleiben. Jedenfalls würde das den „alten“ Beschluss nicht nichtig machen.
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Auch eine Finanzierung über die Erhaltungsrücklage führt nach Auffassung des Gerichts nicht zur Anfechtbarkeit des Beschlusses. Die Erhaltungsrücklage kann durch Beschluss auch (ggf. konkludent) teilweise umgewidmet werden, wenn der gleiche Verteilerschlüssel angesetzt wird und genug Rücklage übrig bleibt, was nach unstreitigem Beklagtenvortrag der Fall ist. Hinsichtlich des Verteilerschlüssels gilt vorliegend nach Auffassung des Gerichts nicht § 21 Abs. 1 WEG, nachdem die Maßnahme nicht auf Antrag eines oder mehrerer Eigentümer beschlossen wurde, sondern § 21 Abs. 2 WEG. Nach der Wertung des Gebäude-Elektromobilitätsinfrastrukturgesetzes, das hier zur Auslegung herangezogen werden kann, ist die Errichtung einer Ladevorrichtung ohnehin als Erhaltungsmaßnahme einzustufen (vgl. Hügel/Elzer, § 20 WEG RN 88).
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Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit nach §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Die Berechnung des Streitwerts erfolgt in Beschlussklagen nach § 44 Abs. 1 WEG nach der in § 49 GKG getroffenen Regelung.
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Danach wird der Streitwert auf das Interesse aller Wohnungseigentümer an der Entscheidung festgesetzt. Er darf den siebeneinhalbfachen Wert des Interesses des Klägers und der auf seiner Seite Beigetretenen sowie den Verkehrswert ihres Wohnungseigentums nicht überschreiten.
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Das Gericht schätzt das Gesamtinteresse hinsichtlich des Klageantrags 1 auf 5.000,00 €. Der Streitwert für die Anfechtung des Beschlusses über die Entlastung der Verwaltung (Klageantrag 2) wird – nachdem keine Anhaltspunkte für einen höheren Wert vorliegen, mit 1.000,00 € festgesetzt (vgl. BGH, NJW-RR 2011, 1026).