Titel:
Dublin-Verfahren (Tschechien)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. d
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Im Asylsystem der Tschechischen Republik ebenso wie in den dortigen Aufnahmebedingungen liegen keine Anhaltspunkte für systemische Mängel vor, die die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Rechts aus Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRCh ergeben könnte. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Tschechien), Abschiebungsanordnung, Geltendmachung der Folter in tschechischer Haft infolge unerlaubter Einreise, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, Keine systemischen Mängel, Kein „real risk“ einer Verletzung von Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr nach Tschechien, Möglichkeit der Stellung eines Folgeantrags in Tschechien, Kein Entzug materieller Leistungen für Folgeantragsteller in Tschechien, unzulässiger Asylantrag, Folter, systemische Mängel, Selbsteintrittsrecht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31277
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung in die Tschechische Republik im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller reiste am … April 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom 4. Mai 2023 schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 22. Mai 2023.
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Nach der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 4. Mai 2023, die eine Treffermeldung der Kategorie 1 hinsichtlich der Tschechischen Republik aufweist („CZ1[…]“ vom 22.10.2022), ergaben sich für die Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 6. Juni 2023 richtete die Antragsgegnerin ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an die Tschechische Republik, welches mit Schreiben vom 7. Juni 2023 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO akzeptiert wurde.
4
Der Antragsteller hat im Rahmen seiner Anhörung vom … Juni 2023 zur Zulässigkeit seines Asylantrags unter anderem angegeben, dass er in Tschechien wegen seiner illegalen Einreise in Haft gekommen sei. Man habe Hunde auf ihn gehetzt, ihn durchsucht und geschlagen. In der Haft sei er alle 2-3 Tage durchsucht worden und habe sich ausziehen müssen. Als er sich einmal dagegen ausgesprochen habe, sei er für zwei Wochen in Einzelhaft gekommen. Weil er in der Haft in Tschechien gefoltert worden sei, habe er in der Nacht nicht schlafen können. Der Antragsteller wurde vom Bundesamt aufgefordert, Unterlagen zu seiner Haft in Tschechien nachzureichen.
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Mit Bescheid vom ... August 2023, zugestellt am … September 2023, hat das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids), festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nr. 2 des Bescheids) und die Abschiebung in die Tschechische Republik angeordnet (Nr. 3 des Bescheids). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheids). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat ausweislich des elektronischen Prüfvermerks am 24. September 2023 über seinen Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom ... August 2023 erhoben und beantragt zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wurde nach zwischenzeitlicher Gewährung der Einsichtnahme in die elektronische Behördenakte am 29. September 2023 mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2023 ausgeführt, dass die Dublin III-VO nicht anwendbar sei. Der Antragsteller habe sich in Tschechien 4,5 Monate in Haft befunden. Unter Anwendung von Drohung und Gewalt habe der Antragsteller dort seine Fingerabdrücke hinterlassen. Andernfalls hätte er sich dort in der Haft bis zu 1,5 Jahre aufhalten müssen. Der Antragsteller habe dort keinen Asylantrag gestellt. Haftunterlagen würden in Kürze nachgereicht werden.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.51020, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
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Über den Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO konnte entschieden werden, ohne die Ankündigung der Vorlage von Unterlagen zur Haft des Antragstellers in der Tschechischen Republik abwarten zu müssen. Der Antragsteller wurde bereits vom Bundesamt im Anhörungsgespräch vom … Juni 2023 aufgefordert, diese zeitnah nachzureichen, was dieser nicht getan hat. Generell muss ein Antragsteller im Eilverfahren nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO, bei der die gesetzliche Begründungsfrist für das Klageverfahren (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG) nicht zur Anwendung kommt, ab Entscheidungsreife und je nach Dringlichkeit der Sache jederzeit mit einer gerichtlichen Entscheidung rechnen (vgl. VG München, B.v. 28.6.2023 – M 19 S9 23.50444 – juris Rn. 36). Einer gesonderten Fristsetzung nach § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO – die auch im Dublin-Eilverfahren als Instrument der richterlichen Verfahrensgestaltung grundsätzlich möglich wäre (vgl. VG Augsburg, B.v. 18.12.2017 – Au 6 S 17.50497 – juris Rn. 25) – zur Begründung des Eilantrags bedarf es vorher nicht. Demnach obliegt es zur Wahrung der eigenen Rechte einem Antragsteller grundsätzlich selbst, bereits mit der Begründung des Eilantrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO alle relevanten Tatsachen vorzutragen bzw. glaubhaft zu machen, die aus seiner Sicht für den Ausgang des Verfahrens von Bedeutung sein könnten.
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1. Der zulässige Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO hat in der Sache keinen Erfolg.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da der Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist.
