Titel:
Innenbereich, Überbaubare Grundstücksfläche, Maßgeblicher Bereich wechselseitiger Prägung, Faktische Baugrenze, Bebauungstiefe
Normenkette:
BauGB § 34
Schlagworte:
Innenbereich, Überbaubare Grundstücksfläche, Maßgeblicher Bereich wechselseitiger Prägung, Faktische Baugrenze, Bebauungstiefe
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31291
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses im rückwärtigen Bereich des Anwesens I. … 56, Fl.Nr. 507/82, Gem. T. … (im Folgenden: Baugrundstück).
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Das Baugrundstück ist gegenwärtig mit einem straßenseitigen Hauptgebäude mit Nebengebäude(n) bebaut und liegt im Quartier I. …, T. …straße, V..-G. …-Straße und T. …F. …Straße. Für das Geviert ist durch einfachen, übergeleiteten Baulinienplan eine straßenseitige Baugrenze festgesetzt. Entlang der … verläuft diese in einem Abstand von 5,0 m zur Straßenbegrenzungslinie. Im Geviert findet sich Straßenrandbebauung. Etwa mittig, parallel zur I. … verläuft zudem eine weitere Bauzeile, welche durch Einfahrten von der I. … aus erschlossen wird. Zwischen der Bauzeile im Quartiersinnern und der Straßenrandbebauung verlaufen beidseitig der Bauzeile jeweils gärtnerisch genutzte Streifen (Hausgärten).
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Vergleiche zur baulichen Situation folgenden Lageplan, der eine Darstellung des Vorhabens enthält:
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Am … August 2021 (Eingangsdatum) beantragte die Klägerin eine Baugenehmigung (PlanNr. ….) zum Neubau eines Einfamilienhauses im rückwärtigen Bereich des Baugrundstücks. Laut den zur Genehmigung gestellten Bauzeichnungen ist die Errichtung eines Hauptbaukörpers (E+I+D) mit einer Wandhöhe von 6,0 m und einer Grundfläche von 63 m² (errechnet) zuzüglich Garage vorgesehen, welcher einen Abstand von ca. 30,0 m zur Straßenbegrenzungslinie haben soll.
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Mit Bescheid vom ... Dezember 2021 lehnte die Beklagte den Bauantrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass maßgeblicher Beurteilungsrahmen die Bebauung an der I. … sei. Diese weise eine fiktive hinterliegende Baugrenze von ca. 21 m [Tiefe] auf. Die von der I. … aus mit Hammerstiel erschlossenen rückwärtigen Baugrundstücke wiesen eine gesonderte Gebäudezeile in der Mitte auf. Diese Hinterlieger könnten nicht für die Bebauungstiefe des beantragten Rückgebäudes herangezogen werden. Das Vorhaben löse aufgrund der Vorbildwirkung städtebauliche Spannungen aus.
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Mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2021, bei Gericht eingegangen am selben Tag, erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragt,
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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom …12.2021 (Az.: ….) verpflichtet, die Baugenehmigung gemäß Bauantrag vom …08.2021 (Plan Nr. ….) zu erteilen.
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hilfsweise: Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom …12.2021 (Az.: ….) verpflichtet, über den Bauantrag vom …08.2021 (Plan Nr. …) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich das Vorhaben in die maßgebliche Umgebung einfüge, insbesondere hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche. Bei der Frage der überbaubaren Grundstücksfläche sei ausschließlich der übergeleitete Baulinienplan zu prüfen. Ein ergänzender Rückgriff auf § 34 Abs. 1 Baugesetzbuch verbiete sich. Die Plangeberin habe gewollt, dass alle nicht regulierten Bereiche für die Bebauung grundsätzlich freigegeben seien. Überdies füge sich das Vorhaben aber auch nach der Bautiefe ein. Für die Beurteilung sei nicht nur auf die straßenseitige Bebauung südlich der I. … abzustellen, sondern insbesondere auch die Bebauung im Geviertsinneren maßgeblich. Die Bebauungstiefe werde von den Gebäuden I. … 58 bis 76 vorgegeben. Prägend sei daneben auch die Bebauung nördlich der I. … und nördlich der Von- …-Straße. Die befürchtete Eröffnung einer weiteren Baureihe sei weder ein eigenständiger Parameter des § 34 Abs. 1 BauGB noch ein Kriterium in der rein rechnerisch zu ermittelnden Bebauungstiefe. Eine faktische rückwärtige Baugrenze liege nicht vor. Die straßenseitige Bebauung stelle sich als inhomogen dar. Es gebe keinen städtebaulich klar nachvollziehbaren rückwärtigen Garten- oder Ruhebereich, der bewusst von Bebauung freigehalten werden solle. Das klägerische Grundstück erscheine nicht als eine Fläche, die nur gärtnerisch genutzt werden solle, weil direkt an drei Seiten in nächster Nähe Gebäude anzutreffen seien. Wenn überhaupt von einer rückwärtigen Baugrenze ausgegangen werden könne, dann seien hierfür die Gebäude in der Geviertsmitte maßstabsbildend. Bodenrechtliche Spannungen seien nicht erkennbar.
