Inhalt

VG München, Beschluss v. 16.10.2023 – M 10 S 23.51083
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung mangels Flüchtigseins

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 2
AufenthG § 60a Abs. 2
AsylG § 34a Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Verlängerung der Überstellungfrist auf 18 Monate durch das Bundesamt stellt keinen gesondert angreifbaren Verwaltungsakt dar (BVerwG BeckRS 2019, 34850). Demnach hat die nachträgliche Geltendmachung eines Zuständigkeitsübergangs nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO im vorläufigen Rechtsschutz regelmäßig im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu erfolgen, wenn nicht ein Antrag nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO im Hinblick auf einen ursprünglich fristgerecht gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im Rahmen einen noch anhängigen Klageverfahrens gegen die Abschiebungsanordnung möglich wäre. (Rn. 13) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Um vorläufigen Rechtsschutz kann nach § 123 Abs. 1 VwGO nachgesucht werden, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsanordnung eine Veränderung der Sach- oder Rechtslage eintritt, die die Abschiebung unmöglich macht. In diesem Fall sichert der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO den in der Hauptsache zu verfolgenden Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Ein Antragsteller ist flüchtig i.S.v. Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Aufgrund erheblicher Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen, darf grundsätzlich aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (BVerwG BeckRS 2021, 37819). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Grundsätzlich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme des Flüchtigseins aus. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
6. Grundsätzlich spricht eine stationäre Behandlung im Krankenhaus gegen eine Vereitelungsabsicht der zu überstellenden Person, auch dann, wenn zuvor eine sog. Bereithaltungsanordnung ergangen ist (VG München BeckRS 2022, 16079). (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Dänemark), Abschiebungsanordnung (bestandskräftig), Ablauf der Überstellungsfrist, Erkrankung des Gebärmuttergewebes der Antragstellerin, Kein Flüchtigsein bei kurzfristig erforderlicher stationärer Aufnahme zwei Tage vor dem Überstellungstermin, somalische Staatsangehörige, Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung, Dänemark, Überstellungsfrist, Flüchtigsein, vorläufiger Rechtsschutz, stationäre Behandlung, Vereitelungsabsicht, Zuständigkeitsübergang, einmaliges Nichtantreffen, Bereithaltungsanordnung, Selbstgestellungsaufforderung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31278

Tenor

I. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom … März 2023 (Gesch.-Z.: … – …) zu vollziehen oder vollziehen zu lassen.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragsgegnerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den bevorstehenden Vollzug ihrer angeordneten Überstellung nach Dänemark im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
2
Die Antragstellerin ist sambische Staatsangehörige, deren Asylantrag mit Bescheid vom … März 2023 als unzulässig abgelehnt und deren Abschiebung nach Dänemark angeordnet wurde. Nachdem die Antragstellerin gegen diesen Bescheid keine Rechtsmittel einlegte, wurde dieser am … April 2023 bestandskräftig.
3
Die Überstellung der Antragstellerin nach Dänemark war für den … August 2023 geplant. Mit Schriftsatz vom 9. August 2023 beantragte die Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz gegen die vorgesehene Überstellung am … August 2023 und machte in der Sache ein inländisches Abschiebungshindernis aus gesundheitlichen Gründen geltend (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 11. August 2023 abgelehnt (M 10 E 23.50842).
4
Die Überstellung am … August 2023 scheiterte, nachdem die Antragstellerin weder auf ihrem Zimmer noch auf dem Gelände ihrer Aufnahmeeinrichtung angetroffen wurde. Mit Schreiben vom gleichen Tag teilte die Antragsgegnerin den dänischen Behörden mit, dass die 18-monatige Überstellungsfrist gelte, weil die Antragstellerin flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) sei.
5
Mit Schriftsatz vom 5. Oktober 2023 erhob der Bevollmächtigte der Antragstellerin Feststellungsklage hinsichtlich des Ablaufs der Überstellungsfrist. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens der Antragstellerin gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen sei. Die Antragstellerin sei nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO flüchtig gewesen. Die Antragstellerin sei am … August 2023 wegen starker Schmerzen mit dem Krankenwagen ins Klinikum gebracht worden. Die Antragstellerin legte hierzu einen auf den … August 2023 datierten Arztbrief des Klinikums I. … vor, aus dem hervorgeht, dass sich die Antragstellerin vom … August 2023 bis … August 2023 dort befunden habe bzw. dass sie sich wegen Unterbauchschmerzen bei bekanntem Uterus Myomatosus dort vorgestellt habe. Auf den Inhalt dieses Arztbriefs wird im Übrigen Bezug genommen.
