Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 18.10.2023 – W 4 S 23.30567
Titel:

Erfolgreicher Asyleilantrag einer alleinerziehenden Mutter gegen Abschiebungsandrohung nach Italien

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35, § 36 Abs. 4 S. 1, § 71
GrCh Art. 4
EMRK Art. 3
EU-Aufnahme-RL Art. 21
Leitsatz:
Arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen, denen in Italien bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, können zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt auch weiterhin nach Italien rücküberstellt werden. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweiliger Rechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung in sog. Drittstaatenbescheid, beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung für alleinerziehende Mutter mit 3 minderjährigen Kindern aufgrund drohender Obdachlosigkeit in Italien, Eilverfahren, Asylrecht, Somalia, Flüchtlingsschutz in Italien, Abschiebungsandrohung, alleinerziehende Mutter, Obdachlosigkeit, real risk, vulnerable Person
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31297

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 4. Oktober 2023 (W 4 K 23.30566) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 19. September 2023 (Gz.: ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
1. Die Antragsteller, eine Mutter und ihre drei Kinder im Alter von 16, 12 und 8 Jahren, allesamt somalische Staatsangehörige, reisten am 5. Februar 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am 8. März 2023 Asylanträge.
2
Da dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass Italien für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig sein könnte, richtete es am 5. April 2023 ein entsprechendes Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden. Diese teilten mit Schreiben vom 13. April 2023 mit, dass eine Rücküberstellung nach der Dublin-Verordnung vorliegend nicht in Betracht komme, da den Antragstellern bereits in Italien internationaler Schutz in Form von Flüchtlingsschutz zuerkannt und ihnen eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis, gültig bis 6. September 2024, erteilt worden sei.
3
Die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) fand am 11. Juli 2023 statt. Auf die dabei gemachten Angaben der Antragstellerin zu 1) wird Bezug genommen.
4
Mit Bescheid vom 19. September 2023 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab (Ziffer 1). In Ziffer 2 des Bescheides stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. In Ziffer 3 wurden die Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Sollten die Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werden sie nach Italien abgeschoben. Die Antragsteller können auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Die Antragsteller dürfen nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3, Satz 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist werden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgereichten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zu Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Ziffer 3, Satz 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wird auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
5
Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid des Bundesamts verwiesen. Der Bescheid wurde den Antragstellern ausweislich der in der Behördenakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 27. September 2023 zugestellt.
6
2. Mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließen die Antragsteller Klage (W 4 K 23.30566) gegen den vorgenannten Bescheid des Bundesamts erheben und beantragen im vorliegenden Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
7
Begründet wurde der Antrag im Wesentlichen damit, dass es sich bei den Antragstellern, einer alleinerziehenden Mutter und ihren drei minderjährigen Kindern, um vulnerable Personen handle, denen in Italien aufgrund der dortigen Verhältnisse eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe. Als alleinerziehende Mutter sei es der Antragstellerin in Italien nicht möglich, eigenständig den Lebensunterhalt für sich und ihre drei minderjährigen Kinder zu erwirtschaften. Das Bundesamt hätte im Falle der Antragsteller zumindest eine individuelle Zusicherung einholen müssen, dass eine Unterbringung der Antragsteller unmittelbar nach einer etwaigen Überstellung nach Italien sichergestellt sei. Dies umso mehr, als Italien aufgrund des derzeitigen Flüchtlingszustroms überfordert sei und daher davon auszugehen sei, dass die Antragsteller bei einer Rückkehr nach Italien obdachlos würden.
8
3. Die Antragsgegnerin hat sich bislang nicht geäußert.
9
4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren W 4 K 23.30566 sowie auf die beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
II.
10
1. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage bezogen auf die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes vom 19. September 2023 anzuordnen, ist zulässig. Insbesondere ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, weil die Abschiebungsandrohung nicht unter § 38 Abs. 1 AsylG, sondern unter §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG fällt, und die in der Hauptsache erhobene Klage damit nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hat. Auch die einwöchige Antragsfrist gem. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG wurde eingehalten.
11
2. Der Antrag ist auch begründet.
12
Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsandrohung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt.
13
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im vorliegenden Fall aber nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Entscheidung des Bundesamtes einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris). Anknüpfungspunkt zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs durch das Gericht muss daher vorliegend die Prüfung sein, ob das Bundesamt den Antrag zu Recht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt hat.
14
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben überwiegt hier das Aussetzungsinteresse der Antragsteller. Denn nach der im vorliegenden Verfahren ausreichenden, aber auch gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angedrohten Abschiebung der Antragsteller nach Italien (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
15
Denn unter Berücksichtigung aktueller Lageberichte zu Italien sowie der hierzu ergangenen jüngeren (ober-)gerichtlichen Rechtsprechung hätte das Bundesamt im Falle der Antragsteller, einer alleinerziehenden Mutter mit drei minderjährigen Kindern, die Asylanträge nicht als unzulässig ablehnen dürfen, so dass auch ganz Überwiegendes dafürspricht, dass die Abschiebungsandrohung verfrüht ergangen ist.
16
