Titel:
Notwendige Verteidigung aus Gründen der „Waffengleichheit“ bei verteidigten Mitangeklagten
Normenkette:
StPO § 140 Abs. 2
Leitsätze:
1. Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit iSd § 140 Abs. 2 StPO kann vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Besteht die Möglichkeit, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen und ist in einem solchen Fall widerstreitender Interessen ein Angeklagter nicht verteidigt, ist dieser gegenüber dem verteidigten Angeklagten im Nachteil. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
notwendige Verteidigung, Pflichtverteidiger, verteidigte Mitangeklagte, Waffengleichheit, widerstreitende Interessen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31355
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten K. wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 15.09.2023 (Az.: 64 Ds 604 Js 63691/22) aufgehoben.
2. Dem Angeklagter K. wird Rechtsanwalt T1. L., als notwendiger Verteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrers einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
Gründe
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Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 27.04.2023 wird dem Beschwerdeführer sowie den Mitangeklagten Ko. und E. G. zur Last gelegt, am 08.08.2023 gegen 21:38 Uhr gemeinschaftlich handelnd eine gefährliche Körperverletzung sowie einen Diebstahl begangen zu haben. Die Angeklagten haben sich, außer dem Angeklagten K., zur Sache bisher nicht eingelassen.
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Der Angeklagte E. G. befindet sich in anderer Sache in Untersuchungshaft.
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Durch Schriftsatz vom 29.08.2023 beantragte Rechtsanwalt L. seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
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Der Antrag auf Beiordnung wurde im Wesentlichen damit begründet, alle Angeklagten seien wegen einer gemeinschaftlich begangenen Tat angeklagt. Da mindestens ein Mitangeklagter verteidigt werde, seien die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung aus Gründen der gebotenen „Waffengleichheit“ gegeben.
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Der Antrag wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 15.09.2023, dem Rechtsanwalt des Angeklagten K. am 18.09.2023 zugegangen, abgelehnt. Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte K. durch anwaltlichen Schriftsatz vom 24.09.2023 Beschwerde ein. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab.
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Die Staatsanwaltschaft legte die Beschwerde mit Verfügung vom 26.09.2023 der Kammer zur Entscheidung vor.
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Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
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Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegen vor. Danach ist in anderen als den in § 140 Abs. 1 StPO genannten Fällen ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
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Vorliegend sind zwar die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht gegeben. Auch die Schwere der Tat oder eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage lässt die Mitwirkung eines Verteidigers nicht als geboten erscheinen. Der Beschwerdeführer ist jedoch in seiner Verteidigungsfähigkeit in einem Maße eingeschränkt, das die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO gebietet.
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Eine derartige Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Angeklagten wegen derselben Tat angeklagt sind und sich bisher dem Gericht gegenüber nicht zur Tat geäußert haben. Der Angeklagte K. leugnet die Tat weitgehend. Insofern wird in der Hauptverhandlung auch die Frage der jeweiligen Tatbeteiligung der Angeklagten zu klären sein. Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen. Ist in einem solchen Fall widerstreitender Interessen ein Angeklagter nicht verteidigt, ist dieser gegenüber dem verteidigten Angeklagten im Nachteil (LG Kiel, Beschluss vom 10.10.2008 – 32 Qs 146/08; Kammer, Beschluss vom 8.02.2011 – jug 1 Qs 5/11, LG Itzehoe, Beschluss vom 12.01.2012 – 1 Qs 3/12). Dies gilt unabhängig davon, dass die Pflichtverteidigerbestellung des Angeklagten E. G. wegen seiner Inhaftierung in anderer Sache erfolgte.
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Auch seine Rechte in der Hauptverhandlung könnte der verteidigte Mitangeklagte durch die Unterstützung seines Verteidigers ungleich besser wahrnehmen als der unverteidigte Beschwerdeführer (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 28.11.2001 – 1 Ss 46/01; AG Saalfeld, Beschluss vom 29.01.2002 – 2 Ds jug. 611 Js 42389/00).
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Auch § 141 Abs. 1 StPO ändert an der gebotenen Beiordnung nichts. Nach dieser Vorschrift wird ein Pflichtverteidiger einem Angeklagten beigeordnet, der noch keinen Verteidiger hat. Gleichwohl kann auch ein Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beigeordnet werden, wenn er das Mandat niedergelegt hat. Ein Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger durch einen Wahlverteidiger ist vor diesem Hintergrund regelmäßig so auszulegen, dass die Wahlverteidigung mit der Beiordnung enden solle (Meyer-Goßner, 53. Aufl., 2010, § 142, Rn. 7 m.w.N.). Diese Voraussetzungen einer Beiordnung des Wahlverteidigers sind vorliegend gegeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.