Titel:
Erfolgreiche Nachbarklage gegen Betriebsleiterwohnung für Skiliftstation
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1
BauGB § 35 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, Abs. 4 S. 1 Nr. 6
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Leitsätze:
1. Einen grundsätzlichen Anspruch auf Bewahrung des Außenbereichs gibt es nicht, auch keinen Anspruch auf Bewahrung der Außenbereichsqualität eines Betriebsgrundstücks. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Inhalt, Reichweite und Umfang der mit der Baugenehmigung getroffenen Regelungen und Feststellungen müssen so eindeutig bestimmt sein, dass der Bauherr die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen und drittbetroffene Nachbarn das Maß der für sie aus der Baugenehmigung erwachsenden Betroffenheit zweifelsfrei feststellen können. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Grundsätzlich ist ein Bauvorhaben in der Gestalt zu beurteilen, in der es der Bauherr mittels seines Bauantrages und den beigefügten Bauvorlagen zur Prüfung gestellt hat. Eine andere Beurteilung ist jedoch dann gerechtfertigt, wenn bereits den Bauvorlagen oder den sonstigen Umständen zu entnehmen ist, dass die zur Genehmigung gestellte Nutzung entweder objektiv gar nicht möglich ist oder vom Bauherrn tatsächlich nicht angestrebt wird. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Drittanfechtungsklage gegen Baugenehmigung zum Anbau einer Betriebsleiterwohnung, Bestimmtheitsgrundsatz, Etikettenschwindel, Außenbereich, Gebietserhaltungsanspruch, Gebot der Rücksichtnahme, Wochenendhaus
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31296
Tenor
I. Die Baugenehmigung vom 8. November 2022 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung und Hinterlegung in Höhe von festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich mit der vorliegenden Klage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Anbau an einer Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung).
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. …7 der Gemarkung H. ..., welches unmittelbar in nördlicher Richtung an das Vorhabensgrundstück des Beigeladenen Fl.Nr. …9 der Gemarkung ... angrenzt.
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Die vorgenannten Grundstücke liegen im Außenbereich.
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Mit Datum vom 6. Mai 2022 hat der Beigeladene eine Baugenehmigung für einen Anbau an die bestehende Skiliftstation auf dem Grundstück Fl.Nr. …9, … …, Gemarkung H. …, beantragt. Im Kellergeschoss ist ein Abstellraum dargestellt; im Erd- und Obergeschoss soll eine Betriebsleiterwohnung errichtet werden.
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Mit Baugenehmigung vom 8. November 2022 wurde der geplante Anbau an die Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung) vom Landratsamt R. genehmigt und mit diversen Bedingungen und Auflagen versehen.
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Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2022 hat der Kläger gegen die vorgenannte Baugenehmigung vom 8. November 2022 Klage erhoben und sinngemäß beantragt,
den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts R. vom 8.November 2022 für den Anbau an einer Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung) aufzuheben.
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Zur Begründung wurde erklärt, dass die Klage erhoben werde wegen der zu erwarteten Belastungen, die nach dem Bau auf dem darunterliegenden Grundstück Fl.Nr. …7 der Gemarkung H. ... eintreten würden. Insbesondere bestehe die Gefahr eines möglichen Zwangswegerechts. Zudem komme es zu einer erhöhten Glatteisbildung auch auf dem tieferliegenden Grundstück. Es werde mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass eine private Ferienwohnung vom Landratsamt für genehmigungsfähig gehalten werde.
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Der Beklagte beantragte mit Schreiben des Landratsamtes R. vom 12. Dezember 2022,
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Die Klage sei zwar zulässig aber nicht begründet, denn der Kläger sei nicht in subjektiven Rechten betroffen. Bezüglich Zufahrt und Niederschlagsentwässerung sei er auf den Privatrechtsweg zu verweisen. Das Vorhaben falle unter § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 6 BauGB. Die Erschließung sei gesichert, die Abstandsflächen seien eingehalten. Es werde auf das Hüttenkonzept/ den Grundsatzbeschluss der Stadt B. ... verwiesen. Dort sei festgelegt, dass bestehende, gewerblich im Bereich Tourismus genutzte Hütten am Kreuzberg grundsätzlich erweitert werden dürften. Auf dieser Grundlage seien durch den Beklagten am Kreuzberg bereits andere bauliche Maßnahmen genehmigt worden. In die Entscheidung seien auch touristische Belange mit eingeflossen.