6
Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2023 beantragt die Antragstellerin, nachdem sie von der Polizei zwischenzeitlich in Gewahrsam genommen wurde,
7
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, hilfsweise die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Vollziehung der Überstellung der Antragstellerin nach Dänemark im Rahmen des Dublin-Verfahrens bis zur Entscheidung über die Klage vom ... Oktober 2023 auszusetzen.
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Zur Begründung des Eilantrags wird ausgeführt, dass die Antragsgegnerin offensichtlich versuche, vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor im Klageverfahren über die Frage des Ablaufs der Überstellungsfrist entschieden worden sei.
9
Mit Bescheid vom … August 2023 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass der Bescheid vom … März 2023 aufrechterhalten bleibe. Es lägen keine Gründe für eine Rücknahme des Bescheids gemäß § 48 VwVfG vor. Im Übrigen wird auf den Inhalt dieses Bescheids Bezug genommen.
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Die Antragsgegnerin legte die (aktualisierte) Asylakte vor, hat sich aber bislang weder im Verfahren M 10 K 23.51053 noch im vorliegenden Eilverfahren inhaltlich geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.51053 und M 10 E 23.50842, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
12
Das Eilrechtsschutzbegehren der Antragstellerin hat mit dem hilfsweise gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.
13
1. Der (primär gestellte) Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 ist nicht statthaft und daher unzulässig. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist in der Regel statthaft, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage erhoben ist. Ein Antrag nach § 123 VwGO kommt dagegen regelmäßig bei sogenannten „Vornahmesachen“ in Betracht (vgl. Happ in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 123 VwGO Rn. 9). Im vorliegenden Fall, in dem es um die Frage des Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht, liegt keine Anfechtungskonstellation vor, da die Erklärung der Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate durch die Antragsgegnerin kein gesondert angreifbarer Verwaltungsakt ist (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2019 – 1 B 75.19 – juris Rn. 8 ff.). Demnach hat die nachträgliche Geltendmachung des Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO im vorläufigen Rechtsschutz regelmäßig im Weg der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu erfolgen, wenn nicht ein Antrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO im Hinblick auf einen ursprünglich fristgerecht gestellten (und zwischenzeitlich abgelehnten) Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO und noch anhängigen Klageverfahren gegen die Abschiebungsanordnung möglich wäre. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall, da der Bescheid vom … März 2023 bestandskräftig ist.
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2. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
15
a) Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist in der vorliegenden Konstellation zulässig. Auch wenn vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist, ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass um vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nachgesucht werden kann, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsanordnung eine Veränderung der Sach- und Rechtslage erfolgt, welche die Abschiebung unmöglich macht. In diesem Fall sichert der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO den in der Hauptsache zu verfolgenden Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ab (vgl. Pietzsch in BeckOK AuslR, Stand 1.1.2023, § 34a AsylG Rn. 33a m.w.N.). Ob der geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens in der Sache besteht bzw. glaubhaft gemacht wurde, ist eine Frage der Begründetheit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO.
16
b) Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Dabei hat ein Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
17
Gemessen an diesen Anforderungen hat die Antragstellerin vorliegend sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat nach Durchsicht der Behördenakte sowie nach Prüfung ihres Vorbringens und der vorgelegten Unterlagen einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin den Bescheid vom … März 2023 wegen entscheidungserheblicher Änderung der Sach- und Rechtslage zu ihren Gunsten aufhebt und ihren Asylantrag im nationalen Verfahren prüft. Die Überstellungsfrist konnte entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht auf 18 Monate verlängert werden.
18
aa) Die Antragstellerin war im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am … August 2023 nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
19
Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, auf die die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Bezug nimmt, ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen. Ein Antragsteller ist flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff „flüchtig“ objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht. Das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann. Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will. Ein Flüchtigsein kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen, darf (grundsätzlich) aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO („flüchtig ist“) folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (s. zum Ganzen: EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 53 ff.; BVerwG, U.v. 26.1.2021 – 1 C 42.20 – juris Rn. 25, 27; BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 19 f.).