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a) Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO ist die Tschechische Republik für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig und nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO zu seiner Wiederaufnahme verpflichtet. Dies haben die tschechischen Behörden in ihrem Antwortschreiben an die Antragsgegnerin vom 7. Juni 2023 auch ausdrücklich eingeräumt. Die Fristen für die Stellung des Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO bzw. dessen Beantwortung gemäß Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dubin III-VO wurden jeweils eingehalten. Der Einwand des Antragstellers, dass er in Tschechien keinen Asylantrag gestellt habe bzw. die Dublin III-VO überhaupt nicht zur Anwendung komme, greift nicht durch. Die Dublin III-VO ist für die Bundesrepublik Deutschland in allen ihren Teilen verbindlich und hat unmittelbare Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV). Dass der Antragsteller einen Asylantrag in Tschechien gestellt hat, wird mit dem EURODAC-Treffer und der damit einhergehenden Beweiskraft belegt (vgl. Art. 22 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Buchst. a Dublin III-VO i.V.m. Anhang II Nr. 2 DVO [EU] 11/2014). Die Behauptung, dort keinen Asylantrag gestellt zu haben, stellt keinen Gegenbeweis im Rechtsinn dar.
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b) Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
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aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass der verwaltungsgerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommt, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere für das Verfahren relevante Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. So kann im Einzelfall ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur umfassenden und hinreichend aktuellen Sachaufklärung und erschöpfenden Ausnutzung prozessualer Aufklärungsmöglichkeiten eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes begründen, wenn das Gericht eine im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchführbare Aufklärungsmaßnahme, die zudem eine Vielzahl von Fällen betrifft, unterlassen hat. Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn nicht nur aussichtsreiche Aufklärungsmöglichkeiten seitens des Gerichts unterblieben sind, sondern dabei auch spezifische institutionalisierte Quellen, die den Gerichten gerade für die Aufklärung asylrechtlicher Sachverhalte aufbereitet und bereitgestellt werden, außer Acht gelassen werden (vgl. jüngst zum Ganzen: BVerfG, B.v. 2.8.2023 – 2 BvR 593/23 – juris Rn. 11).
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Unter Umständen kann es deshalb ungeachtet des Prinzips der normativen Vergewisserung bzw. des gegenseitigen Vertrauens sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16). Dies gilt jedenfalls in solchen Fällen, in denen die Auskunftslage im Eilverfahren nicht hinreichend eindeutig erscheint und eine weitere Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren naheliegt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ungeachtet sich stellender komplexer Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren die Rechtsweggarantie eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG in rechtlich unzulässiger Weise abschneiden kann (BVerfG, B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8, mit Verweis auf § 80 AsylG).
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bb) Gemessen an diesen rechtlichen Grundsätzen ist mit dem Vortrag des Antragstellers zu dem von ihm geltend gemachten Unrechtserfahrungen nicht ausreichend dargelegt, dass im Asylsystem der Tschechischen Republik oder in den dortigen Aufnahmebedingungen Anhaltspunkte für systemische Mängel vorliegen, von denen ausgehend sich – auch unter Berücksichtigung der oben genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die verwaltungsgerichtliche Sachaufklärungspflicht in Dublin-Eilverfahren – die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Rechts des Antragstellers aus Art. 4 GRCh ergeben könnte. Soweit der Antragsteller generell beanstandet, in der Tschechischen Republik aufgrund seiner unerlaubten Einreise in Haft genommen worden zu sein, ist anzumerken, dass auch das einschlägige EU-Sekundärrecht die Inhaftnahme eines Asylsuchenden gerade nicht prinzipiell ausschließt, sondern unter den genannten Voraussetzungen sogar ausdrücklich ermöglicht (vgl. Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 RL 2013/33/EU). Aus der Erkenntnismittellage lässt sich entnehmen, dass in der Tschechischen Republik die Gründe für die Inhaftnahme eines Asylsuchenden in jedem Einzelfall geprüft würden, insbesondere ob eine weniger belastende und gleich geeignete Maßnahme zur Verfügung stehe (vgl. European Union Agency for Asylum [EUAA], Information on procedural elements and rights of applicants subject to a Dublin transfer to the Czech Republic, 21.4.2023, Nr. 3.4). Die Rechtmäßigkeit der Haft kann gemäß Art. 9 Abs. 5 RL 2013/33/EU auf Antrag des Betroffenen alle 30 Tage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht überprüft werden lassen (EUAA, a.a.O., Nr. 3.3). Insoweit ist für das Gericht nicht erkennbar, dass Inhaftnahmen von Asylsuchenden als solche in der Tschechischen Republik einen relevanten systemischen Mangel des Asylverfahrens darstellen. Soweit der Antragsteller beanstandet hat, für zwei Wochen in Einzelhaft gekommen zu sein, handelt es sich um eine administrative Maßnahme, hinsichtlich derer der Antragsteller die Rechtmäßigkeit gesondert vor dem zuständigen Gericht in der Tschechischen Republik hätte überprüfen lassen müssen. Es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, die Rechtmäßigkeit von konkreten Haftvollzugsmaßnahmen – wie hier die Anordnung von Einzelhaft – im Dublin-Verfahren gesondert zu prüfen. Hinsichtlich der Haftbedingungen als solchen hat der Antragsteller nichts weiter vorgebracht, auch wenn dem Gericht nach der Erkenntnismittellage bewusst ist, dass zum Teil die Überbelegung in bestimmten Gefängnissen sowie schlechte Bedingungen bei sanitären Einrichtungen in der Strafvollzugspraxis ein Problem sind (vgl. US Department of State, Czech Republic Human Rights Report, S. 4). Eine mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bestehende allgemeine Unvereinbarkeit der Haftbedingungen in der Tschechischen Republik ist dem Gericht nicht bekannt bzw. lässt sich aus der Erkenntnismittellage nicht entnehmen.