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Die Beklagte beantragt,
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Das Geviert sei im Wesentlichen mit drei Gebäudereihen bebaut, zwischen denen sich zwei zusammenhängende Gartenbereiche befänden. Mit dieser Struktur würde das Bauvorhaben brechen. Die hierdurch ausgelösten städtebaulichen Spannungen lägen auf der Hand.
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Das Gericht hat am 17. Juli 2023 Beweis durch Einnahme eines Augenscheins auf dem streitgegenständlichen Grundstück sowie dessen Umgebung erhoben. Auf das Protokoll dieses Augenscheins sowie der anschließenden mündlichen Verhandlung wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung, noch einen Anspruch auf Neuverbescheidung des Bauantrags vom … August 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, § 113 Abs. 5 VwGO, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO.
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Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Vorhaben ist (jedenfalls) bauplanungsrechtlich unzulässig, da es sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die maßgebliche Umgebung einfügt und städtebauliche Spannungen hervorruft, § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 Abs. 1 BauGB i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 1 a BayBO.
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1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich im Hinblick auf die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nach § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 Abs. 1 BauGB.
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Für das streitgegenständliche Grundstück wurde durch einfachen, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG 1960, § 233 Abs. 3 BauGB übergeleiteten Baulinienplan eine vordere Baugrenze festgesetzt. Soweit ein einfacher Bebauungsplan Regelungen bzw. Festsetzungen enthält, bestimmt sich die Zulässigkeit eines Vorhabens allein danach, ob es diesen Festsetzungen widerspricht oder nicht. Lediglich ergänzend – soweit keine Festsetzungen vorhanden sind – sind die Bestimmungen der §§ 34 oder 35 BauGB heranzuziehen, was § 30 Abs. 3 BauGB ausdrücklich klarstellt. Maßgeblich für die ergänzende Anwendung von § 34 BauGB ist, ob nach dem Willen des Planungsträgers die beschränkte Festsetzung (einer vorderen Baugrenze) im Sinne einer erschöpfenden Festsetzung gewollt ist. Das wird sich im Allgemeinen dann ohne weiteres bejahen lassen, wenn es sich um einen unter der Geltung des BBauG oder BauGB aufgestellten Plan handelt und es auch sonst an Anhaltspunkten fehlt, dass mit ihm eine abschließende Regelung nicht getroffen werden sollte. Bei übergeleiteten Plänen kann es jedoch anders liegen, dies zumal dann, wenn sie zu einer Zeit erlassen worden sind, in der die von ihnen erfassten Vorhaben nach anderen Vorschriften weitergehenden planungsrechtlichen Anforderungen unterlagen (BVerwG, U.v. 12.1.1968 – IV C 167.65 – BVerwGE 29, 49 – juris Rn. 17).