20
Grundsätzlich reicht allerdings bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei flüchtig. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt jedenfalls, solange keine Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit oder für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021, a.a.O., Rn. 22, 30 f. zur Selbstgestellungsaufforderung; Vereitelungsabsicht verneint bei stationärer Behandlung im Krankenhaus: U.v. 17.8.2021 – 1 C 51.20 – juris Rn. 31).
21
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben war die Antragstellerin am … August 2023 nicht als „flüchtig“ anzusehen, da im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt dieses Beschlusses (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) die subjektive „Entziehungsabsicht“ nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Das Gericht hält den vom Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 1 C 51.20 (juris Rn. 31) aufgestellten Rechtssatz, dass eine stationäre Behandlung im Krankenhaus gegen eine Vereitelungsabsicht der zu überstellenden Person spreche, auch im vorliegenden Verfahren für anwendbar, in welchem (anders als im Verfahren 1 C 51.20) eine sogenannte Bereithalteanordnung ergangen ist (vgl. auch VG München, GB v. 3.3.2022 – M 10 K 21.50320 – juris Rn. 32). Dem Gericht ist bewusst, dass der Antragsgegnerin der Umstand der stationären Aufnahme der Antragstellerin im Klinikum I. … vom … Oktober 2023 bis … Oktober 2023 im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am frühen Nachmittag des … Oktober 2023 nicht bekannt war. Ebenso geht aus den von der Antragstellerin vorgelegten Erklärungen und Dokumente nicht hervor, dass die Behörden oder etwa auch die Aufnahmeeinrichtung über ihre stationäre Aufnahme im Klinikum informiert hat. Da der Rechtsbegriff des „Flüchtigseins“ der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, kommt es aber nicht entscheidend darauf an, ob die Antragsgegnerin im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung (unverschuldet) nicht alle objektiv bestehenden Gründe berücksichtigen konnte. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass das Gericht in einer wertenden Gesamtschau alle relevanten Umstände – d.h. auch solche, die dem Bundesamt erst nach Erlass der Verlängerungsentscheidung nachträglich bekannt wurden – zu berücksichtigen hat (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 27, 34). So liegt es auf der Hand, dass bei einem medizinischen Notfall, der vor einem Überstellungstermin auftritt, eine zeitnahe Informierung der zuständigen Behörden über das Verlassen der Aufnahmeeinrichtung und Mitteilung des neuen (vorübergehenden) Aufenthaltsorts (d.h. hier das Klinikum) durch die betroffene Person nicht immer erfolgen können wird oder nur mit zeitlichem Verzug. Im vorliegenden Fall ist jedenfalls glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin am … August 2023 offenbar mit dem Notarztwagen in das Klinikum I. … gebracht wurde, weil sie starke Schmerzen gehabt hatte, die durch Schmerzmittel nicht mehr gedämpft werden konnten. Dieser Geschehensablauf, wie er von der Sozialarbeiterin dargestellt wird, erscheint dem Gericht unter ergänzender Berücksichtigung des Arztbriefs des Klinikums I. … vom … August 2023 jedenfalls nachvollziehbar. Unter Berücksichtigung dieses Dokuments sowie des weiteren Vortrags der Antragstellerin ergibt sich ein schlüssiges und nach Aktenlage glaubhaftes Gesamtbild, dass die Antragstellerin wegen der bereits aus dem Verfahren M 10 E 23.50842 bekannten Erkrankungen (stärkere) Schmerzen hatte und diese im Zuge der stationären Aufnahme vom … bis … August 2023 abgeklärt werden sollten. Ebenso ist zwischen den Beteiligten unumstritten, dass bei der Antragstellerin (ursprünglich) ein größerer operativer Eingriff geplant war.