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Mit Beschluss vom 12. Dezember 2022 wurde der Bauherr zum Verfahren beigeladen.
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Mit weiterem Beschluss vom 21. März 2023 hat das Gericht Beweis erhobendurch die Einnahme eines Augenscheins über die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Vorhabensgrundstücks, welcher am 25. Juli 2023 durchgeführt wurde. Diesbezüglich wird auf die Niederschrift über den Augenschein und die dabei gefertigten Lichtbilder Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Behördenakten sowie auf das Protokoll über den Augenschein Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die vorliegend ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, weil die Beteiligten hierauf im Rahmen des durchgeführten Augenscheintermins verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), bleibt ohne Erfolg.
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1. Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren ist der Bescheid des Landratsamts R. vom 8. November 2022. Mit diesem wurde dem Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Anbau an eine Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung) auf dem Grundstück mit der Fl.Nr. …9, … …, Gemarkung H. ..., erteilt. Der Kläger begehrt die Aufhebung dieses Bescheids.
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2. Die von ihm aus diesem Grund erhobene Anfechtungsklage ist zulässig und begründet, die vom Beklagten erteilte Baugenehmigung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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3. Ein Rechtsanspruch auf Aufhebung einer erteilten Baugenehmigung steht einem Nachbarn nicht schon dann zu, wenn eine Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr müssen durch den Rechtsverstoß zugleich nachbarschützende Rechte verletzt werden. Das ist dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist, mithin drittschützende Wirkung hat. Eine Baugenehmigung ist demnach im Rahmen einer Anfechtungsklage des Nachbarn nur daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen (vgl. BVerwG, U. v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 –, NVwZ-RR 1994, 686 m.w.N).
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4. Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Ausführungen verstößt die vom Beklagten erteilte Baugenehmigung für den Anbau an eine Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung) vom 8. November 2022 gegen von der Bauaufsichtsbehörde zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften, die auch dem Schutz des Klägers als Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Zwar liegt in bauplanungsrechtlicher Hinsicht kein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch vor, der Kläger kann sich aber auf einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und damit auch auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme berufen.
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5. Dem Kläger steht zunächst, entgegen seiner Auffassung, ein Abwehranspruch im Sinne eines Gebietserhaltungsanspruchs gegenüber dem streitgegenständlichen Vorhaben unter dem vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkt der fehlenden Gebietstypik des Bauvorhabens von vornherein nicht zu. Das streitgegenständliche Gebäude auf dem Grundstück des Beigeladenen soll im Außenbereich errichtet werden. Einen grundsätzlichen Anspruch auf Bewahrung des Außenbereichs gibt es nicht, auch keinen Anspruch auf Bewahrung der Außenbereichsqualität eines Betriebsgrundstücks (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 9 CS 11.529 – juris m.w.N.). Der auf die Erhaltung der Gebietsart gerichtete Nachbarschutz setzt Gebiete voraus, die „wie die Baugebiete der BauNVO“ durch eine einheitliche bauliche Nutzung gekennzeichnet sind. Daran fehlt es im Außenbereich. Der Außenbereich ist kein Baugebiet, sondern soll grundsätzlich von Bebauung freigehalten werden. Wegen der unterschiedlichen Privilegierungstatbestände des § 35 Abs. 1 BauGB fehlt dem Außenbereich ein bestimmter Gebietscharakter, dessen Erhaltung gerade das Ziel des Nachbarschutzes in den Baugebieten der BauNVO ist. Zum Schutz eines im Außenbereich geplanten Bauvorhabens ist deshalb das in § 35 BauGB enthaltene drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.1999 – 4 B 38/99 – juris).