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Für unter Geltung der Bauordnung für die Landeshauptstadt München vom 29. Juli 1895 (BayBS II S. 430 – MBO) erlassene Baulinienpläne (Straßenbegrenzungslinien, Vorgartenlinien, Gebäudefluchtlinien, vordere, seitliche oder rückwärtige Bebauungsgrenzen, § 3 Abs. 1 Nr. 5 MBO) ist regelmäßig davon auszugehen, dass mit deren Festsetzung keine abschließende Regelung zur überbaubaren Grundstücksfläche getroffen werden sollte, da die Beklagte mittels der Staffelbauordnung vom 20. April 1904 (vgl. Helmreich/Schels/Steinhauser, Das M. … Baupolizeirecht, M. … 1927, S. 172 ff.), welche bis zum Jahr 1960 bzw. teilweise bis zum Jahr 1979 galt, durch die Ausweisung von Baustaffeln mit jeweiliger Festlegung der Zulässigkeit von Vorder- und Rückgebäuden sowie deren Höhen und Bebauungstiefen zusätzliche planungsrechtliche Beschränkungen bzw. Anforderungen im obigen Sinne getroffen hat und demnach von weiteren und ausreichenden Regelungen hinsichtlich der Bebauung rückwärtiger Grundstücksteile ausging (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2015 – 2 ZB 13.1962 – juris Rn. 3 ff; B.v. 22.12.2014 – 2 ZB 13.1228 – juris Rn. 2 ff; VG München, U.v. 17.7.2006 – M 8 K 05.6125 – juris Rn. 21; U.v. 13.5.2013 – M 8 K 12.2534 – juris Rn. 82 ff.). An dieser grundsätzlichen Haltung der Beklagten ändert sich auch nichts dadurch, dass im Stadtbereich teilweise auch rückwärtige Baugrenzen festgesetzt wurden (BayVGH, B.v. 22.12.2014 – 2 ZB 13.1228 – Rn. 5). Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend ausnahmsweise eine erschöpfende Regelung zur Überbaubarkeit des hinter der Baugrenze liegenden Grundstücksbereichs gewollt war, sind nicht ersichtlich.
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Die straßenseitige Baugrenze erschöpft sich also (entgegen der Ansicht der Klagepartei) in der Regelung, dass sie von Gebäuden oder Gebäudeteilen nicht oder nur in geringfügigem Ausmaß überschritten werden darf. Sie besagt jedoch nichts über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Rückgebäuden, insbesondere ist keine dahingehende Festsetzung erfolgt, dass die hinter der Baugrenze liegende Grundstückfläche insgesamt zur Bebauung freigegeben werden sollte. Die Frage nach der überbaubaren Grundstücksfläche beurteilt sich daher insoweit ergänzend nach den Kriterien des § 34 Abs. 1 BauGB (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 4.9.1984 – 2 CS 84 A.1559 – BayVBl 1984, 726; B.v. 22.12.2014 – 2 ZB 13.1228 – juris Rn. 2 ff; B.v. 30.3.2015 – 2 ZB 13.1962 – juris Rn. 3 ff; VG München, U.v. 22.3.2010 – M 8 K 09.2128 – juris Rn. 42 ff; U.v. 13.5.2013 – M 8 K 12.2534 – juris Rn. 82 ff.; U.v. 2.5.2022 – M 8 K 20.4178 – BeckRS 2022, 15182, Rn. 19, U.v. 27.6.2022 – M 8 K 21.5001- juris Rn. 34).
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2. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils hinsichtlich dieses Merkmals nur zulässig, wenn es sich „nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“ in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ob eine rückwärtige Bebauung eines Grundstücks zulässig ist, hängt im Wesentlichen davon ab, in welchem Umfang die den Maßstab bildenden umliegenden Grundstücke eine rückwärtige Bebauung aufweisen (BVerwG, B.v. 12.8.2019 – 4 B 1/19- 4 B 1/19 – BauR 2019, 1889; B.v. 6.11.1997 – 4 B 172/97 – NVwZ-RR 1998, 539).
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2.1. Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist dabei die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 22.09.2016 – 4 B 23.16 – juris Rn. 6). Die „nähere Umgebung“ ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – juris Rn. 79). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Entscheidend ist, welche Bebauung das Baugrundstück prägt und im Falle seiner Bebauung ihrerseits von ihm geprägt werden würde (NdsOVG, B.v. 26.8.2019 – 1 LA 41/19 – juris Rn. 8).