2.1. Ein Fall von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist vorliegend zwar gegeben. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen vor. Insoweit nimmt das Gericht Bezug auf das entsprechende Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 13. April 2023 (Blatt 82 der elektronischen Behördenakten), das insoweit auch ausdrücklich ausführt, dass der Antragstellerin und ihren drei Kindern in Italien bereits internationaler Schutz gewährt wurde („they were granted a residence permit for „refugee status““).
17
2.2. Der Ablehnung der Asylanträge als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht allerdings aller Voraussicht nach Art. 4 der Grundrechtscharta (GrCh) i.V.m. Art. 3 EMRK entgegen (vgl. hierzu EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a. – juris). Denn den Antragstellern droht als vulnerable Personen (vgl. hierzu Art. 21 RL 2013/33/EU) die ernsthafte Gefahr, eine gegen Art. 4 GrCh verstoßende, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Italien zu erfahren.
18
2.2.1. Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK verstößt, ist allerdings ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta (GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu etwa EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. juris Rn. 83 f.).
19
Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.
20
Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GrCh) erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn.89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127 ff.).
21
Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie genügen hierfür – wie bereits erwähnt – nicht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 92). Auch der Umstand, dass der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 93).
22
Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bzw. anerkannte Schutzberechtigte im zuständigen Mitgliedstaat derartige Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Personen im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK zur Folge haben, ist eine Überstellung mit diesen Bestimmungen unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 87; BVerwG, B.v. 19.3.2014 -10 B 6.14 – juris Rn. 6).
23
Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N. stRspr).
24
2.2.2. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sowie aktueller Erkenntnismittel geht der Einzelrichter zwar weiterhin davon aus, dass arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen, denen in Italien bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, auch weiterhin nach Italien rücküberstellt werden können. Sichtet man die diesbezügliche jüngere Rechtsprechung, so wird auch dort weiterhin ganz überwiegend zwischen vulnerablen und nicht vulnerablen Personen unterschieden (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris Rn. 20, 23; U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 18; OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 59; VG Würzburg, U.v. 19.6.2023 – W 4 K 22.30521; U.v. 29.9.2023 – W 4 K 22.30114 – juris).
25
Gerade die neueste obergerichtliche Rechtsprechung geht allerdings davon aus, dass es jedenfalls unmittelbar nach der Überstellung von Anerkannten in Italien jedenfalls vorübergehend immer wieder zu Obdachlosigkeit kommt (vgl. hierzu jüngst etwa BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 28 ff.; B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris Rn. 30; OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 50 ff.). Dementsprechend verlangt etwa der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, dass wegen der besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern die EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GrCh vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen wird, damit garantiert werden kann, dass der besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist (VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 41). Eine derartige Versorgungszusicherung liegt im Falle der Antragsteller allerdings bislang nicht vor.
26
Erkenntnismittel, die eine Abweichung von dieser rechtlichen Einschätzung zuließen, sind derzeit nicht ersichtlich, zumal sich die Antragstellerin zu 1) bereits seit Ende 2016 in Italien aufgehalten und bereits im September 2019 internationalen Schutz zuerkannt bekommen hat, so dass nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen ist, dass die Antragsteller nach einer Rückkehr nach Italien zunächst in einer SAI-Einrichtungen unterkommen könnten. Dies gilt auch deswegen, weil ein Platz in einer solchen Einrichtung jedenfalls entzogen wird, wenn man sich von dort längere Zeit unentschuldigt entfernt (aida, Country Report: Italy, 31.12.2022, S. 237).
27
Im Anschluss an eine Unterbringung in einer SAI-Unterkunft haben Anerkannte in Italien allerdings weiterhin große Probleme eine Unterkunft zu finden (aida, Country Report: Italy, 31.12.2022, S. 237). Dies gilt gerade auch für Sozialwohnungen, deren Anteil am gesamten italienischen Wohnungsmarkt mit fünf bis sechs Prozent ohnehin sehr gering ist (aida, Country Report: Italy, 31.12.2022, S. 239). Wartezeiten von mehreren Jahren sind insoweit die Regel (BFA, LIS Italien, 1.7.2022, S.20). Zudem ist der Zugang zu Sozialwohnungen oft von Voraussetzungen abhängig, die Anerkannte schwer oder gar nicht erfüllen können, wie etwa eine bestimmte ununterbrochene Mindestmeldezeit in der jeweiligen Region, auch wenn solche Praktiken an sich vom italienischen Verfassungsgericht bereits 2021 für unzulässig erklärt wurden (BFA, LIS Italien, 27.7.2023, S. 15; aida, Country Report: Italy, 31.12.2022, S. 239 f.). Unabhängig davon steht Anerkannten in Italien natürlich auch der freie Wohnungsmarkt zur Verfügung. Vermieter verlangen allerdings oft einen Arbeitsvertrag und eine gültige Aufenthaltserlaubnis. Mieten sind im Allgemeinen sehr hoch, vor allem in den größeren Städten (Raphaelswerk, Juni 2020, Italien: Information für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, S. 14). Die Kapazitäten auf dem freien Wohnungsmarkt sind zudem beschränkt, weil wegen der hohen Eigentumsquote nur etwa zehn Prozent aller Immobilien überhaupt frei vermietet werden (UNHCR, 2/2021, The refugee house, S. 7).
28
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Gegebenheiten in Italien sowie der persönlichen Umstände der Antragsteller, einer alleinerziehenden Mutter mit ihren drei minderjährigen Kindern, geht das Gericht daher davon aus, dass den Antragstellern im Falle ihrer Rückkehr nach Italien als vulnerable Personengruppe (vgl. Art. 21 RL 2013/33/EU) eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Denn es ist derzeit nicht sichergestellt, dass bei einer Rückkehr der Antragsteller nach Italien verfügbarer und erreichbarer Wohnraum bestünde, der eine Obdachlosigkeit der Antragsteller, die jedenfalls bei jüngeren Kindern auch nicht vorübergehend hinnehmbar ist (vgl. Art. 24 Abs. 2 GrCh), verhindern würde.
29
Damit bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und in der Folge auch an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 19. September 2023.
30
Dem Antrag war daher stattzugeben.
31
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden im vorliegenden Verfahren nicht erhoben (§ 83b AsylG).