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6. Eine Rechtsverletzung des Klägers folgt aber aus einem Verstoß gegen das in Art. 1 BayVwVfG in Verbindung mit Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG verankerte Bestimmtheitsgebot in seiner nachbarlichen Ausprägung. Denn die Baugenehmigung vom 8. November 2022 stellt nicht hinreichend sicher, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht gegen das drittschützende bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
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In Fällen von Nutzungskonflikten mit Nachbarn bedarf eine Baugenehmigung grundsätzlich der Konkretisierung, um dem Bestimmtheitsgrundsatz Genüge zu tun (vgl. OVG NW, U.v. 25.8.2011 – 2 A 38/10 – NVwZ-RR 2012,132). Inhalt, Reichweite und Umfang der mit der Baugenehmigung getroffenen Regelungen und Feststellungen müssen so eindeutig bestimmt sein, dass der Bauherr die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen und drittbetroffenen Nachbarn das Maß der für sie aus der Baugenehmigung erwachsenden Betroffenheit zweifelsfrei feststellen können (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2006 – 15 ZB 04.2453 – juris). Eine dem Bestimmtheitsgebot genügende Aussage muss aus der Baugenehmigung selbst, gegebenfalls durch Auslegung, ersichtlich sein, wobei die mit Zugehörigkeitsvermerk versehenden Bauvorlagen bei der Ermittlung des objektiven Erklärungsinhalts der Baugenehmigung herangezogen werden können (vgl. OVG NW, U.v. 25.8. 2011 – 2 A 38/10 – juris). Wenn aber die Baugenehmigung und die genehmigten Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Baumaßnahmen so unbestimmt sind, dass bei der Ausführung des Bauvorhabens einer Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist, so ist eine Baugenehmigung als nachbarrechtswidrig aufzuheben (vgl. OVG RhPf, U.v. 2.5.2013 – 1 A1 1021/12 OVG – juris). Verbleiben Abgrenzungsunschärfen im Hinblick auf die Reichweite und die Art der zugelassenen Nutzung, ist im Zweifel ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben (vgl. BayVGH, B.v. 28.10. 2015 – 9 CS 15.1633 – juris).
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Das gilt namentlich auch unter dem Blickwinkel des sogenannten Etikettenschwindels. Bei diesem ist das zur Genehmigung gestellte bzw. das schon genehmigte Bauvorhaben nur vorgeschoben, um der eigentlich beabsichtigten – unzulässigen – Nutzung einen genehmigungsfähigen Anschein zu verleihen (vgl. OVG NW, U.v. 25.7.2011 – 2 A 38/10; OVG SH, B.v. 24.7. 2008 – 1 MB 11/08 – jeweils juris). Zwar richtet sich die Frage der Nachbarrechtswidrigkeit eines genehmigten Bauvorhabens in aller Regel allein nach der Baugenehmigung und den zugehörigen Bauvorlagen. Eine Abweichung von der genehmigten Nutzung würde im Falle ihres Vorliegens die streitgegenständliche Baugenehmigung als solche grundsätzlich unberührt lassen und lediglich ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen die dann ungenehmigte tatsächliche Nutzung rechtfertigen (vgl. OVG RhPf, B.v. 15.12.2014 – 1 A 10503/14.OVG – juris). Das gilt auch für den Fall, dass Umstände, die in den Genehmigungsvorgängen keinen Niederschlag gefunden haben, die Vermutung nahelegen, die betreffende bauliche Anlage solle tatsächlich anders als genehmigt genutzt werden.
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Anderes gilt aber, wenn bereits den Bauvorlagen, aber auch der Baugenehmigung zu entnehmen ist, dass die genehmigte Nutzung in Wahrheit gar nicht beabsichtigt ist, sondern lediglich deklariert wird, um das Vorhaben genehmigungsfähig erscheinen zu lassen (OVG NW, U.v. 25.8.2011 – 2 A 38/10; OVG RhPf, B.v. 15.12.2014 – 1 A 10503/14.OVG – jeweils juris). Dabei sind auch die tatsächlichen Verhältnisse, die zur Stellung des Bauantrages geführt haben, sowie dessen Vorgeschichte zur berücksichtigen, um gegebenfalls zu ermitteln, ob das wirklich Gewollte dem Beantragten auch entspricht. Weder eine Bauaufsichtsbehörde noch das Gericht müssen sich auf die Papierform eines Bauantrags verweisen lassen, wenn das Verhalten des Bauantragsstellers und konkret ermittelte Umstände, die für dessen wahren Bau- und Nutzungsabsichten aussagekräftig sind, erkennbar über den Inhalt des Antrages hinausweist. In solch einem Fall ist ein „Durchgriff auf das wirklich Gewollte“ anerkannt, weil die Bauaufsichtsbehörde sich dann nicht zu Lasten betroffener Nachbarn auf den formalen Standpunkt stellen darf, sie habe lediglich eine nach dem Gesetz zulässige Nutzung antragsgemäß genehmigt (vgl. OVG SH, B.v. 24.7.2008 – 1MB 11/08; OVG Nds, U.v. 18.12.1993 – 1 L 355/91 – jeweils juris).