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Mit dem in § 34 Abs. 1 BauGB verwendeten Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, ist die konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage und ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung gemeint. Es geht also um den Standort i.S.d. § 23 BauNVO (BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38/13 – juris Rn. 8; B.v. 12.8.2019 – 4 B 1/19 – juris; B.v. 22.9.2016 – 4 B 23.16 – juris). Zur näheren Konkretisierung kann auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur „überbaubaren Grundstücksfläche“, die wiederum gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO auch durch Festsetzung der Bautiefe bestimmt werden kann, zurückgegriffen werden. Dieses Tiefenmaß, das die rückwärtige Bebauung in der gleichen Weise begrenzt wie eine festgesetzte hintere Baugrenze, ist gemäß § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO grundsätzlich durch eine von der tatsächlichen Straßengrenze ab zu messende Maßzahl zu bestimmen (BVerwG, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50.08 – ZfBR 2009, 693). Nach der neueren Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist die Konsequenz daher, dass die Reichweite der näheren Umgebung auf diejenigen Grundstücke beschränkt ist, die durch die gleiche Erschließungsstraße erschlossen sind und in der Regel auch auf der gleichen Straßenseite liegen (BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 2 ZB 21.1560 – juris Rn. 6). Allerdings kann im Einzelfall nach der Rechtsprechung der erkennenden Kammer hinsichtlich des Merkmals der „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“ nicht nach der jeweiligen Erschließungsstraße zu differenzieren sein, wenn sich die rückwärtigen Bereiche gegenseitig prägen, was insbesondere der Fall sein kann, wenn die maßgebliche Umgebung derartig unterschiedliche Bebauungstiefen aufweist, dass diese geradezu ineinander „verzahnt“ wirken (vgl. VG München, U.v. 26.10.2015 – M 8 K 14.3339 – juris Rn. 43). Diese Annahmen für den „Regel- bzw. Einzelfall“ bezeichnen allerdings jeweils nur einen gedanklichen Ausgangspunkt, der jedenfalls von einer Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall nicht entbindet (vgl. hierzu grundsätzlich: BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38/13 – NVwZ 2014, 1246; OVG MV, U.v. 20.3.2019 – 3 LB 284/15 – juris Rn. 24).
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2.2. Dieses berücksichtigend wird die hier maßgebliche Umgebungsbebauung wechselseitiger Prägung durch die zweizeilige Bebauung auf der Südseite der I. …, begrenzt durch die T. …F. …Straße im Osten und die T. …straße im Westen gebildet. Bei Einnahme des Augenscheins und durch das Studium von Lageplänen und (allgemein zugänglichen) Luftbildern konnte sich das Gericht davon überzeugen, dass die vorgenannte maßgebliche Umgebung eine eigenständige, homogene städtebauliche Struktur aufweist. Die dort vorhandenen Hauptgebäude liegen in einem “ersten Baustreifen“ von ca. 21 m Breite (gemessen ab der Baugrenze) sowie einem „zweiten Baustreifen“ von ca. 19 m Breite. Zwischen diesen bebauten Bereichen verläuft ein gärtnerisch genutzter, von Hauptbaukörpern freigehaltener Grünbereich (Hausgärten der „ersten Reihe“) von etwa 24 m Breite.
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Insbesondere aufgrund dieser einheitlichen, in sich abgeschlossenen Struktur verbietet sich zum einen die Berücksichtigung der (Straßenrand-)Bebauung nördlich der I. …, denn das Quartier dort lässt einen andersartigen, eher unstrukturierten Aufbau erkennen, insbesondere sind keine in vergleichbarer Weise prägenden Grünflächen zu finden. Zum anderen zählt jedoch auch die Bebauung auf der Nordseite der Von-G. …-Straße nicht zur das Baugrundstück hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche prägenden Umgebung. Die dort zu findende Bebauung ist durch einen weiteren, ebenfalls unbebauten Grünstreifen südlich der „zweiten Reihe“ klar von der Bebauung auf der Nordseite des Gevierts abgegrenzt. Eine Verzahnung der Bebauung im Quartiersinnern ist nicht ansatzweise erkennbar. Überdies ist der maßgebliche Bereich bei der überbaubaren Grundstücksfläche in der Regel – so auch hier – enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart, weil die Prägung, die von der für die Bestimmung der überbaubaren Grundstücksfläche maßgeblichen Stellung der Gebäude auf den Grundstücken ausgeht, im Allgemeinen deutlich weniger weit reicht (BayVGH, B.v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 20; U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 20).