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Soweit der Antragsteller behauptet hat, in tschechischer Haft gefoltert worden zu sein, erscheint dies nach Durchsicht des Anhörungsprotokolls zur Zulässigkeit des Asylantrags teilweise nicht ganz nachvollziehbar bzw. nicht stringent. So hat der Antragsteller unter anderem angegeben:
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„Wir waren auf einem LKW unterwegs und wollten nach Deutschland einreisen. Wir wurden dort aufgegriffen, geschlagen und gezwungen, Fingerabdrücke abzugeben. Wir wurden auch festgenommen und ich war viereinhalb Monate in Haft. Ich habe auch Haftunterlagen hierzu. Meine Gegenstände und Sachen wurden mir abgenommen.“ [Hervorhebung durch das Gericht]
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An anderer Stelle hat der Antragsteller angegeben, in der Türkei in Haft gewesen zu sein und Unterlagen hierzu zu besitzen (S. 2 des Anhörungsprotokolls). Wiederum im weiteren Verlauf der Anhörung hat der Antragsteller dann vorgetragen, von wann bis wann er sich jeweils in Tschechien in Haft befunden habe. Angesichts der protokollierten Ausführungen lässt sich für das Gericht nicht genau nachvollziehen, wo und wann genau die vom Antragsteller behauptete Folter stattgefunden haben soll. Unterlagen zur Haft hat der Antragsteller trotz Aufforderung durch das Bundesamt nicht vorgelegt, jedenfalls sind derartige Unterlagen nicht aktenkundig. Angesichts der besonderen Schwere des Vorwurfs der Folter – die (völker-)rechtlich im besonderen Maße geächtet ist (vgl. Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR, Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen, Art. 4 GRCh) – hätte der Antragsteller seine diesbezügliche Behauptung zwingend substantiieren und ggf. glaubhaft machen müssen. Aus der Erkenntnismittellage geht hervor, dass es in Einzelfällen glaubhafte Berichte über unmenschliche Behandlungen durch die Polizei und Gefängnispersonal gebe (vgl. US Department of State, a.a.O., S. 3: „credible isolated reports of inhuman treatment by police and prison guards“). Ebenfalls geht aus der Erkenntnismittellage hervor, dass hinsichtlich zweier separater Fälle in den Jahren 2020 und 2021 sieben Gefängniswärter wegen Folter und erniedrigender, unmenschlicher Behandlung angeklagt worden seien (vgl. US Department of State, a.a.O., S. 3 f.). Dies zeigt, dass hinsichtlich des Foltervorwurfs des Antragstellers jedenfalls nicht von einem systemischen Problem gesprochen werden kann, zumal der tschechische Staat offenbar auch willens bzw. in der Lage ist, derartige schwerwiegende Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Da dem Gericht keine anderweitigen Erkenntnisse vorliegen, liegt insofern die Substantiierungslast beim Antragsteller, die sich aus der Erkenntnismittellage darstellende Faktenlage zu erschüttern. Wenn man den Begriff des „Vertrauens“ zwischen den Mitgliedstaaten zutreffend so konturiert, dass das Gericht – ungeachtet der bestehenden Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO bzw. der Pflicht zur Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel von Amts wegen – aus einer Situation des (weiteren) Nichtwissens hinsichtlich bestimmter Umstände ein grundsätzlich normkonformes Verhalten des Zielstaats erwarten darf (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674 <676>), dann darf und muss das Gericht den Antragsteller insoweit in die Pflicht nehmen, von sich aus in einer Weise substantiiert vorzutragen, dass das zwischenstaatliche Vertrauen erschüttert ist und dann ggf. weitere Beweiserhebungen veranlasst sind. Da der Antragsteller seinen Foltervorwurf nicht hinreichend substantiiert hat, geschweige denn glaubhaft gemacht hat, sieht das Gericht die mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Vermutungsregel, insbesondere unter Berücksichtigung der Erkenntnismittel, nicht als widerlegt an.