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7. Ausgehend von diesen Grundsätzen wird die streitige Baugenehmigung vom 8. November 2022 den an sie zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen offensichtlich nicht gerecht, was zu einem eigenständigen Abwehrrecht des Klägers führt. Die Baugenehmigung weist eklatante Widersprüche auf und lässt unter Berücksichtigung der eben dargelegten Rechtsprechung zum sogenannten Etikettenschwindel Merkmale des Vorhabens des Beigeladenen unreglementiert, deren Regelungen es nach Lage der Dinge zwingend bedurft hätte. Weder der angefochtenen Baugenehmigung noch den zugehörigen Bauvorlagen lassen sich die maßgeblichen nachbarrechtsrelevanten betrieblichen Rahmenbedingungen umfassend, zuverlässig und in der gebotenen Eindeutigkeit entnehmen.
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8. Die Unbestimmtheit der streitgegenständigen Baugenehmigung ergibt sich schon aus dem Umstand, dass weder der streitgegenständige Baugenehmigungsbescheid noch der Vorbescheid vom 23. Februar 2022 erkennen lassen, von welcher bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit der Beklagte überhaupt ausgegangen ist. Das wäre aber erforderlich gewesen, damit der Nachbar weiß, welche Abwehransprüche ihm überhaupt zustehen. Erstmals weist der Beklagte in seinem Schriftsatz an das Verwaltungsgericht vom 22. Dezember 2022 auf die Vorschrift des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 6 BauGB hin. Er geht somit offensichtlich, was durch seinen weiteren Schriftsatz vom 15. Februar 2023 auch bestätigt wird, davon aus, dass es sich bei dem Bauvorhaben des Beigeladenen um ein nicht privilegiertes Vorhaben im Sinne von § 35 Abs. 2 BauGB handelt.
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Diese Annahme ist allerdings nicht nachvollziehbar und widerspricht dem im Baugenehmigungsbescheid genannten Betreff „Anbau an eine Skiliftstation (Betriebsleiterwohnung)“.
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Es sollte auch dem Beklagten bekannt sein, dass ein Skilift, falls er der Allgemeinheit dient, wovon der Beklagte offensichtlich ausgeht, auf einen bestimmten Standort angewiesen ist und deshalb unter den Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB fällt (so schon OVG NW, U.v. 4.11.1976 – X A 1386/75 – BRS 30 Nr. 62).
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Wenn aber der Skilift selbst unter § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB fällt, ist grundsätzlich auch ein Wohngebäude bzw. wie der Beklagte es bezeichnet, eine Betriebsleiterwohnung von diesem Privilegierungstatbestand umfasst und darunter zu subsumieren. Mit anderen Worten: Der Beklagte kann nicht einerseits von einer Betriebsleiterwohnung ausgehen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie eine auf die betrieblichen Belange ausgerichtete dienende Funktion hat (so schon BVerwG, U.v. 27.1.1967 -- 4 C 41.65 – juris), anderseits aber von der Anwendbarkeit von § 35 Abs. 2 BauGB. Dies ist ein Widerspruch in sich, der, wie oben dargelegt, zu einer Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes und damit zur Nachtbarrechtswidrigkeit der Baugenehmigung führt.
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9. Die Nachbarrechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Baugenehmigung ergibt sich aber auch unter Berücksichtigung der oben genannten Rechtsprechung zum sogenannten Etikettenschwindel, die dem Beklagten offensichtlich nicht bekannt ist.
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Grundsätzlich ist ein Bauvorhaben in der Gestalt zu beurteilen, in der es der Beigeladene mittels seines Bauantrages und den beigefügten Bauvorlagen zur Prüfung gestellt hat. Eine andere Beurteilung ist jedoch, wie bereits ausgeführt, dann gerechtfertigt, wenn bereits den Bauvorlagen oder den sonstigen Umständen zu entnehmen ist, dass die zur Genehmigung gestellte Nutzung entweder objektiv gar nicht möglich ist oder vom Bauherrn tatsächlich nicht angestrebt wird.