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2.3. Zur Konkretisierung der Anforderungen zur überbaubaren Grundstücksfläche kann im unbeplanten Innenbereich – wie bereits ausgeführt – auf die Vorschrift des § 23 BauNVO als Auslegungshilfe zurückgegriffen werden (vgl. BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 15 ZB 20.280 – juris Rn. 8). Für die Annahme einer faktischen Baugrenze, als eine sich durch die tatsächliche Bebauung faktisch herausgebildete Linie, die entsprechend § 23 Abs. 3 BauNVO von Gebäuden und Gebäudeteilen im rückwärtigen oder vorderen (straßenseitigen) Bereich nicht überschritten werden darf, muss aus der Lage der in der vorhandenen Umgebungsbebauung befindlichen Hauptgebäude eine Regel ableitbar – d.h. erkennbar und formulierbar – sein. Hierfür bedarf es unter Berücksichtigung grundrechtlicher Wertungen aus Art. 14 Abs. 1 GG wegen der einschränkenden Wirkung auf das Grundeigentum hinreichender Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation; die tatsächlich vorhandene Bebauung darf kein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein. Bei einer höchst unterschiedlichen Bebauung ohne gemeinsame vordere oder hintere Gebäudeflucht kann von einer faktischen vorderen bzw. rückwärtigen Baugrenze nicht gesprochen werden (vgl. BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 15 ZB 20.280 – juris Rn. 8 m.w.N.).
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Aus der als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Umgebungsbebauung lassen sich bei Berücksichtigung dieser Grundsätze Beschränkungen in Form von faktischen Baugrenzen, bzw. dadurch festgelegten Bauräumen entnehmen, welche bei einer Realisierung des Bauvorhabens beachtet werden müssen. Denn ebenso, wie es der plangebenden Gemeinde im Rahmen der Bauleitplanung möglich ist, in Wohngebieten Bauräume für Wohngebäude durch Baufenster auszuweisen, also die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen festzusetzen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, § 23 BauNVO), kann sich im unbeplanten Innenbereich (§ 34 Abs. 1 BauGB) eine vergleichbare städtebauliche Ordnung anhand dem tatsächlich Vorhandenen ergeben.
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Vorliegend weist die maßgebliche Umgebung zum einen eine faktische rückwärtige Baugrenze in einem Abstand von ca. 26 m (abgegriffen) zur I. … auf, welche den mit Hauptbaukörpern bebauten Bereich („erste Reihe“) von den rückwärtigen (Garten-)Flächen abteilt. Diese Grenze verläuft an der südlichen Außenwand des Anwesens I. …str. 70/70a und wird von keinem Hauptbaukörper der Straßenrandbebauung überschritten. Auch die meisten zugehörigen Nebengebäude (insbesondere Garagen) finden sich innerhalb des Bauraums, welcher durch die entlang der I. … festgesetzten vordere und die rückwärtige faktische Baugrenze gebildet wird.
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Es handelt sich bei der vorgefundenen, einheitlichen Struktur offensichtlich um kein bloßes Zufallsprodukt, sondern den Ausdruck einer verfestigten städtebaulichen Situation, aus der sich eine klare Gliederung zwischen straßenseitig bebautem Streifen und sich anschließendem gärtnerisch genutzten Freiflächen ablesen lässt. Für eine faktische Baugrenze ist ferner nicht erforderlich, dass sämtliche Hauptgebäude – wie bei einer festgesetzten oder faktischen Baulinie – mit einer (absolut) einheitlichen rückwärtigen Gebäudeflucht abschließen. Es ist gerade kennzeichnend für eine Baugrenze, dass bauliche Anlagen und Teile solcher Anlagen diese zwar nicht überschreiten dürfen, ein Zurückbleiben hinter der Baugrenze jedoch zulässig ist (Petz in: König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 5. Auflage 2022, § 23 Rn. 20). Unschädlich ist überdies, dass in den gärtnerisch genutzten Flächen zum Teil weitere Nebenanlagen (etwa Swimmingpools oder Gartenhäuschen) vorzufinden sind, da diese hinsichtlich des Merkmals der überbaubaren Grundstücksfläche ohne Belang sind (vgl. BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 15 ZB 20.280 – juris Rn. 8). Gleiches gilt für das von außen nicht wahrnehmbare Tiefgaragenbauwerk auf den Fl.Nrn. 506/33 und 506/84 und die befestigten Zufahrten zu den Gebäuden in der „zweiten Reihe“. Diesen Nebenanlagen fehlt insoweit die städtebauliche Aussagekraft. Sie sind insbesondere nicht geeignet, den optischen Eindruck der Zusammengehörigkeit der durchgehenden, unbebauten Grünfläche zu beeinflussen. Vielmehr kommt dieser aufgrund ihrer Größe ein eigenständiges städtebauliches Gewicht zu.
