Titel:
Notwendige Feststellungen in den Urteilsgründen zur Beurteilung der Strafbarkeit durch das Revisionsgericht
Normenkette:
StPO § 261, § 267 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen, also das Tatgeschehen, mitteilen, in dem die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Dies muss in einer geschlossenen Darstellung aller äußeren und jeweils im Zusammenhang damit auch der dazugehörigen inneren Tatsachen in so vollständiger Weise geschehen, dass in den konkret angeführten Tatsachen der gesetzliche Tatbestand erkannt werden kann. Führt das Tatgericht demgegenüber nur aus, dass zahlreiche Aktenbestandteile in Augenschein genommen und verlesen sowie ein Zeuge vernommen wurden, ohne deren Inhalt näher anzugeben, kann das Revisionsgericht nicht beurteilen, ob und wie sich der Angeklagte strafbar gemacht hat. (Rn. 6 – 7) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Darstellungsmangel, notwendige Feststellungen, Merkmale der Straftat, Beurteilung der Strafbarkeit
Vorinstanz:
AG Nördlingen, Urteil vom 06.04.2023 – 2 Cs 512 Js 120070/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31394
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Nördlingen vom 6. April 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Nördlingen zurückverwiesen.
Gründe
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Das Amtsgericht Nördlingen hat den Angeklagten am 6. April 2022 wegen Anstiftung zum Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse und zum Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz zu einer Gesamtgeldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 70 € verurteilt Nach den dort getroffenen Feststellungen (UA S. 3/4) habe sich der Angeklagte am 30. April und 17. Juni 2021 in der Praxis des anderweitig Verfolgten Dr. A. eingefunden, wo ihm dieser jeweils auf seine Veranlassung die Durchführung der Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff von Biontech (COMIRNATY) bestätigte, ohne die Impfung tatsächlich durchzuführen. Dieser inhaltlich unrichtige Impfausweis sollte dazu dienen, ein digitales Impfzertifikat zu erlangen und dieses oder den Impfausweis bei Bedarf im Rechtsverkehr zum Nachweis einer Impfung vorzulegen.
2
In der Beweiswürdigung führt das Gericht aus, dass zahlreiche Aktenbestandteile in Augenschein genommen und verlesen wurden, ohne deren Inhalt näher anzugeben (UA S. 4). Der Angeklagte hat die Tat bestritten und vorgebracht, er habe die Impfung tatsächlich erhalten. Das Gericht stützt seine Verurteilung lediglich auf die Aussage des Zeugen KHK B. (UA S. 4/5), erneut ohne deren näheren Inhalt wiederzugeben. Die weiteren Ausführungen (UA S. 5/6) nehmen offenbar Bezug auf die verlesenen Aktenbestandteile, deren genauer Inhalt sich jedoch nicht erschließt.
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Gegen die Verurteilung hat der Angeklagte (Sprung-)Revision eingelegt und mit der Verfahrensrüge im Wesentlichen die mangelhafte Beweiswürdigung des Amtsgerichtes beanstandet. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Antrag vom 18. September 2023 ebenfalls die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung an das Amtsgericht beantragt, weil das Urteil bezüglich der Haupttat jegliche Ausführungen vermissen ließe, die geeignet wären, diese als bewiesen festzustellen.
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1. Das zulässige Rechtsmittel hat einen mindestens vorläufigen Erfolg, weil die getroffenen Feststellungen eine Verurteilung des Angeklagten der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft folgend nicht tragen (§ 349 Abs. 4 StPO).
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Das Urteil leidet an durchgreifenden Darstellungsmängeln, weil die Feststellungen des Amtsgerichts lückenhaft und unklar sind und damit dem Senat bereits nicht die revisionsgerichtliche Überprüfung ermöglichen, ob der Angeklagte – wie vom Amtsgericht angenommen – den Tatbestand der Anstiftung zum Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 a. F. StGB (im Urteil ist nur § 276 StGB genannt) und zum Verstoß gegen § 74 Abs. IfSG erfüllt hat.
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aa) Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen, also das Tatgeschehen, mitteilen, in dem die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Dies muss in einer geschlossenen Darstellung aller äußeren und jeweils im Zusammenhang damit auch der dazugehörigen inneren Tatsachen in so vollständiger Weise geschehen, dass in den konkret angeführten Tatsachen der gesetzliche Tatbestand erkannt werden kann; denn nur dann kann das Revisionsgericht auf die Sachrüge prüfen, ob bei der rechtlichen Würdigung eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, vgl. zuletzt etwa BGH, Beschluss vom 08.03.2022, 1 StR 483/21, zitiert nach juris, dort Rdn. 6).
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bb) Die Urteilsfeststellungen des Amtsgerichts belegen weder nachvollziehbar, ob und weshalb es (entgegen der Einlassung des Angeklagten) von der Begehung der Haupttat ausgeht, noch, warum das Verhalten des Angeklagten als Anstiftung (in Abgrenzung zur Beihilfe) zu qualifizieren ist. Hierbei kann der Senat lediglich auf die Urteilsgründe zurückgreifen, der Rückgriff auf die Akten ist ihm verschlossen. Ohne nähere Kenntnisse von den offensichtlich verlesenen Chatverläufen und den Einlassungen des anderweitig Verfolgten Dr. A. aus anderen Verfahren kann nicht beurteilt werden, ob und ggf. wie sich der Angeklagte strafbar gemacht hat.
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2. Das Urteil ist daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen nach §§ 349 Abs. 4, 353 Abs. 2 StPO aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Nördlingen zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen.
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Das nunmehr mit der Sache befasste Gericht wird auch Gelegenheit haben, sich genauer als bisher geschehen mit der rechtlichen Einordnung des dann festgestellten Sachverhaltes zu befassen. Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Urkundenfälschung wird nach den bisherigen Feststellungen nicht in Betracht kommen (vgl. dazu Beschluss des Senates vom 31.05.2023, 207 StRR 294/22, BeckRS 2023, 13344). Je nach festgestellter Tatsachengrundlage wird eine Verurteilung wegen Anstiftung oder Beihilfe zu den Straftaten des anderweitigen Verfolgten Dr. A. nach § 278 a. F. StGB und § 74 Abs. 2 IfSG zu prüfen und bejahendenfalls die zwingende Strafmilderung nach §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu beachten sein (vgl. zu diesen Fragen eingehend Beschluss des BayObLG vom 09.08.2023, 206 StRR 190/23, zitiert nach juris). Sollte der Tatrichter erneut die Einziehung des Mobiltelefones des Angeklagten erwägen, weil es Tatmittel der konkreten Straftat war, werden konkrete Feststellungen zu dessen Wert zu treffen sein, um die Frage der Verhältnismäßigkeit nach § 74f Abs. 1 S. 1 StGB beurteilen und diesen bejahendenfalls auch bei der Strafzumessung berücksichtigen zu können (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 74 Rdn. 22).