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Legt man die oben dargestellten Grundsätze vorliegend zugrunde, gibt es zahlreiche tragfähige Anhaltspunkte, die dazu führen, dass von einem solchen „Etikettenschwindel“ auszugehen ist:
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Der Augenschein hat offenbart, dass die Skiliftanlage, an die die Betriebsleiterwohnung angebaut werden soll, zweifellos erheblich in die Jahre gekommen ist. Sie wird auch kaum betrieben. So erklärte der Beigeladene im Rahmen des Augenscheintermins, im letzten Winter 2022/2023 sei der Skilift lediglich für drei Wochen gelaufen, über die letzten zehn Jahre gerechnet sei davon auszugehen, dass der Skilift im Durschnitt vier Wochen pro Jahr laufe. Berücksichtigt man zudem, dass in der Rhön die Schneemenge aufgrund des Klimawandels in den kommenden Jahren weiter abnehmen wird (vgl. hierzu die Nachweise unter www.biospharenreservat-Rhön.de), ist die Errichtung einer Betriebsleiterwohnung in dieser Größe und mit den vom Beigeladenen geplanten Räumlichkeiten zur „Erhaltung des Bestandes im Sinne des Gesetzes“ (vgl. Auszug aus dem Sitzungsbuch des Stadtrates der Stadt B. ..., Sitzung am 12.7.2022) offensichtlich nicht nachvollziehbar und stellt einen „Etikettenschwindel“ im oben genannten Sinne dar. Das wirklich Gewollte entspricht nicht der beantragten und genehmigten Betriebsleiterwohnung, zumal der Beigeladene in seinem Schreiben vom 1. September 2022 an das Landratsamt R. selbst davon ausgeht, dass der Aufenthalt in der Betriebswohnung beschränkt sei, außerhalb der Skisaison auf allenfalls ein- bis zwei Tage pro Woche, in den Wintermonaten bei Liftbetrieb ein bis vier Wochen am Stück.
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Nach Überzeugung der Kammer ist deshalb unter Berücksichtigung dieser Anhaltspunkte die zur Genehmigung gestellte und später vom Beklagten auch genehmigte Betriebsleiterwohnung nur vorgeschoben, um der eigentlich beabsichtigten unzulässigen Nutzung evtl. als Wochenendhaus einen genehmigungsfähigen Anschein zu verleihen. Das Landratsamt R. hätte sich damit nicht zu Lasten des Klägers auf den formalen Standpunkt stellen dürfen, es habe lediglich eine nach dem Gesetz zulässige Nutzung antragsgemäß genehmigt. Da nachhaltig eine Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist, war die Baugenehmigung auch aus diesem Grund als nachbarrechtswidrig aufzuheben.
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10. Nicht nachvollziehbar ist schließlich der Hinweis des Beklagten auf das zweifelhafte Hüttenkonzept und den Grundsatzbeschluss der Stadt Bischofsheim in der Rhön, welches dem Gericht noch nicht einmal vorgelegt wurde. Der Beklagte kann nicht ernsthaft behaupten, dass er sich durch diesen Beschluss in seiner Entscheidung gebunden gefühlt habe und dass auch touristische Belange bei der Beurteilung eine Rolle gespielt hätten. Der Beklagte ist an Recht und Gesetz gebunden und kann einen Beschluss der Stadt B. ... nicht über diese ihm obliegende Verpflichtung stellen. Es wäre vielmehr seine Aufgabe gewesen, diesen Beschluss rechtsaufsichtlich zu überprüfen und gegebenenfalls zu beanstanden.
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11. Eine Rechtsverletzung des Klägers liegt nach all dem vor, da der Beklagte gegen das in Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG verankerte Bestimmtheitsgebot in seiner nachbarlichen Ausprägung verstoßen hat. Die Baugenehmigung vom 8. November 2022 stellt aufgrund der mangelnden Bestimmtheit nicht hinreichend sicher, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht gegen das drittschützende bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot verstößt.
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12. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, VwGO.
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Da sich der Beigeladene nicht durch die Stellung eines eigenen Sachantrages in das Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO begeben hat, entspricht es vorliegend der Billigkeit, dass dieser seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
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13. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.