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Der Eindruck des städtebaulich eigenständigen Grünstreifens wird durch die ebenfalls einzeilige „zweite Baureihe“, in der die Hauptgebäude im Wesentlichen in einer Flucht errichtet wurden, noch verstärkt. Dieser Baubereich, welcher in einem Abstand von ca. 50 m zur I. … verläuft und eine Breite von ca. 19 m aufweist, wird seinerseits ebenfalls durch zwei faktische Baugrenzen (vorne und rückwärtig) definiert. Auch dieser Streifen ist von dem unbebauten, gärtnerisch genutzten Bereich („Hausgärten der ersten Reihe“) klar abgetrennt. Er begrenzt ihn, ohne Teil von ihm zu sein. Der Raum zwischen diesen beiden Bauräumen („erste Reihe“ und „zweite Reihe“) dient als nicht überbaubare Fläche einem anderen städtebaulichen Zweck, nämlich der Auflockerung und Durchgrünung.
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3. Lässt sich aus der vorhandenen Bebauung – wie hier – eine faktische Baugrenze ablesen, so fügt sich ein Bauvorhaben hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn diese faktische Baugrenze überschritten und bei der Realisierung des Bauvorhabens städtebauliche Spannungen ausgelöst würden (BayVGH, B.v. 25.2.2014 – 1 ZB 11.1739 – juris Rn. 2).
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3.1. Das Vorhaben hält das vorgefundene städtebauliche Ordnungssystem offensichtlich nicht ein, da es die faktische rückwärtige Baugrenze der „ersten Reihe“ überschreitet. Das Gebäude kommt etwa 4 m hinter der faktischen Baugrenze in dem Grünstreifen zwischen den Bauräumen zu liegen.
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Auch aus dem Umstand, dass es auf drei Seiten von Bebauung umgeben ist, folgt nichts Gegenteiliges. Ob sich ein Vorhaben im Hinblick auf seinen Standort in seine Umgebung einfügt, hängt nicht von den Grenzen des Baugrundstücks ab. Für den Begriff der “Grundstücksfläche, die überbaut werden soll”, gilt nichts Anderes. Im Einzelfall kann dies zur Folge haben, dass ein im Innenbereich liegendes Grundstück nicht mit einem in diesem Gebiet an sich zulässigen Gebäude bebaut werden kann, wenn es nämlich nur solche Flächen umfasst, die nach der Eigenart der näheren Umgebung nicht für in diesem Gebiet an sich zulässige Hauptgebäude aufnahmefähig sind, sondern – wie hier – nur als Hofflächen, Hausgärten oder für Nebenanlagen zur Verfügung stehen. Dass die Lage eines Grundstücks in einem Wohngebiet nicht gleichbedeutend mit der Zulässigkeit eines Wohngebäudes auf diesem Grundstück sein muss, zeigt auch § 23 BauNVO, nach dem in Baugebieten auch nicht überbaubare Flächen festgesetzt werden können. Diesem Verständnis steht nicht entgegen, dass Grundstücke im (unbeplanten) Innenbereich grundsätzlich Baulandqualität haben, die ihnen nicht entschädigungslos entzogen werden darf. Denn eine Fläche, auf der sich ein Hauptgebäude nicht (mehr) in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, ist von vornherein durch die vorhandene Situation als nur beschränkt oder überhaupt nicht bebaubar geprägt (BVerwG, B.v. 28.9.1988 – 4 B 175/88 – NVwZ 1989, 354; vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 16.11. 2010 – 10 S 31/10 – NJOZ 2011, 183 zur faktischen privaten Grünfläche).
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Der rückwärtige Bereich des Vorhabengrundstücks erscheint als Teil eines ca. 24 m breiten und über 200 m langen Grünstreifens, welchem aufgrund seiner Größe ein eigenes planungsrechtliches Gewicht zukommt. Die ihn auf drei Seiten umgebenden Bauten (I. …str. 56, T. …F. …Str. 13-13c und I. … 58) begrenzen den Grünstreifen an dessen westlichem Ende, ohne jedoch in diesen hineinzuwirken. Die Fläche, auf welcher das Vorhaben verwirklicht werden soll, ist Teil des Grünstreifens und wird maßgeblich durch diese zusammenhängende Freifläche geprägt. Sie ist aufgrund des konkreten städtebaulichen Kontexts nicht zur Aufnahme von Hauptbaukörpern geeignet.