22
Angesichts der Tatsache, dass die Antragstellerin offenbar an ihrer Aufnahmeeinrichtung vom Notarzt abgeholt wurde und ins Klinikum gebracht wurde, wo sie stationär aufgenommen wurde, kann ihr rechtlich nicht zu Last gelegt werden, am … Oktober 2023 oder unmittelbar danach die Behörden nicht über ihren aktuellen Aufenthaltsort informiert zu haben. Die Einlassung der Antragstellerin, dass sie starke Schmerzen im Unterleib gehabt habe, ist faktisch nicht widerlegbar, zumal in wertender Gesamtbetrachtung auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgelegen haben, dass sie die Schmerzen „simuliert“ hat, zumal dann auch schwer vorstellbar ist, dass das Klinikum I. … die Antragstellerin für zwei Tage stationär aufgenommen hätte. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Erklärung der Sozialarbeiterin die Antragstellerin schon früher in die Gemeinschaftsunterkunft zurückwollte, aber das Klinikum mitgeteilt hätte, dass sie für ein paar Tage dortbleiben könnte. Dies klingt tendenziell so, als dass das Klinikum die Antragstellerin vorübergehend zu Beobachtung und Abklärung „dabehalten“ wollte.
23
Auch wenn der Umstand des Verlassens der Antragstellerin aus der Aufnahmeeinrichtung trotz ergangener Bereithalteanordnung im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung aus der Perspektive der Antragsgegnerin den ausschlaggebenden Anhaltspunkt gegeben hat (der nach der oben genannten Rechtsprechung an sich grundsätzlich auch ausreichend wäre), wird dieser aber eben durch die nachträglich bekannt gewordenen Umstände zur stationären Aufnahme der Antragstellerin im Klinikum wieder relativiert bzw. letztendlich auch erklärt. In dieses Gesamtbild fügt sich ergänzend auch noch der Umstand ein, dass das Zimmer der Antragstellerin weiterhin noch „bewohnt“ aussah, was in einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung tendenziell gegen eine Entziehungsabsicht gewürdigt werden kann.
24
Das Gericht verkennt insgesamt nicht, dass die Koinzidenz des geplanten Überstellungstermins und der stationäre Klinikaufenthalt vom … August 2023 bis … August 2023 auf der Hand liegen. Gleichwohl ist es angesichts der vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Bundesverwaltungsgericht geklärten Maßstäbe zu Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO nicht möglich, die Einlassungen der Antragstellerin zu ihren Schmerzen bzw. dem stationären Klinikaufenthalt als unbeachtlich zu verwerfen und lediglich auf die Tatsache ihrer fehlenden Anwesenheit in ihrem Zimmer am … August 2023 zu rekurrieren. Letztendlich fallen derartige Vorgänge (auch) in die tatsächliche Risikosphäre der Antragsgegnerin, wenn eine Überstellung – wie hier – auf den letztmöglichen Tag der Überstellungsfrist terminiert wird und gesundheitliche Beschwerden der zu überstellenden Person bestehen. Selbst wenn das Gericht – wie vorliegend – woher beurteilt hat, dass die geltend gemachten Beschwerden aus rechtlichen Gründen nicht zu einer Reiseunfähigkeit führen (weil kein qualifiziertes ärztliches Attest im Rechtsinn zur Reiseunfähigkeit vorlag), muss die Antragsgegnerin bei Vorliegen einer Erkrankung der zu überstellenden Person tendenziell damit rechnen, dass tatsächlich dennoch gesundheitliche Beschwerden vorkommen können, die einen Krankenhausaufenthalt kurzfristig erforderlich machen und so eine Überstellung innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist scheitern lassen können.
25
Mangels Flüchtigseins konnte daher die Überstellungsfrist nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf 18 Monate verlängert werden, sodass weiterhin die sechsmonatige Überstellungsfrist galt. Da diese inzwischen abgelaufen ist, ist die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens auf die Antragsgegnerin übergegangen (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO), worauf sich die Antragstellerin auch berufen kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 36 m.w.N.).
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bb) Der Anordnungsgrund folgt aus der Eilbedürftigkeit der Sache. Nach unbestrittenen Angaben der Antragstellerin steht eine Überstellung nach Dänemark unmittelbar bevor. Die mit dieser Anordnung einhergehende Vorwegnahme der Hauptsache ist im Hinblick auf die Anforderungen an die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG vorliegend geboten, da nach den obigen Ausführungen ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit des Obsiegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren besteht und ohne die Anordnung mit dem potenziellen Eintritt irreversibler Zustände zu rechnen ist (vgl. Happ in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 123 VwGO Rn. 66a).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der unstatthafte bzw. unzulässige Primärantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO fällt nicht erheblich ins Gewicht, da die Antragstellerin ihr Rechtsschutzziel im Wesentlichen erreicht hat. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).