Diese Auffassung steht im Übrigen auch im Einklang mit der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (VG München, B.v. 3.8.2023 – M 3 S 23.50782, n.v.; VG Chemnitz, U.v. 17.5.2022 – 4 K 936/18.A – juris; VG Göttingen, B.v. 26.1.2021 – 2 B 241/20 – juris; VG Trier – U.v. 6.2.2020 – 7 K 1994/19.TR – juris; VG Würzburg, B.v. 25.4.2019 – W 8 S 19.50295 – juris).
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Hinsichtlich der Beanstandung, dem Antragsteller seien unter Androhung von Gewalt Fingerabdrücke abgenommen worden, ist im Übrigen anzumerken, dass die Registrierung von Asylsuchenden nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem vorgesehen ist und nicht nur den Zugang zum Verfahren gewährleisten soll (vgl. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 2 RL 2013/32/EU), sondern aufgrund der damit verbundenen personenmäßigen Identifizierung auch Mehrfachverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten verhindern soll und der Gefahrenabwehr dient (vgl. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2, Art. 9 VO (EU) 603/2013). Sofern der Antragsteller sich einer Abnahme seiner Fingerabdrücke verweigert haben sollte, musste er deshalb damit rechnen, dass diese im Weg des Verwaltungszwangs (d.h. hier durch die Androhung unmittelbaren Zwangs) durchgesetzt wird.
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Auch losgelöst von der Prüfung systemischer Mängel ist für das Gericht nach Aktenlage bzw. unter Berücksichtigung der Erkenntnismittellage nicht belegt, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in die Tschechische Republik mit überwiegender Wahrscheinlichkeit das reale Risiko („real risk“) einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 3 EMRK zu befürchten hat. Wenn sich aus der Erkenntnismittellage ergibt, dass es Folter in der Haft durch Gefängniswärter nur in seltenen Einzelfällen gegeben habe, erscheint die Unwahrscheinlichkeit der Folter erheblich höher als die positive Wahrscheinlichkeit der Folter bei einer Rückkehr in die Tschechische Republik. Insofern streitet (auch bei Wahrunterstellung des Vorbringens) anders als im Erkenntnisverfahren zur Prüfung des internationalen Schutzes keine rechtliche Wiederholungsvermutung (vgl. dort Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU) für den Antragsteller.
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Hinsichtlich der Aufnahmebedingungen sind in der Tschechischen Republik ebenso keine systemischen Mängel erkennbar. Der Antragsteller hat als abgelehnter Asylsuchender in der Tschechischen Republik die Möglichkeit, einen Folgeantrag zu stellen. Von der Möglichkeit des Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2013/33/EU, Folgenantragstellern die materiellen Leistungen einzuschränken oder zu entziehen, hat die Tschechische Republik in ihrem nationalen Asylrecht keinen Gebrauch gemacht (vgl. EUAA, a.a.O., Nr. 1.4). Soweit der Antragsteller mit der ablehnenden Entscheidung seines Asylantrags in Tschechien inhaltlich nicht einverstanden bzw. diese für verfahrensfehlerhaft hält, hätte er dort den Rechtsweg ausschöpfen müssen. Gleiches würde im Übrigen bezüglich einer etwaigen inhaltlich falschen Behandlung eines Folgeantrags gelten, dass der Antragsteller Rechtsschutz vor den dortigen Gerichten bzw. ggf. auf internationaler Ebene (vgl. Art. 34 EMRK, Art. 39 EGMR-VerfO) beantragen müsste.
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3. Individuelle in der Person des Antragstellers wurzelnde Umstände, welche die Antragsgegnerin zwingend zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO hätten veranlassen müssen (vgl. näher dazu BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.), sind jedenfalls vom Antragsteller nicht glaubhaft gemacht worden.
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4. Gründe, dass die Abschiebung nicht im Sinn von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden könnte, sind derzeit ebenso nicht ersichtlich, da weder zielstaatsbezogene noch inländische Abschiebungshindernisse vorliegen (vgl. diesbezüglich zur Prüfungskonzentration beim Bundesamt: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244). Die Befristung des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf neun Monate begegnet nach summarischer Prüfung ebenso keinen ernsthaften rechtlichen Bedenken (§ 114 Satz 1 VwGO).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).