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3.2. Auch bei Betrachtung der „Bebauungstiefe“ der Gebäude in der „zweiten Reihe“, welche bis zu 69 m erreicht (I. … 58, Fl.Nr. 507/55; abgegriffen) fügt sich das Vorhaben nicht in die maßgebliche Umgebung ein.
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Die Bebauungstiefe steht in ihrer Rechtswirkung einer hinteren Baugrenze gleich. Regelmäßig legt sie einen Grundstücksteil als überbaubare Fläche fest, die sich von der Verkehrsfläche bis zur hinteren Grenze der Bebauungstiefe erstreckt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 149. EL Februar 2023, § 23 BauNVO Rn. 33). Die Anzahl der Baureihen ist dabei weder ein eigenständiger Parameter des § 34 Abs. 1 BauGB noch ein Kriterium in der rein rechnerisch zu ermittelnden Bebauungstiefe (VG München, U.v. 9.10.2017 – M 8 K 16.2971 – BeckRS 2017, 133541 Rn. 24). Wenn in dem Bebauungsplan jedoch zudem eine vordere Baugrenze festgesetzt ist, ergibt erst diese zusammen mit der festgesetzten Bebauungstiefe einen bebaubaren Grundstücksstreifen (Hornmann in: BeckOK BauNVO, Spannowsky/Hornmann/Kämper, 34. Edition, Stand: 15.7.2023, § 23 Rn. 58). Flächen außerhalb dieses Grundstücksstreifen sind nicht überbaubar. Gleiches gilt für eine faktische vordere Baugrenze, welche sich auf die jeweilige Bebauungstiefe bezieht und mit dieser gemeinsam den zur Verfügung stehenden Bauraum definiert.
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Daher kann die Bebauungstiefe der Gebäude in der „zweiten Reihe“ hier nicht losgelöst von der den Bauraum der „zweiten Reihe“ definierenden, ihr zugeordneten faktischen (vorderen) Baugrenze, welche in einem Abstand von ca. 50 m zur I. … verläuft, betrachtet werden. Das geplante Gebäude soll auch außerhalb dieses Bauraums innerhalb des nicht überbaren Bereichs errichtet werden.
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3.3. Das Vorhaben, das sich nach den vorstehenden Ausführungen nicht mehr in den Rahmen der prägenden Umgebung einfügt, führt aufgrund seiner Vorbildwirkung auch zu städtebaulichen Spannungen.
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Die Überschreitung des durch die Umgebung gesetzten Rahmens führt zwar nicht unbedingt, wohl aber im Regelfall zur Unzulässigkeit des Vorhabens. Denn eine Überschreitung des von der Bebauung bisher eingehaltenen Rahmens zieht in der Regel die Gefahr nach sich, dass der gegebene Zustand in negativer Hinsicht in Bewegung und damit in Unordnung gebracht wird (BVerwG, U.v. 15.12.1994 – 4 C 13.93 – juris Rn. 21). Bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen werden begründet oder erhöht, wenn das Bauvorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen. Hierfür reicht die mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens für andere Bauvorhaben auf Nachbargrundstücken in vergleichbarer Lage aus (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 17 m.w.N.).
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Bei Realisierung der beantragten Bebauung würde das vorherrschende städtebauliche Ordnungssystem aufgegeben und ein Vorbild für eine Folgebebauung auf Flächen schaffen, die bisher ausschließlich gärtnerisch genutzt werden. Angesichts der offensichtlichen Vorbildwirkung ließe sich die derzeit vorhandene städtebauliche Struktur nicht mehr aufrechterhalten. Das Schließen der „Lücken“ zwischen der „ersten“ und der „zweiten Reihe“ hätte eine unkontrollierte Nachverdichtung zur Folge. Die zusätzliche Bebauung und der Verlust der Freiflächen würden eine städtebaulich neue Situation entstehen lassen, ohne dass die Entwicklung bauleitplanerisch geordnet wird (§ 1 Abs. 3 BauGB).
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4. Da sich das Vorhaben bereits nach der Grundfläche, die überbaut werden soll, nicht in die maßgebliche Umgebung einfügt, kommt es auf die weiteren von der Klagepartei aufgeworfenen Gesichtspunkte, insbesondere hinsichtlich dem Einfügen nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht mehr an.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
44
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.